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Neuntes Kapitel.


Ich beugte mich zu dem Unglücklichen herab, dessen abgemagerte Gestalt und verzerrten Züge zur Genüge bewiesen, daß die Hände der Wilden nur die Vernichtung vollendet hatten, die durch seine Leiden begonnen worden waren. Er war auf entsetzliche Weise durch den Tomahawk verstümmelt und es blieb wenig Hoffnung übrig, daß menschliche Geschicklichkeit sein Leben wieder retten könne.

Ich fühlte nichts wie Mitleid – ich handelte ohne Absicht, als ich mich auf die Dielen setzte, seinen Kopf erhob und ihn auf mein Knie legte. Diese Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit, er schlug die Augen auf und richtete sie auf mein Gesicht; sie verkündeten weder Unempfindlichkeit, noch Entsetzen, noch Wahnsinn. Ein leises Gefühl der Ueberraschung wich dem Anscheine der Ruhe. Als ich diese Zeichen eines weniger hoffnungslosen Zustandes bemerkte, wie ich zuerst geglaubt hatte, redete ich ihn an.

»Mein Freund, wie fühlen Sie sich? Kann etwas für Sie geschehen?«

Er antwortete mir in einem festeren Tone und mit größerem Zusammenhang der Gedanken, wie mich frühere Erscheinungen hatten erwarten lassen.

»Nein,« sagte er, »Deine Freundlichkeit kann mir nichts nützen, guter Jüngling – das Ende meines irdischen Daseins ist da, möge meine Schuld durch das Elend gesühnt sein, das ich erduldet habe, und mögen mich nur meine guten Thaten vor den Thron meines göttlichen Richters begleiten.

Ich warte auf dieses Ende meiner Leiden, aber nicht mit Furcht oder Zagen. Ich habe nur ein Gebet ausgehaucht und dieses Gebet ist erhört worden. Ich flehte um ein Zusammentreffen mit Dir, junger Mann, aber da ich mich so fühlte, wie es jetzt der Fall ist, so ging dieses so sehr ersehnte Zusammentreffen über meine Hoffnungen hinaus. Jetzt bist Du zu rechter Zeit gekommen, um die letzten Worte zu vernehmen, welche ich werde aussprechen müssen.

Ich wollte Dir versichern, daß Deine Bemühungen zu meinem Besten nicht nutzlos gewesen sind – sie haben mich vor dem Selbstmord bewahrt – vor einer Schuld, die weniger wieder gut zu machen gewesen wäre wie jede andere, deren Begehen in meiner Macht stand.

Ich zog mich nach der innersten Tiefe von Norwalk zurück und erreichte auf unterirdischen Pfaden den Gipfel eines Berges. Ich wußte, daß dieser Hügel auf allen Seiten unzugänglich für menschliche Schritte sei und daß die unterirdischen Zugänge durch Steine verschlossen wären – hier glaubte ich meine Einsamkeit und Störung gesichert und meinen Tod durch Hunger gewiß.

Diese Ueberzeugung wurde durch Dein Erscheinen auf der gegenüberliegenden Felswand nicht beseitigt. Ich wußte, daß der Spalt, welcher uns trennte, unzugänglich sei, – ich entzog mich Deinen Augen.

Als ich einige Zeit darauf aus einem tiefen Schlummer erwachte, fand ich Lebensmittel neben mir. Derjenige, welcher sie mir gebracht hatte, war unsichtbar. Ich stand eine Zeit lang im Zweifel, ob nicht ein Bote des Himmels zu meiner Rettung erschienen sei. Auf welche andere Weise wie durch übernatürliche Mittel mein Zufluchtsort betreten sein sollte, konnte ich nicht begreifen. Der Gipfel war von schwindelnden, tiefen Abgründen umgeben und die unterirdischen Zugänge waren noch immer verschlossen.

Diese Ansicht diente, obgleich sie durch die spätere Ueberlegung berichtigt wurde, dazu, meinen verzweifelten Gedanken eine andere Richtung zu geben. – Mein sehr stark eingetretener Hunger konnte nicht widerstehen und ich verzehrte die Nahrung, welche mir gebracht worden war. Von jetzt an beschloß ich zu leben, den Pfad der Dunkelheit und Arbeit, welchen ich verlassen hatte, wieder zu betreten und zu warten, bis mich mein Gott wieder zur Vergeltung rufen werde – seinem Rufe vorgreifen, heißt nur, unsere Schuld vergrößern.

