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Zweiter Band.

Erstes Kapitel.


Ich drang mit diesem Entschlusse hinein. Der Eingang war niedrig und zwang mich, auf Händen und Füßen vorwärts zu kriechen. Einige Schritte von der Mündung verschwand das Licht und ich fand mich in der schwärzesten Finsterniß. Wenn ich nicht überzeugt gewesen wäre, daß ein Anderer vor mir hineingegangen sei, so würde ich den Versuch aufgegeben haben. Ich drang mit der größten Vorsicht ein, indem ich mich stets durch meine ausgestreckten Arme von der Höhe und Breite der vor mir liegenden Aushöhlung überzeugte. Nach kurzer Zeit dehnte sich der Raum auf allen Seiten aus und erlaubte mir wieder zu gehen.

Ich ging auf einem glatten Sandabhange. Nach kurzer Zeit trat die Wand auf der einen Seite und die Decke außer meinen Bereich zurück. Ich fing an, zu fürchten, daß ich mich in ein Labyrinth verirren und verhindert werden könne, zurückzukehren. Um dieser Gefahr zu entgehen, war es erforderlich, daß ich mich an die nächste Wand hielt und der Richtung folgte, welche sie einschlagen würde, um durch die greifbare Dunkelheit zu irren. Ich hielt dies für keine passende Gelegenheit, zu untersuchen, ob die Decke hoch oder niedrig, die gegenüberliegende Wand des Ganges fern oder nahe sei.

Nach kurzer Zeit wurde mein Fortschreiten durch eine plötzliche Senkung gehemmt. Ich setzte den vordringenden Fuß vorsichtig nieder, da ich wußte, daß ich im folgenden Augenblick auf eine grundlose Grube stoßen könne. Am Rande einer solchen schien ich jetzt angekommen zu sein und streckte die Hand vorwärts und abwärts, griff aber überall in die Leere.

Hier war es nothwendig, Halt zu machen. Ich hatte den Rand eines Abgrundes erreicht, dessen Tiefe unmöglich zu ergründen war, sie konnte einige Zoll oder mehrere hundert Fuß außer meinem Bereich sein, ich konnte unverletzt hinabkommen, oder in einen See stürzen, oder auf Felsspitzen in Stücke zerschmettert werden.

Jetzt sah ich mit größerer Deutlichkeit ein, daß es nothwendig sei, mich mit einem Licht zu versehen. Mein erster Gedanke war, umzukehren und mein Unternehmen am folgenden Tage wieder fortzusetzen, da ich aber einmal so weit gedrungen war, so fühlte ich Widerwillen, zurückzuweichen, ohne meinen Zweck auszuspähen. Ich überlegte ferner, daß Clithero unerschrocken in diese Höhle getreten, und gewiß durch einen anderen Eingang, wie denjenigen, zu welchem er hereingekommen war, herausgelangt sei.

Endlich fiel mir ein, daß ich, obgleich ich nicht vorwärts zu gehen im Stande sei, doch vielleicht am Rande dieser Vertiefung weiter gehen könne. Dieser Rand würde ein ebenso sicherer Führer sein, und ebenso gut bei meiner Rückkehr dazu dienen können, wie die Wand, welche ich verlassen mußte.

Tiefe Dunkelheit ist stets die Mutter der Furcht; wer kann in diesem Zustande eine drohende Beschädigung weder bemerken, noch vermeiden, noch abwehren. Ich fing an, eine Abnahme meines Muthes zu fühlen, und setzte mich einige Minuten auf eine Steinmasse, die sich vor mir erhob. Ich befand mich in einer neuen Lage. Die Höhlen, welche ich bisher in dieser Wüste getroffen hatte, wurden größtentheils durch niedrige Felsen gebildet. Es waren mehr oder weniger geräumige Kammern, in welche wenigstens das Zwielicht drang, aber hier schien es, als ob ich von Schranken umgeben sei, die für immer meine Rückkehr zu Luft und Licht verhindern würden.

Ich faßte bald wieder Muth und ging weiter. Mein Weg schien jetzt aufwärts zu führen. Es war mir, als ob ich mich noch immer am Rande eines Abgrundes befinde und als ob auf der anderen Seite Alles öde und leer sei. Ich war eine nicht unbeträchtliche Strecke gegangen, und sagte mir, daß mein Weg bald endigen müsse. Nach kurzer Zeit füllte sich der Raum zur Linken wieder und ich schritt vorsichtig zwischen dem Rande und der Vertiefung und einer vorhängenden Wand weiter, und als sich der Raum zwischen ihm ausdehnte, folgte ich der Wand.

Es war mir nicht unbekannt, daß mein Weg verwickelt und schwierig wieder zurückzuverfolgen sei, je weiter ich vordrang, ich bemühte mich, mir einen lebhaften Begriff des Weges einzuprägen, den ich bereits zurückgelegt hatte, und das Bild der Wand zur Rechten und Linken, so wie des Abgrundes in ihren Aufeinanderfolgen im Gedächtniß zu behalten.

