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Zweites Kapitel. Ein Unglückstelegramm

Rittmeister Ivar Rye schwieg und versank in trübe Gedanken. Krag weckte ihn nicht aus seiner Grübelei, sondern studierte einstweilen des Freundes Gesichtsausdruck. Merkwürdig, wie plötzlich der Freund dem Aussehen nach mindestens um zehn Jahre älter geworden war.

»Abends um zehn Uhr erhielt ich endlich Bescheid«, erzählte Rye weiter. »Es kam ein Bote von dem Obersten und brachte mir zwei Briefe; einen von ihm selbst und einen von dessen Tochter.

Beide Briefe strömten über von Sorge und Kummer.

Der Oberst schrieb, daß er heute die schwerste Stunde seines Lebens durchgemacht habe. Ich weiß den Brief beinahe wörtlich auswendig.

Er schrieb, er habe mich während unseres Zusammenseins schätzen gelernt, und wenn sich die Sache in der Zukunft so ordnen würde, daß wir wieder zusammenkommen könnten, so wäre ihm das eine große Freude.

Vorläufig sei es ihm aber unmöglich, mich zu sprechen, und aus der Heirat mit seiner Tochter könne jetzt nichts werden.

Er habe mir nicht das mindeste vorzuwerfen, schrieb er weiter. Verhältnisse, über die weder er noch ich Herr seien, machten den Bruch notwendig.

Er wisse, daß er an einen Ehrenmann schreibe, der die Gründe für sein Schweigen achten werde. Aber eine Heirat sei und bleibe unmöglich. Er habe sich mit seiner Tochter beraten, und sie habe sich bereit erklärt, auf ihr Glück zu verzichten.

Dagnys Brief war in großer Aufregung geschrieben, die stark auf mich einwirkte. Ich konnte die heftige Gemütsbewegung, in der sich das arme Mädchen während des Schreibens befunden hatte, förmlich mitfühlen. Alles müsse zu Ende sein, schrieb sie. Es sei am besten, wenn wir uns nie mehr sähen. Aber sie grüße mich tausendmal. Sie werde bis zu ihrem letzten Atemzug meiner gedenken.

Du verstehst wohl, lieber Freund, daß mir in jener Nacht kein Schlaf in die Augen kam. Die ganze Sache war mir unbegreiflich. Woher dieser plötzliche und unbegründete Bruch? Ich erschöpfte mein Gehirn mit unzähligen Fragen, allein ich fand keine Lösung.

Später nahm ich meine Ausritte wieder auf, und vor drei Tagen traf ich mit Dagny zusammen.

Sie hatte ein schwarzes Kleid an und sah sehr blaß aus. Ihr Pferd war schweißbedeckt, wie nach einem langen und heftigen Ritt.

In einem Hohlweg trafen wir zusammen und mußten aneinander vorbei.

Ich grüßte. Sie nickte, und ihre Wangen überzogen sich mit einer dunklen Röte.

Nun konnte ich mich nicht mehr halten, sondern fiel ihrem Pferd in die Zügel.

›Dagny, du bist mir eine Erklärung schuldig,‹ sagte ich. ›Ich reise fort von hier, aber ich kann nicht gehen, ehe ich erfahren habe, was uns getrennt hat.‹

Sie war ganz verwirrt vor Angst und Verlegenheit und fragte: ›Du willst fortgehen?‹

›Ja. Wundert dich das?‹

›Weit fort?‹

›Sehr weit fort, Dagny. Willst du mir nicht eine Antwort auf meine Frage geben?‹

›Nein, denn das kann ich nicht. Du darfst mich nicht fragen.‹

›Ist etwas geschehen?‹

›Ja, es ist etwas geschehen; etwas, das nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann.‹

›Auch nicht mit einem klaren Verstand, gutem Willen und zwei starken Fäusten?‹

Sie gab keine Antwort; sie lächelte nur. Ein sehr nervöses Lächeln. Ihre Lippen bebten.

›Liebst du mich nicht mehr, Dagny?‹

›Laß meine Zügel los, dann will ich dir die Antwort geben.‹

Ich ließ die Zügel fahren.

Sie beugte sich zu mir herüber und sagte mit bebender Stimme:

›Ich habe dich von jeher geliebt, und ich liebe dich noch und werde dich immer lieben.‹

Dann spornte sie ihr Pferd und jagte davon.

Ich rief ihren Namen nach. Sie drehte sich im Sattel um, winkte mir zu und rief:

›Wir dürfen uns nie mehr sehen!‹

Seither habe ich sie auch nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch auf dem Hofe ist.