Ich beabsichtigte nicht, in den Dienst Inglefield's zurückzukehren, sondern wählte eine andere entferntere Gegend. Ich hatte indessen einen Schatz in seinem Besitz zurückgelassen, den mein Entschluß, zu sterben, werthlos machte, dem aber meine veränderte Absicht seine Kostbarkeit wieder gab. In einem bei Inglefield zurückgelassenen Kasten befanden sich die Memoiren Euphemia Lorimer's, die mich bisher auf allen meinen Wanderungen begleitet hatten und von welchen ich mich nur trennen wollte, weil ich mich weigerte, zu leben. Jetzt sollte mein Dasein verlängert werden und dieses Manuscript wieder die Qual und den Trost meines Lebens bilden.

Ich eilte bei Nacht zu Inglefield. Ich brauchte ihm meine Absicht nicht mitzutheilen; ich wünschte, daß mein Schicksal für meinen alten Herrn und seine Nachbarn ein ewiges Geheimniß bleiben sollte. Das Zimmer, welches meinen Kasten enthielt, war mir wohlbekannt und leicht zugänglich. Der Kasten fand sich vor, aber erbrochen und seines Schatzes beraubt. Mein Erstaunen, meine Entrüstung und mein tiefer Kummer brachten nur das Wiederaufleben meines Vorsatzes hervor. Ich eilte zu dem Berge zurück und beschloß aufs Neue, zu sterben.

Diese Stimmung dauerte bis zum Abend des folgenden Tages. Als ich über Felsen und Abgründe wandelte, sah ich das Manuscript unter einem vorspringenden Felsen liegen. Der Zufall, welcher es hierher gebracht hatte, war weit weniger glücklich und wunderbar wie derjenige, durch welchen ich mit Nahrung versehen worden war. Er übte aber einen ähnlichen Einfluß auf meine Gefühle aus, und so lange ich in dem Besitz dieses Manuscripts war, verstand ich mich zum Leben. Ich verließ die Berge, zog durch die Wildniß und blieb in Chetasco. Die Beschäftigung, welche ich suchte, war leicht zu erhalten, aber kaum hatte ich meinen neuen Beruf angetreten, so störte eine Bande Wilder unsere Sicherheit. Als ich bei Mondschein im Walde umherschweifte, traf ich auf diese Feinde. Sie stürzten sich auf mich und nachdem sie mir zahlreiche Wunden beigebracht hatten, welche mich für jetzt weder tödteten, noch unfähig zum Gehen machten, zwangen sie mich, auf ihrem Rückzuge mit ihnen gleichen Schritt zu halten. Es sind einige Stunden vergangen, seitdem die Bande eingeholt und mir meine Freiheit wiedergegeben worden ist. Die Mühseligkeiten und weiteren Wunden, welche mir in dem Augenblicke beigebracht wurden, als man die Feinde überfiel und erschlug, haben mich in meinen jetzigen Zustand versetzt. Ich freue mich, daß meine Laufbahn bald zu Ende gehen wird.«

Hier wurde er durch das lärmende Eintreten des Trupps unterbrochen, der ihn hierher gebracht hatte. Ihr Erstaunen, als sie sahen, wie ich den Kopf des Sterbenden unterstützte, ist leicht zu begreifen. In noch höherem Grade wurde ihre Verwunderung durch das Verschwinden des Gefangenen erregt, den sie an Händen und Füßen gebunden zurückgelassen hatten, es ergab sich jetzt, daß von der ganzen feindlichen Bande, welche sich zum Zwecke des Plünderns und Blutvergießens so weit gewagt hatte, Alle bis auf zwei getödtet worden waren, welche sie als Gefangene hierher brachten. Bei ihrer Ankunft im Hause war Einer von dem Trupp zu Walton geschickt worden, um Sarsefield zum Beistand für die Verwundeten herbeizurufen, während die Anderen fortgingen, um Stricke zur Fesselung der Arme und Beine der Gefangenen zu suchen, die bis jetzt nur unvollkommen geknebelt worden waren.

