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Sehr verblüfft schaute der Vorsitzende des Gerichts den Rittmeister an.
»Ich verstehe Ihre Erklärung nicht«, sagte er, »vor einem Augenblick haben Sie doch erklärt –«
»Ich habe gesagt, daß ich einen Brief an Herrn Oberst Holger geschrieben habe«, sagte der Rittmeister. »Zeigen Sie mir diesen Brief, und ich werde mich dazu bekennen. Diesen Brief hier habe ich jedoch nicht geschrieben.«
»Aber dies ist der einzige Brief, der bei dem Oberst über diese Angelegenheit zu finden ist«, sagte der Vorsitzende. »Haben Sie vielleicht eine Probe Ihrer Handschrift bei sich?«
Der Rittmeister reichte dem jungen Vorsitzenden einige Papiere, und dieser räumte sofort bereitwillig ein, daß die beiden Handschriften nicht die geringste Aehnlichkeit hätten.
Hier mischte sich Asbjörn Krag in die Verhandlung ein.
»Wenn Sie mir eine Bemerkung gestatten wollen, Herr Vorsitzender«, sagte er, »dann möchte ich die Anregung aussprechen, daß der Brief zur Verlesung gelangt.«
Der Vorsitzende nickte nach kurzem Besinnen und las dann den Brief vor. Er lautete:
»Herr Oberst! Der Mann, an den Sie beständig denken, fordert Sie auf, heute um halb vier Uhr auf den Weg, der über die Holtewiese führt, zu kommen. Dort können wir ungestört verhandeln, und ich erwarte, daß ein Übereinkommen erzielt wird. Aus bekannten Gründen wünsche ich jetzt nicht, Ihr Haus zu betreten.«
»Der Brief trägt keine Unterschrift«, erklärte der Vorsitzende. »Wenn der Herr Rittmeister den Brief nicht geschrieben hat, so wird mir, aufrichtig gestanden, die Sache rätselhaft.«
»Was wird Ihnen rätselhaft?« fragte Asbjörn Krag.
»Der Mord!« erwiderte der Vorsitzende unwillkürlich.
Der Mord! Unter den Anwesenden entstand eine Bewegung. Der Detektiv blickte seinen Freund an. In des Rittmeisters Gesicht waren Sorge und Kummer deutlich zu lesen. Er sagte kein Wort. Der Vorsitzende hatte das deutliche Gefühl, zuviel gesagt zu haben, und suchte sich hastig herauszureden.
»Wie die Sache jetzt liegt, steht es wenigstens so aus, als ob ein Mordversuch vorliege«, sagte er.
»Verzeihen Sie, Herr Vorsitzender, wenn ich hierzu eine Bemerkung mache«, warf der Detektiv ein.
»Bitte?« fragte der Vorsitzende.
»Man kann die Sache auch anders ansehen, und das tue ich«, erklärte Krag. »Wenn dieser Brief wirklich von dem Herrn Rittmeister geschrieben wäre, so könnte er allerdings vielleicht so gedeutet werden, als ob der Rittmeister den Oberst habe in eine Falle locken wollen. Ich sage vielleicht! Die Unwahrscheinlichkeit liegt jedoch zu sehr auf der Hand. Man mag meinen Freund, den Herrn Rittmeister, betrachten, mit was für Augen man will, man muß doch wenigstens das einräumen, daß er kein Esel ist.«
Der Rittmeister warf Krag einen mißbilligenden Blick zu.
Krag sprach jedoch eindringlich und ernsthaft weiter. »Wenn der Rittmeister den Herrn Oberst wirklich hätte aus dem Hause locken wollen, um ihn umzubringen, so müßte er tatsächlich ein ganzer Esel gewesen sein, ihm einen derartigen Brief zu schreiben. Er hätte ja doch mit ziemlicher Sicherheit annehmen müssen, dieser Brief werde in die Hände des Gerichts fallen.«
Der Vorsitzende wurde augenscheinlich unsicher.
