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Siebentes Kapitel. Dagny

»Sind Sie wirklich vollständig sicher, daß der Oberst zu Fuß hergekommen ist?« fragte Asbjörn Krag noch einmal.

»Das ist erwiesen«, erwiderte der stellvertretende Amtsrichter. »Sein Reitpferd stand im Stall, als er heimgebracht wurde.«

Asbjörn Krag überlegte. Dann fing er an, das Gelände noch einmal zu untersuchen. Der Feldweg war sehr lehmig und zeigte deutliche Spuren von Schuhen und von Pferdehufen, aber da es ein sehr begangener Weg war, konnte aus diesen Spuren nicht viel entnommen werden. Krag untersuchte auch das Gatter und mit großer Sorgfalt den Ort, wo der bewußtlos« Oberst aufgefunden worden war.

Für einen oberflächlichen Beschauer hätte es scheinen können, als ob es unmöglich sei, in diesem Grase und auf der hartgetrampelten Erde etwas zu entdecken; aber das Interesse, mit dem der Detektiv zu Werke ging, deutete darauf hin, daß er dennoch mehr sah als andere.

Während er so beschäftigt war, traten verschiedene Neugierige herzu. Es waren Leute aus der Gegend, einige Bauern, die sich diesem seltenen Falle zu Ehren einen Ruhetag gönnten und in ihren Sonntagskleidern daherkamen, zwei Gehilfen aus dem Kaufladen des Dorfes, einige junge Mädchen, der Kaufmann in eigener Person und ein Bekannter von ihm, ein Mann von auswärts, der aussah wie ein Schullehrer. Das Gerücht von der Ankunft eines Detektivs aus Oslo hatte sich verbreitet und alle diese Neugierigen hergerufen. Asbjörn Krag erhob sich vom Boden und trat zu dem Rittmeister, der gelassen dastand und zuschaute.

»Es geschieht selten mehr, daß ich eine derartige Untersuchung vornehme«, sagte Asbjörn Krag lächelnd. »Es ist ein überwundener Standpunkt, wie ein Indianer auf der Erde zu kriechen und Spuren zu suchen. Aber es gibt immer noch Fälle, wo man aus die primitiven Formen der Untersuchung zurückkommt.«

»Hast du etwas gefunden?« fragte der Rittmeister leise.

»Nichts Besonderes. Aber ich habe mir etwas notiert.«

»Notiert?«

»Ja, in meinem Gehirn. So viel kann ich dir sagen, daß ich etwas gesehen habe, was sowohl dem Herrn stellvertretenden Amtsrichter wie dem Amtsvorsteher entgangen ist.«

»Wie lange soll diese Untersuchung noch dauern?« fragte der Rittmeister etwas ungeduldig. Augenscheinlich fühlte er sich von den vielen Augen, die ihn anstarrten – und das nicht mit durchaus liebevollen Blicken – peinlich berührt.

»Wir sind bald fertig«, antwortete Krag. »Aber deine Anwesenheit ist dabei gar nicht notwendig.«

»Sehr schön«, erwiderte der Rittmeister sichtlich erleichtert. »Dann gehe ich lieber nach Hause. Mir ist nicht wohl unter diesen Menschen. Ich wollte, ich wäre hundert Meilen von hier.«

»Geh nur. In einer Stunde komme ich auch.«

»Hast du mir dann vielleicht gute Nachrichten zu bringen?«

»Wir wollen es hoffen«, sagte der Detektiv ernst. »Aber ehe du gehst, mußt du mir etwas versprechen.«

»Und was ist das?«

»Du willst doch wohl heute nicht mehr ausreiten?«

»Nein«, antwortete der Rittmeister etwas erstaunt. »Warum fragt du?«

»Dann ist es wohl auch nicht mehr notwendig, daß du heute noch in den Stall gehst?«

»Um diese Zeit pflege ich sonst nach meinen Pferden zu sehen.«

»Schön, aber das kannst du doch auch den Stallknecht besorgen lassen. Du sollst mir versprechen, den Stall nicht zu betreten.«

Der Rittmeister sperrte erstaunt die Augen auf.

