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Achtzehntes Kapitel. Die Briefe in dem blauen Umschlag

Krag hatte sich plötzlich an das geheimnisvolle und wichtige Dokument erinnert, das von dem jungen Fräulein Holger so eifrig gesucht worden war. Er begriff, daß sich um dieses Schriftstück die ganze Sache drehte. Könnte er darauf die Hand legen, so hätte er das Rätsel gelöst. Dieses Dokument mußte von allergrößter Wichtigkeit sein und entweder den Oberst oder dessen Tochter oder auch den Rittmeister betreffen.

Krag wußte von früheren Fällen her, wie außerordentlich gefährlich solche Schriftstücke werden konnten, wie sie in den Händen gewissenloser Leute nicht nur das Glück einzelner, sondern sogar das ganzer Familien vernichten konnten. Sollte wirklich ein solches Dokument vorhanden sein, das von Anfang an dieses Trauerspiel in Gang gebracht hatte?

War, was hier vor sich ging, ein Kampf um dieses Dokument, ein Kampf, der bereits ein Menschenleben, ja, beinahe zwei gekostet hatte?

Er glaubte nicht, daß Fräulein Holger das Dokument bei ihrer Durchsuchung von der Stube des Rechtsanwalts gefunden hatte. Ihm selbst waren dort auch nur gleichgültige Geschäftspapiere in die Hand gekommen.

Solch wichtige Dokumente vertraut man auch nicht gerne Schreibtischschubladen oder andern noch weniger sicheren Verschlüssen an, die trägt man lieber bei sich. Und wenn der Rechtsanwalt im Besitz eines solchen Dokumentes gewesen war, so hatte er es wahrscheinlich in seiner Brieftasche aufbewahrt, und es befand sich noch dort, wenn nicht –

Wenn nicht der Mensch, der ihn zu Boden geschlagen, das Papier gestohlen hatte. Wenn der Täter irgendeine Absicht mit seiner Tat verfolgte, so konnte es einzig und allein die sein, sich in den Besitz dieses gefürchteten Dokuments zu setzen. In was für Hände war das Papier gefallen? Vielleicht in die Hände eines Feindes, der schlimmer war als der erste.

So überlegte Asbjörn Krag, während er an der Seite des Rittmeisters über das Feld hinschritt. Der Rittmeister merkte, daß Krag von seinen Gedanken erfüllt war, und wollte ihn nicht stören.

Endlich waren sie am Hause des Kaufmanns angelangt. Die Leiche war schon hineingeschafft worden. Vor dem Hause stand eine Menge Menschen, meist Bauern aus der Umgegend. Es wurden nur leise Worte gewechselt, und die vielen bleichen Gesichter, das Geflüster und die versteckten Andeutungen machten zusammen einen unheimlichen Eindruck. Der Detektiv sagte zu Rittmeister Rye:

»Du kannst hier nichts nützen. Ich habe das Gefühl, daß du hier nur ein Stein des Anstoßes wärest. Geh lieber nach Hause und warte dort auf mich. Ich komme bald.«

»Wie du willst«, sagte der Rittmeister. »Wenn du meinst, daß ich dir doch nichts nützen könne.«

»Vorläufig nicht das geringste.«

Der Rittmeister zog den Hut und schlug den andern Weg ein. Sein Fortgehen war von dem Menschenschwarm bemerkt worden. Alle Unterhaltung stockte für den Augenblick.

Asbjörn Krag drängte sich ins Haus. Verschiedene der Neugierigen drängten ihm nach, aber Krag wies sie zurück und schloß die Türe hinter sich ab.

Drinnen wimmelten Treppe und Gänge von Menschen, und darunter waren auch die Journalisten. Sofort flogen sie auf Krag zu.

»Ich kann Ihnen nichts anderes sagen, meine Herren, als daß hier etwas völlig Unerwartetes geschehen ist«, sagte er. »Durch diese neuen Ereignisse ist die Sache noch rätselhafter geworden als vorher.«

»Aber Sie halten dies doch auch für einen Mord?«

»Der Mann ist totgeschlagen worden, so viel ist klar.«

»Und dieser Mord steht in Verbindung mit dem Mordversuch an Oberst Holger?«

»Zweifellos. Beide Ereignisse gleichen einander aufs Haar.«

»Meinen Sie, ein geheimnisvoller und gefährlicher Mensch streife hier in der Gegend umher und mache sie unsicher?«

»Ehe ich den Erschlagenen nicht noch einmal in Augenschein genommen habe, meine ich gar nichts. Ich hoffe, die Herren werden uns die nötige Zeit zur Untersuchung gönnen.«

Und die Herren eilten zur Telegraphenstation und schickten neue, aufsehenerregende Telegramme in die Hauptstadt, während Asbjörn Krag in das Zimmer eilte, wo der Tote lag.

Dort fand er den alten Amtsvorsteher, dessen Gehilfen und den stellvertretenden Amtsrichter. Der letztere war bleich und beinahe fassungslos.

»Gut, daß Sie endlich kommen!« rief er. »Diese Sache wächst mir über den Kopf und bringt mich noch ins Grab.«

Er deutete auf den Toten und fragte, indem er Krag bedeutungsvoll zublinzelte:

»War er es nicht, von dem wir –«

»Doch, er war es, von dem wir glaubten –« erwiderte Krag. »Allein jetzt ist er selbst von der gleichen Hand gefallen, die auch den schweren Schlag gegen Oberst Holger geführt hat.«

Der Detektiv deckte das Gesicht des Toten auf. Nun bemerkte er, was er draußen nicht wahrgenommen hatte, daß das Antlitz des Rechtsanwalts noch im Tode das Gepräge der ausgestandenen fürchterlichen Todesangst trug.