»So plump benimmt sich der dümmste Verbrecher nicht«, fuhr Krag fort. »Aber es ist ja ziemlich wertlos, diese Frage zu verhandeln, da es erwiesen ist, daß der Rittmeister diesen Brief, durch den der Herr Oberst aus dem Hause gelockt wurde, gar nicht geschrieben hat.«
Verdrießlich rückte der Vorsitzende seinen Stuhl.
»Mit diesem Brief paßt aber doch alles ausgezeichnet ineinander«, sagte er. »Es ist kaum möglich, daß ihn jemand anders geschrieben hat.«
Asbjörn Krag runzelte die Stirn.
»Meinen Sie?« sagte er. »Aber der Herr Rittmeister hat nun einmal den Brief nicht geschrieben. Sie haben ja Herrn Ryes Handschrift gesehen; sie hat mit dieser nicht die geringste Aehnlichkeit. Dazu kommt noch, daß der Rittmeister zugegeben hat, einen vielleicht ganz ähnlichen Brief an den Oberst geschrieben zu haben, aber nicht diesen hier. Weiter: Was ist das für ein Ton in diesem Brief! Er hat ja geradezu etwas Befehlendes, was sich der Herr Rittmeister dem Herrn Oberst gegenüber gewiß nicht herausgenommen hätte.«
Der junge Gerichtsvorsitzende dachte in wachsender Verwirrung über die Ausführungen des Detektivs nach.
Krag schwieg nun eine Minute.
Als der andere zu keinem Ergebnis gelangte, nahm der Detektiv ihn beiseite und sagte leise, so daß es die anderen nicht hören konnten:
»Wenn Sie mir als älterem und vielleicht erfahrenerem Kriminalbeamten erlauben wollen, Ihnen einen Rat zu geben, so möchte ich Ihnen ans Herz legen, zuerst das zu untersuchen, was vor allen Dingen untersucht werden muß und dann erst die Zeugen zu verhören. Haben Sie den Herrn Oberst gesehen?«
»Ja. flüchtig. Die Aerzte sind jetzt eben bei ihm.«
»Sind Sie auch auf der Holtewiese gewesen, an der Stelle, wo er gefunden worden ist?«
»Selbstverständlich bin ich dort gewesen«, antwortete der Vorsitzende.
»Dann haben Sie dort wohl eine Menge Beobachtungen gemacht?«
»Was meinen Sie?«
»Haben Sie nicht irgend etwas gefunden, das Ihnen einen Fingerzeig geben könnte, wie die Sache zugegangen ist?«
»Es ist nicht die geringste Spur zu entdecken.«
»Aber dort ist doch Lehmboden, nicht wahr? Ist der Platz abgesperrt?«
»Nein.«
»Dann habe ich jetzt Wichtigeres zu tun, als bei diesem Verhör anwesend zu sein«, erklärte Krag eifrig. »Ich gehe hinunter auf die Holtewiese.«
Der Vorsitzende schaute den Detektiv einen Augenblick gespannt an. Dann legte er seine Papiere zusammen und sagte:
»Ich komme mit Ihnen. Wir können das Verhör später fortsetzen. Und von nun ab bitte ich Sie, die Untersuchung selbst zu leiten!«
»Jetzt kommt die Sache in Schwung«, sagte Krag befriedigt. »Ich muß Ihnen einräumen, daß Sie mit dem Briefe wahrscheinlich auf der richtigen Spur sind. Aber der Rittmeister hat ihn nicht geschrieben«, setzte er lächelnd hinzu.
Beide Beisitzer, der Schreiber und auch der Rittmeister waren einigermaßen erstaunt über die unerwartete Wendung, die das Verhör so plötzlich genommen hatte. Alle fühlten sich von Asbjörn Krags Eifer mitgerissen. Der Detektiv hatte der Sache sein Gepräge aufgedrückt, und es war Zug hineingekommen. Man stand nicht länger nur um einen grünen Tisch herum und schwatzte. Sobald der stellvertretende Amtsrichter seine angenommene Würde hatte fahren lassen, zeigte er einen natürlichen Eifer, der einen sehr angenehmen Eindruck machte. Er ging mit Asbjörn Krag voran, und der Rittmeister und der Protokollführer kamen in einem kleinen Abstand nach.