Der Weg, welcher bis jetzt sehr eben gewesen war, wurde nun sehr rauh und steil. Eine erkältende Feuchtigkeit, die Furcht, welche mich erfüllte, die Länge und Schwierigkeit des Pfades, vermehrt durch die zahlreichen Hülfsmittel, zu welchen mich die tiefste Dunkelheit zwang, fingen an, meine Kraft zu überwältigen; ich mußte oft Halt machen und mich durch Ausruhen stärken. Diese Einstellung der Anstrengung war stets von Nutzen, aber sie konnte mich nicht in den Stand setzen, eine endlose Reise zu vollbringen und die Rückkehr war eine kaum weniger schwierige Aufgabe, wie das Vorwärtsschreiten.

Ich blickte eifrig in der Hoffnung vorwärts, daß ich durch einen schwachen Strahl erfreut werden würde, der mir versichern könnte, daß sich meine Anstrengungen ihrem Ende näherten. Endlich erschien dieses günstige Zeichen und ich gelangte in eine Art Kammer, deren eine Seite der Luft den Zugang gestattete und mir einen Theil des bewölkten Himmels erblicken ließ. Dieses Schauspiel hatte noch nie zuvor so köstliche Empfindungen in meiner Brust geweckt, und auch die in die Höhle dringende Luft war unaussprechlich wohlthuend.

Ich fand mich jetzt auf dem Vorsprunge eines Felsens: oben und unten war die Seite des Berges fast senkrecht. Gegenüber befand sich in einer Entfernung von fünfzehn bis zwanzig Schritt ein ähnlicher Berg; in der Tiefe lag eine kalte, schmale, dunkle Schlucht. Der Vorsprung, welcher der Höhle als eine Art Vorzimmer diente, stand mit einem Absatz in Verbindung, der mich, wenn auch nicht ohne Gefahr und Mühe zum Gipfel führte.

Dieser Gipfel war höher, wie irgend einer von denen, die zwischen ihm und dem Flusse lagen. Ein großer Theil dieses Gewühls von Felsen und Abgründen stellte sich den Augen zu gleicher Zeit dar.

Die fruchtbaren Wiesen und Thäler, welche jenseits lagen, der sich dahin schlängelnde Fluß und die Berghänge, welche auf der andern Seite aufstiegen, bildeten einen Theil dieses ausgedehnten Schauspiels. Diese Gegenstände waren zu jeder Zeit geeignet, den Beschauer mit Entzücken zu erfüllen – jetzt wurde mein Genuß durch den Contrast erhöht, welchen dieses helle, heitre Element mit der Düsterkeit bildete, aus welcher ich eben hervorgedrungen war. Ich nahm noch eine höhere Stellung ein und die Grenzen meiner Aussicht waren ausgedehnter wie bei irgend einer, welche ich bisher gefunden hatte.

Ich ging bis an den äußersten Rand des Berges, der, wie ich bemerkte, über eine eben so unzugängliche Felswand und ein eben so tiefes Thal emporragte. Ich veränderte häufig meine Stellung, um dem Schauspiel größere Mannigfaltigkeit zu geben. Endlich wurde es nöthig, zu untersuchen auf welche Weise ich zurückkehren sollte. Ich ging am Rande des Hügels weiter, aber er war auf allen Seiten gleich steil und überall zu hoch, als daß er mir gestattet hätte, herabzuspringen. Da ich fortwährend am Rande blieb, so bemerkte ich, daß er eine kreisrunde Gestalt habe, und mich endlich zu der Stelle zurückführte, von welcher ich ausgegangen war. Dieser Untersuchung zufolge schien es, als ob die Rückkehr mit einem andern Wege wie durch die Höhle unmöglich sei.

Jetzt wendete ich meine Aufmerksamkeit dem inneren Raume zu. Wenn Du Dir eine cylinderförmige Masse denkst, in deren Mitte eine Vertiefung ausgegraben ist, deren Rand dem Aeußeren entspricht, und wenn Du in diese Vertiefung einen zweiten Cylinder setzest, der höher ist, wie seine Umgebung, aber so klein, daß zwischen seinen Seiten und denen der Ausfüllung ein leerer Raum bleibt, so hast Du ein so deutliches Bild von diesem Berge, wie es Worte nur geben können. Der Gipfel bei einem Felsen war rauh und mit Bäumen von ungleichen Wuchse bedeckt, wenn ich diesen Gipfel erreichte, so machte dies meine Rückkehr nicht leichter, aber seine bedeutende Höhe gestattete mir eine weitere Aussicht und bildete vielleicht einen Ort, von wo aus der ganze Horizont zu überblicken war.

