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Der Rittmeister ging mit nervösen Schritten im Zimmer hin und her.
»Laß mich einmal überlegen«, sagte er. »Ich habe ein Gefühl, als ob sich finsteres Gewölk um mich sammelte. Ich wiederhole noch einmal, daß ich Oberst Holger an jenem Tage mit keinem Blicke gesehen habe, aber so wie sich die Beweise gegen mich anhäufen, fange ich an, an mir selber, an meinem Verstande zu zweifeln.«
Der Detektiv zog eine Skizze von der Lage der beiden Gutshöfe hervor und sagte:
»Gibst du mir zu, daß du etwa um halb vier Uhr eine Zusammenkunft mit Dagny, der Tochter des Obersten, an dem Kreuzweg in der Nähe ihres Hauses gehabt hast?«
»Ja.«
Asbjörn Krag notierte sich die Zeit auf ein Stück Papier.
»In solchen Sachen, wo die Entscheidung von ein paar Minuten hin oder her abhängen kann, ist es gut, alles in Ordnung zu haben«, murmelte er. Dann fuhr er fort:
»Es scheint festzustehen, daß der Oberst zwischen dreieinhalb und vier Uhr überfallen worden ist. Mit andern Worten, wenn jemand auftritt und behauptet, du seiest von dem Zusammentreffen mit Dagny direkt aufs Feld geritten und habest den Oberst zu Boden geschlagen, so ist die Möglichkeit nicht zu leugnen. Wir können nicht beweisen, daß das nicht geschehen ist.«
»Aber der andere kann auch nicht beweisen, daß es geschehen sei«, sagte der Rittmeister.
»Doch!« sagte er.
»Was meinst du?«
»Wenn ich jetzt dieser andere wäre, so könnte ich es so gut wie beweisen. Jedenfalls sind eine Menge Anzeichen aufgetaucht, die es sehr wahrscheinlich machen.«
»Du mußt dich näher erklären.«
»Gut. Ich komme noch einmal aus den Stall und dein Pferd zurück. Sein Hufeisen des linken Vorderbeines ist also entzweigebrochen.«
»Das hast du schon einmal gesagt.«
»Der Boden um den Tatort her zeigt deutlich, daß der arme Oberst von einem Reiter verfolgt worden ist. Du hast selbst gesagt, daß es hier in der Gegend nicht viele Menschen gibt, die reiten.«
»Soviel ich weiß, nur der Oberst und ich. Und dann Dagny.«
»Das ist schon sehr verdächtig. Und nun kommt das allerverdächtigste: der Mann, der den Oberst verfolgt hat, ritt ein Pferd mit einem zerbrochenen Hufeisen.«
Der Rittmeister verbarg das Gesicht in den Händen.
»Wenn du das alles sagst, so muß es ja richtig sein«, sagte er. »Aber ich kann es einfach nicht verstehen. Das ist mir ein vollkommenes Rätsel. Ich bin sofort nach meiner Unterredung mit Dagny nach Hause geritten.«
»Und wenn wir diese Umstände mit den übrigen zusammenbringen, mit deinem ganzen Auftreten hier, der plötzlich gelösten Verlobung mit Dagny, deinem Brief an den Oberst und so weiter, so ist tatsächlich die Beweiskette geschlossen. Lieber Freund, wenn der Oberst in diesem Augenblick tot sein sollte, so bist du der Mörder.«
Aschfahl im Gesicht sprang der Rittmeister auf und stürzte auf Krag zu. Gelassen schob ihn dieser zurück.
