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Zwölftes Kapitel. Kommt er?

Schlag zehn Uhr am anderen Morgen sollte das Zeugenverhör im Hause des Amtsvorstehers beginnen.

Schon von neun Uhr an sammelten sich die Leute vor dem Hause des Amtsvorstehers. Einige waren als Zeugen geladen, die andern kamen aus Neugierde.

Meist schweigend standen die Leute herum; es war, als ob das Unheimliche dieses Falles einen Dämpfer aus die Schwatzsucht gelegt hätte. Aber aus den wenigen Worten, die geflüstert wurden, und aus den finsteren Blicken, die nach der Seite gerichtet waren, von der der Rittmeister erwartet wurde, ging deutlich hervor, gegen wen sich in diesem Falle die Antipathie der Leute richtete.

Aus der Hauptstadt waren einige Journalisten angekommen; diese gingen herum und plauderten mit den umherstehenden Bauern. Sie erfuhren zwar nicht viel, denn Bauern sind in solchen Dingen in der Regel sehr wortkarg: aber so viel brachten sie doch heraus, daß sie mit beinahe unbedingter Sicherheit schreiben konnten:

»Man vermutet, daß das Zeugenverhör von heute vormittag von abschließender Bedeutung sein werde. Der Fall ist äußerst interessant, und eine Liebesgeschichte zieht sich wie ein roter Faden durch diese rätselhaften und verwickelten Ereignisse. Vorläufig sammeln sich alle Indizien der Täterschaft in unheimlichster Weise um Rittmeister Rye. Seine Sache steht um so schlimmer, als er offenbar zum Schweigen und Verdrehen von Tatsachen seine Zuflucht genommen hat.

So verweigert er jede Auskunft darüber, zu welchem Zweck er an dem Unglückstage zwischen drei und vier Uhr einen Ausritt unternommen hat. Auch leugnet er bestimmt, an dem genannten Tag übers Feld geritten zu sein, obgleich die Spuren von Huftritten bestimmt darauf hindeuten.

Der Mann, der diesem wichtigen Umstand mit den Pferdespuren ans Tageslicht gebracht hat, ist der im Dorfe wohlbekannte Rechtsanwalt Bomann aus der nächsten Stadt. Er hat großen Spürsinn bewiesen und hat in dieser Sache mit anerkennenswertem Eifer gearbeitet.

Die Verhandlung wird von dem jungen stellvertretenden Amtsrichter geleitet, da der Amtsrichter selbst zur Zeit krank ist. Die Leute erwähnen es hier als einen bemerkenswerten Umstand, daß der Amtsrichter in den letzten Jahren stets krank gewesen ist, sobald es sich um einen bedeutenderen Fall gehandelt hat. Man kann natürlich nicht erwarten, daß der Stellvertretende, der erst fünfundzwanzig Jahr alt ist, Erfahrung genug für die tadellose Führung einer solchen Verhandlung habe. Jedenfalls aber müßte eingegriffen werden, wenn es sich als richtig herausstellen sollte, was die Leute behaupten, daß er sich nämlich bei der Verhandlung gestern sein Verfahren teilweise von einem Detektiv habe vorschreiben lassen, der aus Oslo hergekommen sein soll.

Dies ist um so merkwürdiger, als der genannte Detektiv – sein Name war nicht zu erfahren, und er hat sich auch bis jetzt nicht blicken lassen – der beste Freund des verdächtigen Rittmeisters ist und bei ihm wohnt. Im ganzen betrachtet wäre es angebracht, wenn der Staatsanwalt, dem ja doch höchstwahrscheinlich diese Sache in die Hände fällt, den wichtigen Verhandlungen beiwohnte.«

Dies wurde vor der Verhandlung geschrieben und sofort nach Oslo telegraphiert, damit man dort doch einmal »für den Anfang« etwas zu berichten habe.

Als die Berichterstatter von der kleinen Telegraphenstation zurückkehrten, merkten sie an der Haltung der Leute, daß etwas los sein mußte. Alle standen regungslos und schauten nach der Straße, die zum Hause des Rittmeisters führte.

»Er kommt!« wurde geflüstert.

»Wer kommt?«

»Der Rittmeister!«

Drei Herren kamen in lebhafter Unterhaltung die Straße dahergeschritten.

»Der in der Mitte ist der Rittmeister!« sagte jemand.

»Und die beiden anderen?«

»Der eine ist der Detektiv und der andere der stellvertretende Amtsrichter.«

Die Journalisten steckten die Köpfe zusammen. Das war doch sonderbar, daß der Vertreter von Gesetz und Recht, der Verdächtige und ein unberufener Dritter sich so offen vor aller Welt miteinander unterhielten!

Als die drei vor dem Hause angekommen waren, fragte der Stellvertretende nach dem Rechtsanwalt Bomann. Der Stellvertretende hielt ein Schriftstück in der Hand. Der Kaufmann trat vor und sagte, Rechtsanwalt Bomann sei noch nicht erschienen, er erwarte ihn aber jeden Augenblick.