Wenn er daran dachte, wie der Mann gleich einem Tiere übers Feld gejagt worden sein mußte bis an den Waldrand, wenn er sich an den herzzerreißenden Todesschrei erinnerte, den er gehört hatte, und wenn er diese Züge betrachtete, die Schreck und Entsetzen verrieten, so schauderte er beim Gedanken, wer wohl dieser geheimnisvolle Feind sein könne.

Krag untersuchte die Verletzung eingehend, und es war ihm sofort anzusehen, daß sie sein größtes Interesse weckte. Ein Zug des Erstaunens huschte dabei über des Detektivs Gesicht. Dann deckte er das Gesicht des Toten wieder zu und knöpfte ihm den Regenmantel und den Rock auf. Des Mannes goldene Uhr mit der goldenen Kette war an ihrem Platz, ebenso die Brieftasche.

Krag machte die Brieftasche auf, und die anderen schauten ihm neugierig über die Schulter. Es waren mehrere hundert Kronen vorhanden. Krag legte die Scheine aus den Tisch und sagte, zum Gehilfen des Amtsvorstehers gewendet:

»Schreiben Sie auf, wieviel es ist.«

Weiter fand er eine Menge Geschäftspapiere. Auch diese legte er auf den Tisch, damit sie notiert werden konnten, aber er las sie vorher sorgfältig durch.

Endlich fand er in einem geheimen kleinen Fach was er suchte. Es war ein blauer Umschlag mit einigen alten Briefen darin. Eine Ahnung sagte ihm gleich, daß hier der Schlüssel zu dem Geheimnis liege.

Der erste Brief, den er las, trug das Datum Oslo, den 20. März. Er las die erste Seite, sah dann nach der Unterschrift, und mit einem Male stand es klar vor ihm, was das für ein entsetzlicher Brief war.

Nun mischte Krag die Briefe und verschiedene andere Schriftstücke so untereinander, daß er, ohne es merken zu lassen, die Briefe im blauen Umschlag in seine Tasche gleiten lassen konnte. Die anderen waren so eifrig damit beschäftigt, die gefundenen Sachen aufzuschreiben, daß sein Tun ihrer Aufmerksamkeit vollständig entging. Krag wußte, daß er hier eine Ungesetzlichkeit beging, die er selbst unter gewöhnlichen Umständen für höchst unzulässig gehalten hätte. Aber er hatte den Brief gesehen, und nichts auf der Welt hätte ihn abgehalten, dieses Schriftstücke an sich zu nehmen.

Inzwischen war es drei Uhr geworden, und der stellvertretende Amtsrichter war mit der geschäftsmäßigen Erledigung seiner Pflichten fertig. Asbjörn Krag verließ das Zimmer und versprach, bald wiederzukommen oder wenigstens von sich hören zu lassen.

Draußen standen immer noch die Menschen herum. Nun hatten sie beinahe den ganzen Tag ihre Arbeit versäumt, so sehr hatte dieses Begebnis sie alle ergriffen und gefesselt.

Asbjörn Krag ging rasch an ihnen vorbei und alle betrachteten ihn aufmerksam. Da hörte er eine Bemerkung: »Sieht der gräßlich aus!«

Sollte er wirklich so angegriffen aussehen? Vermochte er nicht mehr, seine innere Bewegung zu verbergen, er, der doch sonst ein wahrhaft steinernes Gesicht gehabt hatte? Er machte sich auf den Weg zum Hause seines Freundes.

Als er hinkam, saß sein Freund da und schrieb.

»Was schreibst du?« fragte Krag.

Der Rittmeister zeigte ihm, mit was er beschäftigt war. Es war ein großer Stoß Papiere, die den gemeinsamen Titel trugen: Reiseerinnerungen. Erstaunt sah der Detektiv seinen Freund an.

»Bringst du es wirklich fertig, dich jetzt damit zu beschäftigen?« fragte er. Der Rittmeister lächelte wehmütig.

»Was soll ich anderes tun?« fragte er. »Mein Hirn erträgt es nicht mehr, an all die anderen entsetzlichen Dinge zu denken. Ich muß einige Stunden Ruhe haben, muß mich mit irgend etwas beschäftigen. Mir graut vor der Nacht!«

Asbjörn Krag nickte. Er kannte diesen Zustand.

»Wie ist es übrigens mit dir?« fragte der Rittmeister. »Du siehst auch nicht besonders vergnügt aus.«

»Ich brauche dreierlei«, antwortete Asbjörn Krag.

»Sprich nur, was willst du haben?«

»Ich brauche ein Zimmer für mich allein, eine Handvoll Zigaretten und eine Tasse recht starken Kaffees.«

»Du hast eine Ruhestunde nötig. Das kann ich gut begreifen.«

»Ich werde nicht ruhen«, erwiderte der Detektiv. »Ich will nachdenken.«

Plötzlich schlug seine Stimmung um, er ging auf den Rittmeister zu, klopfte ihm auf die Schulter und sagte laut und deutlich:

»Lieber Freund, alles ist gerettet, ich habe die Papiere!«

Der Rittmeister erhob sich langsam.

»Ich verstehe nicht ... welche Papiere?«

»Die Briefe, die Briefe in dem blauen Umschlag!«

»Briefe? Ich verstehe immer noch nicht.«

Des Detektivs Gesicht sah gekränkt und ärgerlich zugleich aus.

»Gut«, sagte er. »So reden wir nicht mehr davon. Verschaff mir den Kaffee, die Zigaretten und das Zimmer.«

Der Rittmeister klingelte.


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