»Ich meine juristisch«, sagte er. »Juristisch bist du der Mörder, moralisch nicht. Ich bin nämlich überzeugt, daß du es nicht getan hast, daß du vollständig unschuldig bist und daß eine Kette von rätselhaften und sonderbaren Ereignissen dich in so schweren Verdacht bringt. Das wird ein schwieriger Fall, und ich kann nicht dafür stehen, daß du nicht beim nächsten Verhör verhaftet wirst.«
»Ich kann nur nicht begreifen, wer der Täter sein könnte«, rief der Rittmeister. »Der Oberst hat ja nur Freunde hier in der Gegend. Und eine solche Untat bedingt doch eine Todfeindschaft.«
»Ueberleg dir einmal die Sache, vielleicht kommst du dann auf eine Spur«, erwiderte Krag. »Denk einmal an die Veränderung, die plötzlich mit dem Oberst vorgegangen ist. Erst hatte er nicht das mindeste gegen dich und hätte dir gern seine Tochter zur Frau gegeben. Dann kam plötzlich der Umschwung, ohne daß du dir eigentlich den Grund erklären konntest. Der Oberst, der vorher lebhaft, mitteilsam, gesellschaftlich und liebenswürdig gewesen war, schlug mit einem Male gerade ins Gegenteil um. Er wurde finster und verschlossen. beinahe feindselig. Das alles deutet darauf hin, daß ihn ein großes Unglück getroffen hat. Zugleich wurde dir bekanntgegeben, daß von einer Heirat zwischen dir und der Tochter des Obersten keine Rede mehr sein könne, und die Verlobung ging stracks in die Brüche. Es sei nichts geschehen, behauptest du, und dasselbe sagt die Tochter und hat auch der Oberst gesagt. Es ist also nicht irgendein Ereignis daran schuld. Dann muß es ein Mensch sein, der diese Veränderung bewirkt hat, derselbe Mensch, der den Brief schrieb, den der stellvertretende Amtsrichter als von dir herrührend betrachtete, derselbe Mensch, der den Oberst zu Boden geschlagen hat.«
»Aber wer kann das sein!« brach der Rittmeister los.
»Dahinter müssen wir jetzt zu kommen suchen. Vorerst aber wollen wir die Sache ruhen lassen. Ich ahne ein vortreffliches Abendessen.«
Die Tür wurde zurückgeschlagen und des Rittmeisters alte Haushälterin bat die Herren ins Speisezimmer. Sie hatte sich dem Besuch zu Ehren besonders angestrengt, und Asbjörn Krag ließ sich das Essen schmecken.
Während der Mahlzeit sprach er nicht mehr von der Sache, sondern suchte seinen Freund durch allerlei andere Gesprächsstoffe zu unterhalten und abzulenken. Der Rittmeister saß meistens schweigend da.
Als sich die beiden Freunde vom Tisch erhoben, erklärte Asbjörn Krag, er wolle in der herrlichen milden Abendluft noch einen Spaziergang machen, und der Rittmeister begleitete ihn bis vor die Haustür. Auf dem Hof grüßte der Verwalter des Rittmeisters und deutete auf den Wald, an dessen Saum sich mehrere Pferde tummelten.
»Sehen Sie, dort weidet ›Eva‹«, sagte er. »Jetzt hat sie ein neues Hufeisen. Aber woher zum Henker haben Sie gewußt, daß eines ihrer Hufeisen zerbrochen war?«
»Ich weiß viel mehr, als manche ahnen« antwortete der Detektiv, nickte dem Mann zu und ging seines Weges. Er ging langsam und summte ein Liedchen vor sich hin, so lange der Verwalter und der Rittmeister, der auf dem Hof zurückgeblieben war, ihn sehen konnten. Sobald ihn aber die Bäume vor ihren Blicken verbargen, fing er an zu laufen. Er wollte noch einmal auf die Holtewiese, dorthin, wo der alte Mann überfallen worden war. Es fing sachte an zu dämmern, und der Tau begann zu fallen. Die Umrisse der Dinge verschwammen, die Bäume sahen nur noch wie graue Schatten aus.
Plötzlich blieb Krag auf dem Wege stehen, der sich wie ein Band über die Wiese schlängelte. Er war nicht allein an diesem unheimlichen Ort. Dort unter den schiefen, niederen Bäumen, gerade an der Stelle, wo der Oberst bewußtlos gefunden worden war, sah er einen Schatten sich bewegen.
Es war eine menschliche Gestalt, die eines Mannes, und es sah aus, als ob dieser Mann nicht gesehen zu werden wünschte, denn er schlich sich vorsichtig unter den Bäumen hin. Er mußte also Asbjörn Krag ebenfalls bemerkt haben.
Rasch schritt der Detektiv auf ihn zu.
Nun hatte der Mann dort droben die Wahl, entweder schnell den Hügel hinunterzulaufen und damit zu verraten, daß er mit geheimen Absichten hier sei, oder Asbjörn Krag offen entgegenzugehen. Der Mann tat das letztere, er ging dem Detektiv entgegen.
Und nun, da er aus der Dunkelheit, die unter den Bäumen herrschte, hervorgekommen war, erkannte ihn Krag sofort. Es war der Herr mittleren Alters, der aussah wie ein Lehrer und der ihm bereits bei seiner ersten Anwesenheit auf der Holtewiese aufgefallen war.
Der Mann grüßte und Krag dankte.
»Wir treffen an einem seltsamen Ort zusammen«, stammelte der Mann einigermaßen verlegen.
»Und zu einer etwas seltsamen Tageszeit«, fügte Krag hinzu.
