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Fünfzehntes Kapitel. Die Begegnung

Verwirrt starrte Dagny Holger den kleinen Gegenstand an, den Asbjörn auf den Tisch gelegt hatte.

»Wo haben Sie das gefunden?« fragte sie.

»In Bomanns Zimmer, drunten beim Kaufmann. Versuchen Sie nicht zu leugnen, Fräulein Holger, daß dies Ihnen gehört.«

Es war ein schmaler goldener Ring mit einer weißen Perle, den Asbjörn Krag auf dem Fußboden im Zimmer des Rechtsanwalts gefunden und unbemerkt hatte einstecken können, während die anderen Anwesenden mit dem Betrachten des argen Durcheinanders im Zimmer beschäftigt waren.

Die junge Dame gab keine Antwort, aber die krampfartigen Zuckungen ihres Gesichts verrieten ihre heftige Gemütsbewegung. Sie stützte den Kopf in die Hand. Asbjörn Krag stand eine lange Weile schweigend da und betrachtete sie. Seine Stimme klang außergewöhnlich mild, als er endlich fragte:

»Liebes Fräulein Holger, ist es Ihnen lieber, wenn ich gehe?«

Sie gab zuerst immer noch keine Antwort, aber nach einer Weile sagte sie doch:

»Ich wollte ... ich wollte, Sie wären niemals hierher gekommen!«

Diese Worte berührten Asbjörn Krag peinlich. Er ging ein paarmal hin und her und blieb dann vor dem jungen Mädchen stehen. Er hatte die Hände auf den Rücken gelegt und blickte Dagny Holger ernsthaft an.

»Wenn ich nicht gekommen wäre, sähe es hier jetzt ganz anders aus«, sagte er.

»Jawohl!« brach sie los, offenbar kämpfte sie schwer mit den aufsteigenden Tränen.

»Liebes Fräulein Holger, ich begreife wohl, daß Sie sich unglücklich fühlen und ich habe herzliche Teilnahme für Ihr Unglück«, sagte der Detektiv. »Aber Sie dürfen darum doch nicht gar zu ungerecht sein.«

»Was soll ich tun? Ich stehe ganz allein.«

»Ja, weil Sie halsstarrig sind. Ohne Vertrauen kommen Sie nicht weiter. Ich will nichts als Ihr Wohl, Ihres und das meines Freundes Ivar Rye. Nun will ich Ihnen einmal erzählen, wie sich die Dinge zugetragen hätten, wenn ich, wie Sie wünschen, nicht hierher gekommen wäre. Wäre es wirklich Ihrem Wunsche entsprechend, wenn der Rittmeister jetzt unter dem Verdacht, den Mordversuch an Ihrem Herrn Vater begangen zu haben, hinter Schloß und Riegel säße?«

»Ach, es gibt keinen Menschen, der das zu behaupten wagt. Er ist doch unschuldig!«

»Das weiß ich ebensogut wie Sie. Aber das Gericht fragt nicht nach Glauben und Gefühlen. Das trifft unbarmherzig, wo es meint, daß es treffen müsse. Es waren viele Indizien vorhanden, die für die Schuld des Rittmeisters sprachen. Hoffentlich halten Sie mich nicht für eingebildet, liebes Fräulein Holger, aber ich muß wiederholen, wenn ich nicht gekommen wäre und die Sinnlosigkeit dieser Indizien ins rechte Licht gesetzt hätte, so wäre der Rittmeister verhaftet worden, und wir hätten einen noch größeren Skandal als er es jetzt schon ist. Sie kostet es vielleicht nur ein Wort, Licht in das Dunkel zu bringen. Sie allein können es, da Ihr Herr Vater immer noch bewußtlos ist und uns keine Aufklärung geben kann!«

Dagny Holger schaute den Detektiv an. Sie sah vergrämt aus, und ihre Augen standen voller Tränen.