Die Stricke wurden gebracht und Einer von ihnen gebunden. Aber der Zweite zerriß, ehe das Nämliche mit ihm vorgenommen wurde, durch eine gewaltsame Anstrengung die schwachen Banden, die ihn fesselten, ergriff eine Muskete, die in seiner Nähe lag, schoß auf seine Feinde und stürzte dann zur Thür hinaus. Alle machten sich eifrig an seine Verfolgung – der Wilde war schnellfüßig wie ein Reh und entkam endlich seinen Verfolgern.

Während ihre Aufmerksamkeit auf diese Weise in Anspruch genommen war, fand der Zurückgebliebene Mittel, seine Hände und Fußgelenke aus den Fesseln zu ziehen, stieg die Treppe hinauf und entsprang, wie ich es früher beschrieben habe, durch das Fenster des Zimmers, in welchem ich mich befand.

Sie peinigten mich mit ihrer Neugier und Verwunderung, denn ich war ihnen Allen bekannt, aber ich lehnte jede Besprechung meiner eigenen Angelegenheiten ab und bat sie um ihren Beistand, um Clithero nach dem Zimmer und auf das Bett zu bringen, das ich bis jetzt eingenommen hatte. Jetzt machte ich mich trotz Schmerz, Ermüdung und Wachsamkeit nach dem Hause Walton's auf den Weg. Sarsefield stand an der Thüre bereit, mich zu empfangen und die Familie bot ihre Freundlichkeit und ihr Mitgefühl für mich auf. Ich wurde in ein Zimmer geführt und mit geeigneter Pflege und Arzenei versehen.

Ich vergaß den noch beklagenswertheren Zustand Clithero's nicht und sann unaufhörlich über die Mittel nach, ihm Erleichterung zu verschaffen. Er bedurfte der ganzen Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit eines Arztes, und Sarsefield war der einzige, diesem Berufe Angehörige, von welchem zur rechten Zeit Beistand geleistet werden konnte – Sarsefield mußte daher bewogen werden, Hülfe zu leisten.

Es gab nur zwei Arten, seinen Abscheu gegen diesen Mann zu überwinden – entweder meinem Freunde die Ueberzeugung von der Unschuld Clithero's beizubringen oder ihn durch ein Bild seiner Reue und seiner Leiden zum Mitleid zu bewegen – Letzteres konnte am besten und der Wahrheit am angemessensten durch eine einfache Erzählung des Vorgefallenen und durch die Mittheilung der Beichte, welche ich Clithero entrissen hatte, geschehen.

Ich bat alle Anwesenden, bis auf meinen Freund, das Zimmer zu verlassen. Dann flehte ich ihn an, mir geduldig Gehör zu schenken, und fing die Erzählung mit dem Tode Waldegrave's an, theilte ihm das Auffinden Clithero's im Schatten der Ulmen mit – den Verdacht, der auf diese Art geweckt worden war, und das Zusammentreffen im Walde, welches diesen Verdacht herbeiführte – dann wiederholte ich ohne Abänderung oder Hinzufügung die Geschichte, welche mir damals erzählt worden war – ferner erzählte ich ihm meine späteren Handlungen in Norwalk, soweit sie zur Aufklärung des Schicksals Clithero's dienten.

Bei dieser Erzählung richtete ich die Augen auf das Gesicht Sarsefield's und beobachtete jedes Gefühl, welches erwachte oder erlosch. Beim Fortschreiten meiner Erzählung nahmen seine Entrüstung und sein Zorn ab und machten endlich dem Schauder und dem Mitleid Platz.

Er bewegte sich unruhig auf seinem Stuhle hin und her – seine Pulse schlugen mit neuer Heftigkeit. Als ich zu den Beweggründen kam, welche den Unglücklichen angetrieben hatten, das Gemach seiner Herrin aufzusuchen, sprang er auf, schritt einmal unruhig im Zimmer auf und ab und stellte sich dann wieder vor mich, wobei sein Athem durch seine tiefe Aufmerksamkeit fast zum Stocken gebracht wurde. Als ich von dem geschwungenen Dolche, dem Schrei hinter ihm und der Erscheinung, welche sich eingemischt hatte, sprach, schauderte er und fuhr zurück, als ob ein Dolch gegen seine Brust gezückt worden wäre. Als die Erzählung zu Ende war, verfloß einige Zeit in tiefem, beiderseitigen Schweigen. Die Gedanken meines Freundes waren in tiefes, unerklärliches Sinnen aufgelöst – endlich kam er aus diesem wieder zu sich und sprach:

»Eine solche Erzählung kann allerdings nie die Frucht des Erfindungsgeistes sein oder erfunden werden, um zu hintergehen. Er hat sich keine Gerechtigkeit widerfahren lassen; sein Ruf war fleckenlos und gut; seine ganzen moralischen Eigenschaften schienen sich in Dankbarkeit, Treue und Ehrenhaftigkeit aufgelöst zu haben.