»Vielleicht sogar zum selben Zweck?«
»Wer sind Sie?« fragte Krag.
Der Mann lüpfte noch einmal leicht den Hut.
»Rechtsanwalt Bomann«, sagte er.
»Aus Oslo?«
»Nein, aus der nächsten Stadt.«
»Ach so! Und Sie halten sich wegen dieser Sache hier auf? Vielleicht führt Sie die Hoffnung her, Rittmeister Ryes Verteidiger werden zu können?«
»Daran habe ich nicht gedacht«, antwortete der Advokat abwehrend. »Mein Hiersein hat einen anderen Zweck, und ich wünsche gar nicht, Rittmeister Ryes Verteidiger zu werden.«
»Warum denn nicht?«
»Weil ich keine Lust verspüre, eine so schlechte Sache wie die seinige zu verteidigen.«
Asbjörn Krag lächelte.
»Oho, so hängt das zusammen? Sie gehören also zu den vielen, die den Rittmeister schon im voraus verurteilen? Meinen Sie nicht, seine Sache stehe an sich schon schlimm genug, ohne daß auch Sie sich noch in seine Angelegenheiten mischen?«
»Ich habe von jeher einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn gehabt«, erklärte der Rechtsanwalt »Und ich habe das Gefühl daß wir hier weit von der Gerechtigkeit entfernt sind, besonders, seitdem der berühmte Detektiv aufgetaucht ist.«
Asbjörn Krag blieb dieser Grobheit gegenüber vollkommen gelassen.
»Ich begreife Sie vollständig« sagte er »Sie halten den Rittmeister für den Schuldigen. Und soweit kann ich Ihnen recht geben, es liegen allerlei Umstände vor die dafür sprechen. Aber es stecken hinter diesem Drama noch mehr und größere Geheimnisse als wir bis jetzt wissen.«
Der Rechtsanwalt blinzelte den Detektiv spöttisch an.
»Und dann ist hier auch viel, das man sieht, und nicht sehen will«, sagte er.
»Was meinen Sie damit?«
»Ich habe den Boden auf der Wiese auch untersucht.
»So – ei was!«
»Und ich habe Hufspuren gefunden.«
»Von des Rittmeisters Pferd?«
»Ja.«
»Er hat aber doch das Recht, hier in der Gegend zu reiten, wo er will.«
Der Rechtsanwalt deutete auf die Baumgruppe, wo der Oberst gefunden worden war.
»Aber die Huftritte führen dorthin« sagte er. »Man sieht in dem lehmigen Boden die Spuren ganz deutlich.«
»Woher wollen Sie aber so sicher wissen, daß diese Spuren von dem Pferde des Rittmeisters herrühren?«
»Das habe ich auf dieselbe Weise festgestellt wie Sie selbst«, antwortete der Rechtsanwalt und blinzelte den Detektiv wieder spöttisch an. »Sie müssen vorsichtiger zu Werke gehen, wenn Sie die Indizien verbergen wollen, die gegen Ihren Freund, den Herrn Rittmeister, sprechen. Eine halbe Stunde, nachdem Sie im Stall gewesen waren und die Hufe der Stute untersucht hatten, wußte ich davon, und nun war ja alles klar.«
»Mit andern Worten, der Rittmeister ist von allen Seiten mit böswilligen Spionen umgeben«, rief Krag nicht wenig gereizt.
»Ja, er soll sich nur in acht nehmen. Das Netz um ihn zieht sich zu. Morgen früh hat er vermutlich seine Rolle ausgespielt, wenn ich als Zeuge auftrete.«
Asbjörn Krag ergriff den Mann an seinem Kragenaufschlag.
»Ich will Ihnen einmal etwas sagen!« brach er los. »Es ist mir gleichgültig, was Sie morgen vor Gericht in dieser Angelegenheit vorbringen werden. Aber ich bin nun einmal fest davon überzeugt, daß der Rittmeister unschuldig ist. Und außerdem glaubte ich, daß hier von verschiedenen Personen Ränke geschmiedet werden. Dieses Ränkespiel aufzudecken, wird meine erste Aufgabe sein. Und bei der Gelegenheit werde ich auch klarstellen, welche Rolle Sie in diesem Drama spielen. Gute Nacht, mein Herr. Setzen Sie nur Ihre Untersuchungen weiter fort.«
Der Detektiv ließ den Rechtsanwalt stehen und entfernte sich eilig. Nicht lange darauf setzte auch dieser seinen Weg fort und nahm die Richtung dem Hof des Rittmeisters zu.