»Ich kann nichts mitteilen«, sagte sie. »Oder was ich zu sagen habe, steht mit dieser Sache in keinerlei Beziehung.«

»Gewiß steht es damit in Beziehung.«

»Es ist grausam von Ihnen, an meiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Es ist die reine Wahrheit, daß ich keine Spur von einer Ahnung habe, wer meinen Vater zu ermorden versucht haben könnte.«

»Es ist leicht möglich, daß Sie das nicht wissen. Aber worin besteht das Geheimnis, das über dem tragischen Vorspiel zu dieser Begebenheit, dem Bruch Ihrer Verlobung mit Rittmeister Rye liegt?«

Dagny Holger stand auf.

»Dieses Geheimnis geht nur mich und den Kranken an«, sagte sie bestimmt. »Das betrifft den Rittmeister gar nicht. Ich bitte Sie dringend, machen Sie dieser peinlichen Szene ein Ende.«

Asbjörn Krag änderte sein Benehmen vollständig. Er wurde mit einem Male die Liebenswürdigkeit selbst.

»Ich habe Ihnen gesagt, daß Rechtsanwalt Bomann verschwunden, spurlos verschwunden ist«, sagte er. »Seit gestern abend hat ihn kein Mensch mehr erblickt. Und denken Sie daran: ich war der letzte, der ihn gesehen hat. Da war er in feindseliger Stimmung und schwur, er habe Beweise in Händen, durch die der Rittmeister schon zu Fall kommen werde.«

Der Detektiv sah wohl, daß diese Mitteilung Eindruck auf Dagny Holger machte. Aber er tat, als ob er nichts merke.

»Sie haben wohl auch keine Ahnung, wo der Rechtsanwalt sein kann?« fragte er.

»Nein.«

Nun überkam Dagny Holger eine gewisse Unsicherheit.

»Wann – wann haben Sie zuletzt mit Herrn Bomann gesprochen?« stammelte sie mit niedergeschlagenen Augen.

»Gestern abend.«

»Um wieviel Uhr?«

»Unmittelbar ehe ich mit Ihnen zusammen traf.«

»Dann war es also gegen acht Uhr?« murmelte sie nachdenklich.

»Sehr richtig. Es waren sieben Minuten vor acht Uhr. Ich stelle immer die Zeit fest, wenn ich arbeite. Der Rechtsanwalt kam von der Holtewiese her, wo er vermutlich seine Nachforschungen, um Beweise gegen den Herrn Rittmeister zu sammeln, fortgesetzt hatte.«

»Und jetzt ist er verschwunden?«

»Ja, seit jener Zeit ist er spurlos verschwunden.«

»Rittmeister Rye ist wohl – ist wohl um jene Zeit zu Hause gewesen, nicht?«

»Wann? Gestern abend um acht Uhr?«

Asbjörn Krag fühlte eine innere Erregung. Er hatte die Empfindung, vor einem Wendepunkte zu stehen.

»Ja.«

»Um acht Uhr?« murmelte Krag vor sich hin, so daß Dagny den Eindruck bekam, er denke und rechne nach. »Nein, um diese Zeit machte er einen Spaziergang. Das hat mir der Verwalter erzählt, als ich heimkam.«

»Aber als Sie heimkamen, trafen Sie den Rittmeister an?«

»Ja«, antwortete Krag und sie scharf anblickend fuhr er fort: »Der Rittmeister war durchaus wie sonst. Ich konnte nichts Ungewöhnliches an ihm entdecken.«

Es lief ein Schauer über Dagnys Körper.

»Das kann mir doch gleichgültig sein«, sagte sie.

Nun entstand eine Pause. Dagny Holger hatte brennende Lust, die Unterhaltung abzubrechen, aber es war, als wage sie es nicht recht. Asbjörn Krag nahm den Faden von vorhin wieder auf.

»Sie wollen mir also nicht mitteilen, was Ihr Grund war, dem Rechtsanwalt einen Besuch abzustatten?«

»Ich habe nichts zu sagen.«

Asbjörn Krag lächelte und nahm ruhig ihr gegenüber Platz.