Wir trennten uns spät am Abend an der Thür und er hat richtig errathen, daß mich das spätere Nachdenken veranlaßte, zurückzukehren und Mrs. Lorimer die Wahrheit mitzutheilen. Clarissa war durch den plötzlichen Tod ihrer Freundin befreit worden und kam, unerwartet für Alle, in der nämlichen Stunde an.

Diese Nachrichten erfüllten Mrs. Lorimer mit Erstaunen, Betrübniß und Freude. Der Tod ihres Bruders war lange Zeit von jedem Andern, wie von ihr geglaubt worden; es gewährte ihr den schönsten Trost, den sie jemals finden konnte, daß sie ihre Zweifel bestätigt sah und Gewißheit von seinem Leben erhielt. Die Beweise, welche er von der Fortdauer seiner Verworfenheit gab, betrübten sie, aber sie fürchtete von seiner Bosheit und Rachsucht keine Gefahr für sich.

Die Unwissenheit und Voreingenommenheit dieser Frau waren merkwürdig; nur in dieser Beziehung zeigte sie sich verblendet, trotzig und hartnäckig. Ihre Besorgniß, diesem Erzbösewicht Gutes zu erweisen, nahm alle ihre Gedanken in Anspruch und ließ ihr keine Zeit, über die Vernunftgründe und Vorstellungen Anderer nachzudenken. Sie war nicht zu bewegen, sich vor seinem Besuche verleugnen zu lassen und ich trennte mich in der größten Verlegenheit von ihr.

Um Mitternacht kam ein Bote zu mir, der mich aufforderte, augenblicklich zu kommen – es hatte sich ein Unglück zugetragen, aber von welcher Art konnte er nicht sagen. Meine Befürchtungen beschworen sogleich das Bild Wiatte's herauf; das Entsetzen erlaubte mir kaum zu athmen. Als ich im Hause der Mrs. Lorimer ankam, wurde ich in ihr Zimmer geführt. Sie lag in einem Zustande der Betäubung auf dem Bett, der von einer geistigen Ursache herrührte. Clarissa saß händeringend und unaufhörlich weinend neben ihr. Niemand konnte mir die Veranlassung der Scene erklären. Ich fragte die Diener und die Kammermädchen – sie sagten nur, die Familie habe sich wie gewöhnlich zu Bett begeben, aber die Klingel ihrer Herrin sei mit großer Heftigkeit in Bewegung gesetzt worden und habe sie schleunig in ihr Zimmer gerufen, wo sie dieselbe ohnmächtig an der Erde und die junge Dame in der größten Verwirrung und Furcht gefunden hätten.

Nachdem man angemessene Mittel angewendet hatte, war Mrs. Lorimer endlich zu sich gekommen, blieb aber noch immer fast unempfindlich. Ich ging nach dem Zimmer Clithero's, aber er war nicht zu finden und die Dienerschaft sagte mir, daß er noch nicht wieder zurückgekehrt sei, seitdem er sich mit mir entfernt hatte. Die Thüren zwischen diesem Zimmer und dem Hofe standen offen: ich folgerte hieraus unvermeidlich, daß ein furchtbares Zusammentreffen vielleicht mit Wiatte stattgefunden habe. Er hatte sich jedoch wieder entfernt, ohne Jemandem persönlichen Schaden zuzufügen.

Ich brauche nicht von meinen Gedanken über diesen Vorfall zu sprechen. Quälende Zweifel und Spannung erfüllten mich, bis der Morgen anbrach und ich die Nachricht erhielt, daß Wiatte auf der Straße getödtet worden sei. Dieses Ereigniß war demjenigen vorausgegangen, welches die Unruhe und das Unglück der Mrs. Lorimer herbeigeführt hatte. Ich erinnerte mich jetzt des unglücklichen Vorurtheils, von welchem sie beherrscht wurde, und ihrer wahnsinnigen Ueberzeugung, daß ihr Tod und der ihres Bruders zu gleicher Zeit stattfinden würde. Konnte ihr nicht ein Zeuge seines Todes die Nachricht davon gebracht haben? War er unerwartet und unbefugt in ihr Zimmer gedrungen und hatte seine Nachricht diese Folgen herbeigeführt?