»Aber warum denn in aller Welt nicht?«

»Das ist meine Sache, und du darfst vorerst nicht danach fragen. Du gibst mir also dein Wort?«

»Selbstverständlich. Aber das ist mir ein Rätsel.«

»Geh jetzt nur!«

Der Rittmeister verschwand hinter den Bäumen, und der Amtsvorsteher schaute ihm lange nach, wie man einer Beute nachsieht, die einem aus den Händen gleiten will.

Die Zurückgebliebenen sammelten sich nun um den Detektiv, und die Fragen schwirrten ihm nur so um den Kopf. Besonders eifrig war der Schullehrer. Aber Asbjörn Krag gab nur einsilbige Antworten. Er zog den Amtsrichter beiseite und sagte zu ihm:

»Seien Sie ganz unbesorgt. Die Sache sieht zwar im Augenblick sehr rätselhaft aus, viel rätselhafter, als Sie nur ahnen, aber das Rätsel wird sicherlich gelöst werden. Geben Sie mir den Brief, den der Oberst erhalten hat, ehe er ausging. Ich brauche ihn für meine Nachforschungen.«

Der stellvertretende Amtsrichter gab das verlangte wichtige Papier nur sehr zögernd aus der Hand, und Asbjörn Krag steckte es gelassen in seine Brieftasche.

»Das gehört aber doch zu den Akten!« sagte der Amtsrichter etwas ängstlich.

Krag beruhigte ihn.

»Ich kann mir jeden Augenblick auf telegraphischem Wege die ganze Untersuchung übertragen lassen«, sagte er. »Das ist nur eine Formsache, und Sie können ganz ruhig sein. Aber was machen denn die Menschen dort?«

Der stellvertretende Amtsrichter drehte sich um. Verschiedene der Neugierigen, die beiden Gehilfen und der Lehrer, waren eifrig damit beschäftigt, den Boden genau so zu untersuchen, wie es Asbjörn Krag gemacht hatte. Diesem fiel es auf, daß besonders der Lehrer außerordentlich großes Interesse verriet.

»Finden Sie etwas?« fragte der Detektiv lächelnd, während er auf die Gruppe zuging.

Die beiden Gehilfen schüttelten den Kopf, der Lehrer schwieg.

»Das ist eine Erscheinung, die sich immer wiederholt«, erklärte der stellvertretende Amtsrichter sachverständig. »Sobald bei einem Falle irgend etwas rätselhaft ist, traut sich jeder beliebige Mensch die größten Detektivgaben zu. und es ist oft höchst merkwürdig, zu welchen Schlußfolgerungen solche Menschen kommen.«

Der Lehrer, der des Amtsrichters spöttische Worte gehört hatte, entfernte sich schweigend.

Asbjörn Krag sah ihm lange nach, und plötzlich war es, als gleite ein Schatten über des Detektivs sonst so kühles und ausdrucksloses Gesicht, und in seinen tiefen, klaren Augen glimmte ein Funke auf, der von Verwunderung zeugte.

»Wie heißt dieser Mensch?« fragte er und deutete mit dem Kopf nach dem Schullehrer, der eben in der Richtung aus das Dorf zu hinter den Bäumen verschwand.

»Er heißt Bomann«, erwiderte der Amtsrichter. »Seit ungefähr acht Tagen wohnt er im Dorfe beim Kaufmann.«

»Wer ist denn der Kaufmann?« fragte Krag.

Der Amtsrichter deutete auf einen der Anwesenden, und Asbjörn Krag schaute sich den Mann lange an, als ob er sich sein Aussehen genau einprägen wolle.