»Dann erlauben Sie wohl, daß ich statt Ihrer das Wort ergreife«, sagte er beinahe spöttisch. »Sie können mich ja unterbrechen, wenn Sie mich zu berichtigen wünschen.«

»Gestern abend um sieben Uhr«, fing er an, »schrieb der Rechtsanwalt einen Brief wegen eines Waldkaufs, also in einer Sache, die mit diesem merkwürdigen Drama nicht das mindeste zu tun hat. Er war mitten in dem Worte »verkäuflicher Wald«, ich habe den Brief in Händen, gnädiges Fräulein, als ihm plötzlich etwas einfiel. Ich darf wenigstens annehmen, daß es keine Begebenheit von außen war, die ihn veranlagte, plötzlich aufzustehen und seinen angefangenen Brief liegen zu lassen. Er entdeckte nämlich, daß es inzwischen halb acht Uhr geworden war, oder vielleicht, daß noch einige Minuten dazu fehlten. War nicht halb acht Uhr die Stunde, zu der Sie verabredet hatten, mit ihm zusammenzutreffen?«

Krag bemerkte, daß Dagny Holger eine unwillige Bewegung machte und hob abwehrend die Hand.

»Unterbrechen Sie mich nicht!« sagte er. »Es ist möglich, daß ich mich bei einigen minder wichtigen Punkten irre, aber in der Hauptsache habe ich jedenfalls vollkommen recht. Ich weiß das ganz gewiß. Nun also, ich setze voraus, daß Sie etwas sehr Wichtiges mit dem Rechtsanwalt zu besprechen hatten und daß Sie sich überwunden hatten, ihm eine Zusammenkunft zu gewähren, ihm, dem geschworenen Feinde des Rittmeisters. Darf ich sagen, seinem Todfeinde? Gut, so sage ich das.

Während er seinen Brief schrieb, entdeckte er also, daß die schicksalsschwangere Stunde nahe. Dabei kam er auf den sehr vernünftigen Gedanken, es sei doch nicht ganz das richtige, mit Ihnen vor oder im Hause des Kaufmanns zusammenzutreffen, wo jeder beliebige Neugierige Zeuge der Zusammenkunft werden könnte, die doch unter den vorliegenden Umständen ziemlich auffallend war. Er entschloß sich also, Ihnen entgegenzugehen, so daß Ihr Zusammentreffen mit ihm wenigstens einigermaßen den Eindruck des Zufälligen machen könne. Aber da er nur noch wenig Zeit hat, läßt er seinen angefangenen Brief liegen. Seiner Wirtin, der Frau des Kaufmanns gegenüber behauptet er, er gehe auf sein Zimmer, geht aber statt dessen Ihnen entgegen.

Aber nun kommt der unglückliche – ich will sagen der glückliche Zufall, daß Sie, gnädiges Fräulein, einen Umweg gemacht hatten, um niemand zu begegnen. Sie kamen durch das Gehölz. Das konnte er nicht ahnen, und die Folge ist, daß Sie einander verfehlen. Während er unterwegs ist und nach Ihnen ausschaut, sind Sie bereits am Hause des Kaufmanns angelangt.

Hier möchte ich eine Frage einschieben. Ich habe mir sagen lassen, die Frau des Kaufmanns sei Ihr Kindermädchen gewesen. Ist das richtig?«

Dagny Holger nickte.

»Gut. Und wie bekannt, haben Kindermädchen oft eine rührende Anhänglichkeit an ihre Pflegebefohlenen, auch wenn diese längst erwachsen sind. Ich kann mir also gut denken, daß geschehen mußte, was geschah. Unterbrechen Sie mich nicht, liebes Fräulein Holger, ich möchte jetzt, wo ich am Schluß meiner Erklärungen angelangt bin, ungestört weiterreden.«


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