Jetzt wußte ich nicht allein, daß Wiatte todt sei, sondern auch, daß Clithero ihn getödtet habe. Man hatte Clithero nicht zurückkehren sehen und er war nirgends zu finden. Er war also der Ueberbringer dieser Nachricht – denn außer ihm konnte Niemand ein- oder ausgegangen sein, ohne die Dienerschaft zu stören.

Diese Zweifel wurden endlich gelöst. Die entsetzliche, überwältigende Wahrheit wurde nur abgebrochen und verwirrt und nach Verlauf einiger Tage mitgetheilt. Mrs. Lorimer und ihre Tochter waren nach unserem Beisammensein in das nämliche Zimmer schlafen gegangen. Die Erstere hatte sich in ihr Boudoir und Letztere in ihr Bett begeben. Das Eintreten eines Menschen beunruhigte Mrs. Lorimer und als sie nach kurzem Zögern hervorkam, bot sich ihr das Schauspiel dar, welches Clithero nur zu treu beschrieben hatte.

Was sollte ich glauben? Die einzigen Vermuthungen, welche ich aufstellen konnte, waren ein Leben fortgesetzter Heuchelei oder der plötzliche Verlust des Verstandes. Clithero weckte in meinem Herzen Zorn und Abscheu; in beiden Fällen entsetzte ich mich bei dem Namen – ich schauderte bei dem Bilde des Treulosen oder des Wahnsinnigen.

Wie! Er tödtete den Bruder, dessen Dasein an das seiner Wohlthäterin und Freundin geknüpft war! Dann eilte er in ihr Zimmer und strebte ihr nach dem Leben!. – Er schwang den Dolch, um diejenige zu vernichten, welche die Urheberin seines Daseins und seines Glückes gewesen war!

Derjenige, welcher eine solche That unternehmen konnte, war kein Mensch mehr – ein Sendling der Hölle hatte sich seiner Geisteskräfte bemächtigt – er war das Werkzeug satyrischer Bosheit geworden und einem Jeden lag die Pflicht ob, sich gegen ihn zu erheben und nicht eher zu ruhen, bis er zu Atomen zerschmettert und ihm die Macht zu schaden genommen war.

Alle Nachforschungen nach seinem Zufluchtsort blieben vergebens. Mir erschien es nicht wunderbar, daß er sich in undurchdringliches Geheimniß hüllte – daß er mitten in seiner Laufbahn gehemmt, niedergeworfen und in seinen Absichten verhindert in die Dunkelheit zurücktrat – daß er vor der Gerechtigkeit und Vergeltung floh – daß er es nicht wagte, den Vorwürfen jenes Auges entgegen zu treten, das stets unwiderstehlich gewesen war, mochte es nun in Zärtlichkeit zufließen oder Verachtung blitzen.

Aber wie soll ich den Zustand der Mrs. Lorimer beschreiben? Sie hatte Clithero von seiner Kindheit an geliebt, er war die Stütze, der Trost, der Stolz ihres Lebens gewesen. Seine bevorstehende Verbindung mit ihrer Tochter machte ihn ihr nur noch theurer. Ihre Beredtsamkeit vermied nie, sich über seine Reinheit und Redlichkeit auszusprechen. Es war kein Wunder, daß sie an diesem Thema Freude fand, denn es war ihr Werk – seine Tugenden die Schöpfungen ihrer Güte.

Wie schwer war dieser traurige Umschlag zu ertragen! Sie kann ruhig werden, aber sie wird nie wieder glücklich sein; um das Andenken an ihn in ihr zu verwischen, bewog ich sie, ihr Vaterland zu verlassen, das tausend Erinnerungen an vergangene Leiden enthielt und mit schnellen Schritten in ewige Unruhe stürzte. Clarissa hat uns begleitet und die Zeit wird vielleicht durch sie das Glück Anderer herbeiführen, obgleich sie die Trauer ihrer Mutter nie verscheuchen kann.

Ich habe Ihre Erzählung nicht ohne Mitleid angehört. Was verlangen Sie, das ich thun soll? Eine Verlängerung seines Lebens würde nur eine Fortdauer seines Elends zur Folge haben.