Und damit, lieber Krag, hast du erfahren, was geschehen ist. Ich bitte dich um deine Hilfe. Das tue ich, weil ich gewiß weiß, daß dies nicht nur eine gewöhnliche Liebesgeschichte ist.«

Rye stand auf und trat ans Fenster. In seiner Stimme war ein merkwürdiges Beben, als er sagte:

»Du begreifst wohl, daß ich nicht aus noch ein weiß. Aber vielleicht kommt es daher, weil ich vor Unglücksgefühl fieberkrank bin und blind vor Liebe. Aber ich kann wirklich nicht ergründen, was geschehen ist. Es liegt auf mir wie eine trübe Ahnung, daß hinter diesen Begebenheiten ein Geheimnis steckt. Ein Geheimnis, dessen Lösung ich nicht finden kann, aber vielleicht vermagst du es. Und wenn ich an das vergrämte Gesicht des alten Obersten denke, als ich zuletzt mit ihm sprach, da schlägt mir heftig das Herz. Was müssen das für Ereignisse gewesen sein, die so unauslöschliche Spuren in das Antlitz eines Menschen graben konnten!«

Ivar Rye hatte zu Ende gesprochen.

»Wo ist mein Ueberzieher?« sagte er. »Ich muß nun gehen!«

»Ohne meine Antwort abzuwarten?« fragte Asbjörn Krag.

»Du weißt ja, wo ich wohne«, antwortete der Freund. »Du kannst kommen, wann du willst. Ich lasse ein Zimmer für dich bereit halten. Aber du mußt innerhalb acht Tagen kommen.«

»Warum so geschwind?«

»Nach acht Tagen reise ich ab.«

Im nächsten Augenblick stand Rye im Ueberzieher da.

»Ich möchte nur zwei Fragen an dich richten«, sagte Krag.

»Bitte!«

»Wer, glaubst du, ist wohl die Ursache von allem dem, der Vater oder die Tochter?«

»Ich meine, das sei aus meiner Erzählung deutlich hervorgegangen«, erwiderte Rye. »Es ist meine feste Ueberzeugung, daß es der Vater, der alte Oberst ist, der sich mir und seiner Tochter in den Weg stellt. Aber er tut das notgedrungen und mit blutendem Herzen.«

»Hältst du den Alten für einen Ehrenmann?«

»Ich mag ihn sehr gern leiden, und ich halte ihn unbedingt für einen Ehrenmann«, antwortete Rye.

»Schön. Nun noch eine Frage. Weiß die Nachbarschaft etwas von dieser Geschichte?«

»Ja, da bringst du mich auf etwas, das mich veranlaßt, meine Abreise zu beschleunigen. Es war ja nicht zu vermeiden, daß die Nachbarschaft etwas von unserer Verlobung erfuhr. Ich weiß auch keinen Grund, warum sie nichts davon hätten erfahren dürfen, die Hochzeit war ja auch schon bestimmt. Nun haben sie natürlich auch den Bruch erfahren, und es hat viel Klatsch gegeben. Das ist unangenehm, aber es läßt sich nichts dagegen machen.«

Als nun Rye gehen wollte, hielt ihn Krag mit noch einer Frage auf.

»Du hast mir von dem Obersten und Dagny erzählt. Kann nicht auch noch eine dritte Person im Spiele sein?«

»Was meinst du damit?«

»Gibt es nicht noch einen Dritten? Ich meine außer dir?«

Rye drückte die Hand des Freundes.

»Nein!« sagte er. »Es gibt keinen Dritten. Dafür stehe ich.«

Nun verabschiedeten sich die beiden Freunde voneinander. Rye ging zum Bahnhof, um abzureisen. Asbjörn Krag blieb noch lange sitzen, tief in Gedanken versunken. Das war jedenfalls eine wunderliche Sache, ohne Aehnlichkeit mit andern Geschichten, mit denen er als Detektiv sonst schon zu tun gehabt hatte.

Er legte sich die Frage vor, ob er sich überhaupt in diese Sache mischen solle oder nicht.

Was konnte er tun?

Hier war ja nicht die geringste Ungesetzlichkeit begangen worden, und so hatte er keine Veranlassung, sich an den alten Obersten und seine Familie zu wenden.

Aber jedenfalls konnte er seinem alten Freunde Ivar Rye einen Besuch machen und ein paar Tage bei ihm bleiben. Er konnte ja sagen, er wolle sich einige Tage der Ruhe gönnen.

Am Tage darauf erhielt er eine Postkarte mit folgendem Wortlaut:

»Lieber Freund! Dein Zimmer steht bereit. Dein Ivar.«

Allein er zögerte noch immer.

Da ereignete sich etwas, das ihn veranlaßte, einen raschen Entschluß zu fassen.

Am Tage, nachdem er die Postkarte erhalten hatte, zeigte ihm der Leiter der Osloer Kriminalpolizei ein Telegramm. Es lautete:

»Oberst Anders Holger ist in der Nähe seines Hofes lebensgefährlich verletzt aufgefunden worden. Unglücksfall oder Ueberfall. Umstände sehr verdächtig. Gerichtliche Untersuchung im Gang.«

Oberst Anders Holger, das war ja der alte Oberst, Dagnys Vater.

Eine Stunde darauf war Asbjörn Krag unterwegs.


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