»Der Rittmeister hat den Schein gegen sich«, sagte der Stellvertretende zu Asbjörn Krag. »So wie mir die Liebesgeschichte berichtet worden ist, stand es mir sofort klar vor Augen, daß allein bei ihm die Lösung des Rätsels zu finden sei. Ein anderer als Ivar Rye konnte es gar nicht gewesen sein.«
»Und doch muß ein Vierter im Spiele sein«, erwiderte Krag.
»Ein Vierter?« fragte der Stellvertretende überrascht.
»Bei dem Drama waren bis jetzt nur drei Personen beteiligt«, erklärte der Detektiv. »Der Oberst, der Rittmeister und dann Dagny, die Tochter des Obersten. Und nun kommt also der Vierte, den wir bis jetzt noch nicht kennen. Sie haben die Sache seither nur von einer Seite betrachtet. Das hat zur Folge gehabt, daß Sie sofort auf Widersprüche gestoßen sind. Ich glaube, man darf die Untersuchung solch einer Sache niemals mit vorgefaßten Meinungen beginnen, wenn ich auch zugeben muß, daß es oft schwierig ist, sie sich gänzlich vom Leibe zu halten. Wir sind noch nicht einmal über die eine Frage ganz im reinen: Ist der Oberst einem Mordanfall ausgesetzt gewesen, oder liegt ein Unglücksfall vor?«
»Ein Unglücksfall ist unbedingt ausgeschlossen«, erklärte der stellvertretende Amtsrichter mit Ueberzeugung. »Der Oberst ist im weichen Grase aufgefunden worden. Nicht einmal ein Stein war in der Nähe, über den er gefallen sein könnte.«
Asbjörn Krag gab keine Antwort. Bald waren sie auf der Wiese angelangt. Der Weg, der darüber führte, war ziemlich weich, und der Graswuchs war nicht sehr üppig wegen des schlechten Bodens, der hier beinahe nur aus Lehm bestand. Am Ende der Wiese, wo der Wald anfing, standen einige Bäume mit krummen, niedrigen Stämmen. Dorthin führte der stellvertretende Amtsrichter Asbjörn Krag und sagte:
»Hier ist er gefunden worden. Er lag halb auf dem Gesicht.«
»Und hatte eine Wunde im Hinterkopf?« fragte Krag.
»Ja«, antwortete der Stellvertretende. »Soweit ich urteilen konnte, ist er auf den Hinterkopf geschlagen worden und sofort zu Boden gestürzt. Uebrigens mag Gott wissen, was er hier verloren hatte. Er war ja da ganz weit vom Wege ab.«
»Wir können einstweilen einmal annehmen, daß der Unbekannte hier auf ihn gewartet habe«, meinte Krag.
Krag fing nun an, den Erdboden zu untersuchen. Anscheinend war es eine ganz flüchtige Untersuchung, und es sah auch nicht aus, als ob er irgend etwas entdeckt hätte.
Nun erschienen auch der Rittmeister und der Protokollführer auf der Stelle.
Plötzlich fragte Asbjörn Krag:
»War der Oberst zu Pferd?«
»Nein«, erwiderte der Stellvertretende. »Er war zu Fuß.«
Der Detektiv schwieg eine Weile. Dann fragte er wieder, und seine Frage kam dem andern recht merkwürdig vor:
»Wird hier in der Gegend viel geritten?«
Der Stellvertretende blickte den Rittmeister an und dieser antwortete:
»Im Umkreis von zwei Meilen haben nur drei Menschen ein Reitpferd: der Oberst selbst, seine Tochter und ich. Wenigstens weiß ich von keinem andern.«
»Höchst sonderbar«, murmelte Asbjörn Krag vor sich hin. »Falls hier wirklich ein Mordversuch vorliegt, so war der Mörder zu Pferd«, setzte er sehr ernst hinzu.