Meine Gattin kann ihn nie mit freundlichen Augen ansehen – Clarissa ist nie im Stande, ohne Schauder an ihn zu denken. Für gewöhnliche Uebel fehlt es nicht an weniger bittern Mitteln wie der Tod, aber hier sind alle vergeblich. Das Bewußtsein selbst ist die Krankheit – die Pest, von welcher nur der geheilt wird, welcher aufhört, zu denken.«

Ich konnte nicht umhin, diesem traurigen Schlusse beizustimmen, aber konnten die Irrthümer Clithero's nicht aufgeklärt werden, wenn auch der Tod für ihn besser war wie das Leben. Euphemia Lorimer war gegen sein Erwarten noch am Leben. Er bildete sich ein, daß sie todt sei, und glaubte, daß aus diesem Tode tausend Uebel hervorgingen – dieser Tod und seine schlimmen Folgen erfüllten seine Phantasie und erhöhten die Schärfe seiner Gewissensbisse – war es nicht unsere Pflicht, diesen Irrthum zu berichtigen?

Sarsefield stimmte der Wahrheit meiner Gründe in dieser Beziehung widerstrebend bei. Er willigte ein, zurückzukehren und dem Sterbenden den Trost zu gewähren, ihm zu sagen, daß das Wesen, welches er als Wohlthäterin und Mutter verehrte, durch seine Handlung nicht des Lebens beraubt worden sei, obgleich sie ihr den Frieden entrissen hatte.

Während der Abwesenheit Sarsefield's war mein Geist mit der Ueberlegung der Ereignisse, die sich eben zugetragen hatten, beschäftigt. Ich sann über die letzten Worte Clithero's nach; in seiner Erzählung fand sich etwas, was dunkel und ein Widerspruch war. Er hatte das Manuscript auf welches er mit so großem Rechte so hohen Werth setzte, in seinem Kasten zurückgelassen; er trat während meiner Abwesenheit in das Zimmer und fand den Kasten aufgebrochen und das Manuscript verschwunden. Ich hatte den Kasten geöffnet, aber das Manuscript, von welchem er glaubte, daß es darin enthalten sei, war unter der Ulme vergraben. Wie sollte Clithero mit seinem Schatze unbekannt sein, da ihm kein Anderer wie er dieses Grab bereitet haben konnte.

Das Geheimniß klärte sich auf, wenn ich an die Geschichte meines eigenen Manuscriptes dachte. Clithero hatte seinen Schatz eigenhändig vergraben, wie der meine von mir selbst verborgen worden war; aber beide Handlungen waren im Schlafen vollbracht worden – die Handlung wurde weder durch den Willen desjenigen, der sie vollbrachte, herbeigeführt, noch von seinen Sinnen bemerkt. Wie betrübend und demüthigend ist der Zustand des Menschen! Seine eigenen Hände häufen die Massen von Jammer und Irrthum auf, welche seine Schritte fortwährend umgiebt.

So verhielt es sich mit Deinem Freunde. Ich wanderte, von Phantomen getrieben, die zu verworren waren, als daß ich mich ihrer jetzt erinnern könnte, aus meinem Zimmer in die Wildniß, vertiefte mich in eine unbesuchte Höhle und drang mit Leichtigkeit vor, bis ich den Rand einer Grube erreichte; dort that ich einen Fehltritt und stürzte in den Abgrund hinab, der Fall raubte mir die Besinnung und ich blieb den Rest der Nacht und den folgenden Tag über regungslos liegen.

Wie wenig Kenntniß haben die Menschen von den Handlungen und Beweggründen eines Anderen! Wie vollständig ist unsere Blindheit in Bezug auf unsere eigenen Thaten! Wer würde mich im Schooße dieser Berge gesucht haben? Es hätten Jahrhunderte vergehen können, ehe meine Gebeine in diesem Grabe von einem Forscher gefunden worden wären, den die Neugier angetrieben hätte, es zu untersuchen.

Aus diesem Sinnen wurde ich durch die Rückkehr Sarsefield's geweckt. Als ich nach dem Zustand Clithero's fragte, antwortete er, daß der Unglückliche besinnungslos sei, aber daß es ungeachtet der zahlreichen und furchtbaren Wunden an verschiedenen Stellen seines Körpers möglich wäre, daß er genesen könne, wenn er sich der gehörigen Behandlung unterwerfe.