Dann schlug der Detektiv den jungen stellvertretenden Amtsrichter freundlich auf die Achsel und sagte:

»Wollen wir gehen? Wir wollen wieder ins Haus des Obersten zurückkehren. Meinen Sie, es wäre möglich, daß ich das junge Mädchen sprechen könnte?«

»Sie ist sehr angegriffen. Ich fürchte, sie hat einen Nervenschock bekommen. Aber wir können es ja versuchen. Was möchten Sie sie denn fragen?«

»Wir wollen einmal sehen«, antwortete der Detektiv. »Vielleicht ist alles Fragen doch vergebens.«

»Meinen Sie? Sie ist aber ein sehr verständiges Mädchen.«

»Gerade deshalb«, entgegnete der Detektiv mit Nachdruck. »Vielleicht ist sie für uns beide zu klug.«

Der stellvertretende Amtsrichter verwunderte sich sehr über diese Antwort. Er sah den Detektiv an, um vielleicht aus dessen Mienenspiel lesen zu können, was er meinte. Aber nun wurde der Detektiv mit einem Male ganz vergnügt. Er machte eine Handbewegung und sagte:

»Was ist dies hier für eine herrliche Gegend! Hier möchte ich leben!«

Der Amtsrichter konnte mit dem besten Willen die Gegend nicht besonders schön finden, und sie war es auch nicht. Aber Krag fehlte der Sinn für Natur vollständig, und wenn er in diesem Tone von der Natur sprach, dann lag stets die Absicht dahinter, unangenehmen Fragen oder Erklärungen auszuweichen.

Der Detektiv wurde plötzlich gesprächig, und als die beiden Herren auf dem Hofe des Obersten anlangten, war er mitten in einer interessanten Geschichte aus seinem ereignisreichen Leben, einer Geschichte, die der junge Amtsrichter mit Begierde einsog. Plötzlich aber rief er:

»Da ist sie!«

Asbjörn Krag drehte sich um. Ein junges Mädchen kam langsam über den Hof dahergewandelt.

Sie schritt mitten im Scheine der untergehenden Sonne. Asbjörn Krag konnte ihr Gesicht deutlich sehen und war betroffen von ihrer eigentümlichen Schönheit. Sie trug ein Kleid von ländlichem Schnitt, aber so, wie sie sich bewegte, war es nicht schwer zu erkennen, daß sie eine Dame war, die auch schon anderswo gelebt hatte, als auf einem weitabgelegenen Gutshofe.

Das Mädchen kam auf die beiden Herrn zu. Krag konnte sehen, daß sie sehr blaß war. Sie mußte erst vor kurzer Zeit geweint haben.

Dagny streckte ihm die Hand entgegen und versuchte zu lächeln.

»Ich habe gehört, daß Sie hier sind, und möchte Sie gerne begrüßen«, sagte sie. »Ich bitte Sie, ins Haus zu kommen.«

»Danke. Ich hatte eben die Absicht, Sie aufzusuchen, gnädiges Fräulein. Sie können mir vielleicht einen Dienst erweisen, vielleicht sogar einen sehr großen Dienst.«

Dagny wurde ängstlich und erwiderte zurückhaltend:

»Ich?«

»Ja, gerade Sie, mein gnädiges Fräulein. Der Herr Amtsrichter hier sagte mir zwar, Sie dürften nicht behelligt werden, aber ich hatte mich entschlossen, darauf keine Rücksicht zu nehmen.«

Dagny lächelte wieder.

»Ich hätte Sie nicht für so zudringlich gehalten«, sagte sie.

»Das bin ich auch gar nicht, gnädiges Fräulein«, erwiderte Asbjörn Krag. »Aber hier, wo es sich um so wichtige Dinge handelt, wußte ich ja, daß Sie sich dem, was Sie tun können, nicht entziehen würden.«

»Ich stehe Ihnen gerne zu Diensten. Was kann ich tun?«

»Zuerst möchte ich mich erkundigen, wie es Ihrem Herrn Vater geht.«

»Der Arzt ist soeben bei ihm gewesen. Er ist noch nicht wieder zum Bewußtsein gekommen, und der Arzt meint, das könne vielleicht noch Wochen dauern. Aber er hofft doch, ihn am Leben zu erhalten.«

»Weiter möchte ich Sie um eine Unterredung unter vier Augen bitten«, sagte Krag.

Als er diese Bitte aussprach, sah er sie ernsthaft an. Ihre Blicke wichen den seinigen scheu aus.

Da erkannte Krag, daß sie etwas wußte, und er sah an dem nervösen Zittern ihrer Hände, daß sie in großer seelischer Erregung war.


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