»Ich wollte ihn als ersten Zeugen vernehmen«, sagte der stellvertretende Amtsrichter. »Er ist der wichtigste Zeuge. Gestern hat er an mich geschrieben.«

Und er las halblaut vor sich hin:

»– habe Ihnen in dieser Sache wichtige Aufklärungen zu geben. – Na ja, der Mann kommt wohl noch, wenn er es versprochen hat«, fügte er hinzu. Dann sah er nach der Uhr. »Es ist ja noch eine Viertelstunde Zeit, bis die Verhandlung beginnt.«

Asbjörn Krag, der bis jetzt schweigend neben dem Rittmeister gestanden hatte, trat vor. Er hatte das Gesicht des Kaufmanns aufmerksam betrachtet, und da war ihm ein Ausdruck von merkwürdiger Unruhe aufgefallen.

»Guten Tag!« sagte er zu ihm. »Erkennen Sie mich wieder?«

Jawohl, der Kaufmann erkannte ihn wieder.

»Wissen Sie, wo sich der Rechtsanwalt Bomann aufhält?«

»Nein.«

»Ich dachte, Sie und er wollten zusammen herkommen?«

Der Kaufmann schaute hinaus in die blaue Luft.

»Nein, das wollten wir nicht«, sagte er.

Nun wurde der Detektiv mit einem Male von einem Gedanken ergriffen.

»Wann haben Sie den Herrn Rechtsanwalt zum letztenmal gesprochen?«

»Das ist noch nicht lange her.«

»Wie lange ist es her?«

Asbjörn Krags Frage war in einem Tone gehalten, der Antwort forderte.

»Seit gestern abend habe ich ihn nicht mehr gesehen«, gab der Kaufmann zögernd zur Antwort.

Nun wurde auch der Amtsrichter aufmerksam und trat zu den beiden.

»Rechtsanwalt Bomann wohnt bei Ihnen?« fragte er.

»Ja. Das tut er immer, wenn er hier in der Gegend ist.«

»Aber dann ist es doch merkwürdig, daß Sie ihn seit gestern abend nicht mehr gesehen haben.«

»Er hat viel zu laufen seiner Waldkäufe und anderer Geschäfte wegen. Vielleicht hat er bei jemand, mit dem er wegen eines Waldkaufes in Verhandlung steht, übernachtet.«

»Sprach er davon, als er wegging?«

»Nein, das tat er eigentlich nicht.«

»Wann ging er denn von Ihrem Hause fort?«

»Gestern abend um halb acht Uhr.«

Asbjörn Krag überlegte. Um acht Uhr hatte er selbst den Rechtsanwalt getroffen, und da deutete nichts darauf hin, daß dieser im Sinn habe, das Dorf zu verlassen. Und außerdem hatte er doch auch den Brief an den stellvertretenden Amtsrichter geschrieben und diesem mitgeteilt, daß er pünktlich am andern Morgen erscheinen und seine wichtigen Aussagen machen werde, das heißt, die Indizien vorlegen, die es ihm gelungen sei, gegen den Rittmeister zusammenzutragen.

»Haben Sie ihn gestern abend zurückerwartet?« fragte Krag weiter.

»Ja, das habe ich allerdings getan. Er hatte im Laufe des Tages davon gesprochen, daß er noch Briefe zu erledigen habe, und die hat er jedenfalls noch nicht abgeschickt.«

Krag wechselte mit dem Amtsrichter einen Blick.

»Wir fragen nur, weil ihm ja vielleicht etwas zugestoßen sein könnte«, sagte dieser.

Aber nun wurde der Kaufmann plötzlich lebendig.

»Ach, das glaube ich nicht, Bomann hatte einen Revolver bei sich!« rief er und warf Krag einen stechenden Blick zu.

Asbjörn Krag zuckte die Achseln und lächelte. Dann wurde er die beiden Journalisten aus der Stadt gewahr und grüßte verbindlich.

»Auch hier?« sagte er. »Sie sind zeitig zur Stelle, meine Herrn.«

Hier muß die Bemerkung eingeschoben werden, daß Asbjörn Krags Person nur sehr wenigen bekannt war. Wenn er sich öffentlich sehen lassen mußte, trat er am liebsten in irgendeiner Verkleidung auf, darum war es sehr begreiflich, daß ihn die beiden Journalisten nicht persönlich kannten. Aber jetzt wollten sie wissen, wer der Mann sei, und stellten sich darum vor. Sie waren Mitarbeiter an zwei großen Zeitungen der Hauptstadt.

»Sie kennen wahrscheinlich meinen Namen«, sagte der Detektiv. »Ich bin nicht von der Polizei hergesandt, sondern arbeite ganz privatim und habe mich hier in erster Linie aus Interesse an dem Fall an sich eingemischt, besonders aber auch aus Interesse für meinen alten Freund, Rittmeister Rye. Ich heiße Asbjörn Krag. Wohin, meine Herrn?«

Dieser Ausruf des Detektivs war sehr berechtigt, denn kaum hatte er seinen Namen genannt, als die beiden Herrn Kehrt machten und mit flatternden Rockschößen aufs Telegraphenbüro rannten. Nun war die Sachlage mit einem Male vollständig verändert. Die abgesandten Telegramme mußten mit der Nachricht vervollständigt werden, daß Asbjörn Krag, der berühmte geheimnisvolle Detektiv, der so selten zu sehen war, die Fäden in der Hand halte.

Krag lachte. Es war ihm klar, um was es sich hier handelte, aber für diesmal hatte er nicht mehr die Absicht, sich zu verstecken.

Der stellvertretende Amtsrichter sah nach seiner Uhr. Es war beinahe zehn Uhr. Jedermann spähte die Straße entlang, ob sich denn der Hauptzeuge nicht doch noch im letzten Augenblick einfinden werde.


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