Durch diese Nachricht ermuthigt, bemühte ich mich, das Mitleiden und die Thätigkeit meines Freundes für Clithero zu erwecken. Er bebte mit unwillkürlichem Schauder vor jeder Nothwendigkeit zurück, welche ihn an die Nähe dieses Menschen fesseln würde. Er sagte, die Zeit und das Nachdenken könnten vielleicht andere Gedanken und Empfindungen herbeiführen, aber für jetzt müsse er diesen Menschen nur für einen Wahnsinnigen halten, dessen Krankheit unheilbar sei und dessen Dasein nur zum Unglück Anderer und zu seinem eigenen verlängert werden könne.

Da ich ihn unerschütterlich abgeneigt gegen jeden Plan für das Wohlergehen Clithero's fand, so fing ich an zu glauben, daß sein Beistand als Arzt keineswegs nothwendig sei. Er hatte erklärt, daß der Leidende weiter nichts brauche wie die gewöhnliche Behandlung und hierzu war die Geschicklichkeit von zwanzig alten Weibern in dieser Gegend, welche Mittel besaßen, die im Walde gesammelt wurden und welche die indianischen Aerzte seit undenklichen Zeiten mitgetheilt hatten, ausreichend. Diese Weiber waren in ihrer Barmherzigkeit bereitwillig und gefällig und keine von ihnen durch die Bekanntschaft mit der wahren Geschichte des Leidenden gegen ihn vorgenommen.

Sarsefield verlangte inzwischen ungeduldig, daß ich nach der Wohnung Inglefield's geschafft werden sollte, und dieser ehrwürdige Freund wünschte nicht weniger ungeduldig, mich zu empfangen. Meine Verletzung war oberflächlich und meine Kräfte wurden durch die Ruhe einer Nacht hinlänglich wieder hergestellt. Ich begab mich am folgenden Tage dorthin und überließ Clithero der Obhut seiner näheren Nachbarn.

Die Geschäfte zwangen Sarsefield, seine Reise nach Virginien, von welcher er ein wenig abgewichen war, um Solebury zu besuchen, wieder fortzusetzen. Er beabsichtigte, vor Ablauf eines Monats zurückzukehren und mich dann mit nach New-York zu nehmen. Er hat mich mit väterlicher Zärtlichkeit behandelt und forderte das Recht, mein Interesse zu bewahren, als ob er mein wirklicher Vater wäre. Diese Absichten sind inzwischen Inglefield mitgetheilt worden und bei diesem sollte ich bis zu seiner Rückkehr mit meinen Schwestern bleiben.

Meine Gedanken sind geschäftig und stürmisch gewesen – sie haben sich mit Dir, mit Weymouth und besonders mit Clithero beschäftigt. Letzterer erschien mir, als er mit Blut befleckt und durch Hunger, Anstrengung und Blutverlust erschöpft war, in einem viel gefährlicheren Zustande wie die Folge zeigte. Ich wurde pünktlich von seiner Heilung benachrichtigt und beabsichtigte, ihm in einigen Tagen einen Besuch zu machen. Die Pflicht, ihm die Wahrheit in Bezug auf den gegenwärtigen Zustand der Mrs. Lorimer mitzutheilen, war mir zugefallen. Ich hoffte, durch die Mittheilung dieser Nachricht die glücklichste Veränderung in seinen Gefühlen hervorzubringen und bereitete mich daher mit Freuden auf ein Zusammentreffen vor.

Ich sollte in dieser Hoffnung getäuscht werden. Am Morgen, wo ich diese Mittheilung beabsichtigte, kam ein Bote von dem Hause, in welchem er gepflegt wurde und benachrichtigte uns, daß die Familie beim Eintritt in das Zimmer des Kranken dasselbe verlassen gefunden habe. Clithero war dem Anscheine nach während der Nacht aus dem Bett aufgestanden und heimlich fortgegangen. Es ist seitdem keine Spur von seiner Flucht aufgefunden worden.

Aber, o meine Freundin! Der Tod Waldegrave's, Deines Bruders, ist endlich von seiner Ungewißheit und dem Geheimniß befreit! Ich war bis jetzt nicht im Stande gewesen, eine Vermuthung darüber aufzustellen, aber die Lösung fand sich nach kurzer Zeit.

Die Königin Mab wurde drei Tage nach meinem Abenteuer auf den Verdacht hin, daß sie ihren Landsleuten bei ihren letzten Verheerungen Beistand und Rath geleistet hatte, in ihrer Hütte ergriffen. Sie ließ sich durch die Behandlung, die ihr zu Theil wurde, nicht einschüchtern, sondern gestand bald und triumphirend das von ihr angerichtete Unheil und rechtfertigte es durch Aufzählung der Verletzungen, die ihr von ihren Nachbarn zugefügt worden seien.

Diese Verletzungen bestanden in geringschätziger oder nachlässiger Behandlung oder in der Zurückweisung unbegründeter oder thörichter Forderungen. Die Bewohner von Chetasco waren weniger gefällig zur Befriedigung ihrer Laune wie die von Solebury und ihr Geist brütete lange Zeit über Racheplänen. Sie wurde mürrisch, jähzornig und verbrachte mehr von ihrer Zeit in der Einsamkeit wie vorher.

Eine Bande ihrer Landsleute besuchte endlich ihre Hütte. Da sie feindselige Absichten hatten, so verbargen sie den Bewohnern ihre Gegenwart in diesem Theile des Landes. Irgend ein Grund veranlaßte sie, sich zu entfernen und für jetzt die Gewaltthaten aufzuschieben, welche sie vorhatten. Einer von ihnen, der blutdürstiger und kühner war wie die Uebrigen, wollte sich jedoch nicht ohne eine Befriedigung seiner Nachgier entfernen: er verließ seine Gefährten und drang bei Nacht mit der Absicht, das erste menschliche Wesen, welches er antreffen würde, anzugreifen, in Solebury ein. Es war Deinem unglücklichen Bruder vom Schicksale bestimmt, daß er diesem Bösewicht begegnen mußte, den seine Schlauheit bewog, sich des Mitnehmens der gewöhnlichen Trophäe von dem Todten zu enthalten, damit er keinen Grund zu einem Argwohn gegen den Urheber der That gebe.

Nachdem er durch diese That befriedigt war, vereinigte er sich wieder mit seinen Gefährten und kehrte nach einem Zeitraume von drei Wochen mit einer zahlreichen Bande zurück, um ausgedehntere Vernichtungspläne auszuführen. Sie wurden bei allen ihren Bewegungen von der Königin Mab durch Rath und Leitung unterstützt und sie setzte jetzt alle Einzelheiten auseinander und bot ihren Bedrückern kühn Trotz. Ihre gewöhnliche Hartnäckigkeit und Bethörung veranlaßte sie, in ihrer alten Wohnung zu bleiben und sich bereit zu halten, die Folgen zu tragen.

Diese Enthüllungen weckten die ganze Betrübniß und den Schmerz, welche dieses Unglück hervorgerufen hatte, aufs Neue. Sie haben jedoch einiges Gute gestiftet; der Verdacht und die Zweifel, welche meine Seele peinigten und Unschuldige verletzten, sind jetzt zu Ende. Ebenso gewährt der Gedanke, daß der Mörder selbst und wahrscheinlich durch meine eigene Hand getödtet worden ist, einen unvollkommenen Trost. Derjenige, welcher das Blut vergossen hat, lebt nicht mehr, um seine Absichten weiter zu verfolgen, und die Gerechtigkeit ist befriedigt.

So habe ich mein Versprechen erfüllt, Dir eine genaue Erzählung meiner Leiden zu geben. Ich erinnerte mich meiner Pflicht gegen Dich und sobald ich im Stande war, die Feder zu halten, benutzte ich dieselbe dazu, Dich von meinem Wohlsein zu benachrichtigen. Ich konnte damals nicht auf Einzelheiten eingehen, sondern behielt mir eine ausführliche Erzählung bis zu der Zeit stärkerer Gesundheit und größerer Muße vor.

Wenn ich zurückblicke, erstaune ich über die Ausdehnung, welche meine Geschichte erhalten hat; ich glaubte, daß einige Tage genügen würden, um sie zu vollenden, aber unmerklich ist eine Seite zu der andern gekommen, bis ich Wochen verwendet und Bände gefüllt habe. Hier will ich schließen. Ich will Dir schicken, was ich geschrieben habe, und persönlich meine anderen unmittelbaren Angelegenheiten und meine Pläne für die Zukunft besprechen. Sobald ich Sarsefield gesehen habe, werde ich Dich besuchen. – Lebe wohl.

Solebury, 10. November.        E. H.

 



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