Eben so, wie ich dem äußeren Rande des Berges gefolgt war, untersuchte ich jetzt auch den inneren. Endlich erreichte ich eine Stelle, wo die Kluft, welche die beiden Felsen trennte, schmäler war, wie an jedem andren Orte. Auf den ersten Blick schien es, als ob es möglich sei, hinüber zu springen, aber eine genauere Untersuchung zeigte mir, daß der Uebergang unmöglich sei. Die Breite betrug, so weit meine Augen darüber urtheilen konnten, dreißig bis vierzig Fuß. Ich konnte es kaum wagen, herab zu blicken; die Höhe war schwindelnd, und die Wände, welche sich obeneinander näherten, traten unten zurück, so daß sie eine Aehnlichkeit mit einer mächtigen Halle hatten, die durch eine Spalte erleuchtet wurde, welche ein Krampfzucken der Natur im Dache hervorgebracht hatte. Wo ich stand, stieg ein natürlicher Nebel auf, der durch einen Bach hervorgebracht wurde, welcher unten auf dem unebenen Boden dahinbrauste.

Von diesen Gegenständen richtete ich das Augenpaar wieder auf die vor und über mir und auf der gegenüberliegenden Bergseite befindlichen. Ein von oben herabstürzender Bach fiel in eine Höhlung, welche seine eigne Kraft allmählig hervorgebracht zu haben schien. Der Lärm und die Bewegung zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Es lag eine einsame Trostlosigkeit in dem Schauspiel, welche durch die Umstände, unter denen es gesehen wurde, und die Gefahren, welche ich vor kurzer Zeit bestanden hatte, noch erhöht wurde, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte.

Eine Art heiliges, ehrfurchtsvolles Gefühl erfüllte mich in Folge des Bewußtseins vollständiger, tiefer Einsamkeit. Es war zu vermuthen, daß bis jetzt noch kein menschlicher Fuß diesen Ort erreicht habe, daß noch nie ein menschliches Auge auf dieses brausende Wasser gerichtet worden sei. Die ursprünglichen Einwohner hatten keinen Beweggrund, welcher sie in solche Höhlen geführt und veranlaßt hätte, am Rande eines solchen Abgrundes nachzusinnen, und von ihren Nachfolgern stand noch weniger zu erwarten, daß sie hierher gewandert sein sollten. Ich war seit der Erschaffung dieses Welttheiles vermuthlich der Einzige, der so weit von den gewohnten Pfaden der Menschen abschweifte.

Während ich über diese Gedanken nachsann, richtete sich mein Auge auf den schäumenden Bach. Endlich blickte ich auf die Felsen, welche seinen Lauf hemmten und einengten. Ich bewunderte ihre phantastische Gestalt, und ihre endlose Unregelmäßigkeit, und als ich von dem einen zum andern überging, fiel mein Blick endlich wie durch einen zauberhaften Uebergang auf – ein menschliches Gesicht!

Mein Erstaunen war so groß, und meine Gefühle geriethen in einen solchen Tumult, daß ich auf einen Augenblick die gefährliche Natur meiner Stellung vergaß. Ich ließ meinen Fichtenzweig los, der bis jetzt eine meiner Stützen gebildet hatte, und sprang fast von meinem Platze auf; wenn ich mich um eine Kleinigkeit näher befunden hätte, so würde ich über Kopf in den Abgrund gestürzt sein.

Wenn ich ein menschliches Wesen selbst auf der Seite der Kluft getroffen hätte, auf welcher ich mich befand, so würde dies meinen Erwartungen vollständig zuwider gewesen sein; mein Platz hatte keinen andren Zugang, wie den, durch welchen ich gekommen war, und man konnte sich keinen Grund denken, durch welchen Andere veranlaßt werden sollten, diesen Weg zu untersuchen, aber derjenige, welchen ich jetzt erblickte, saß an einem Orte, wohin ihn dem Anscheine nach menschliche Kräfte unmöglich gebracht haben konnten. Aber dies berührte mich im Vergleich zu andern Umständen nur wenig. Dies Gesicht war nicht allein menschlich, sondern ich erkannte auch, trotz der zottigen, wirren Locken und einem Ausdruck melancholischer Wildheit schnell die Züge des entflohenen Clithero.

Ein Blick genügte nicht, mich mit diesem Schauspiel vertraut zu machen. Ich war allerdings zum Theil hierher gekommen, um diesen Mann zu verfolgen, aber ein zufälliges Anhängsel seiner Person, etwas, was auf sie früher, wie sein jetziges Dasein hindeuten konnte, war Alles, was ich zu finden hoffte – daß er lebendig in dieser Weise zufrieden sein, daß er diesen Gipfel erreicht haben sollte, zu welchem der Zugang unmöglich schien, stand kaum innerhalb der Grenzen der Glaubwürdigkeit.

Seine ärmliche, grobe Kleidung war durch Dornen und Gebüsch fast weggerissen. Seine Arme, seine Brust und die Wimpern mit Haaren bewachsen und halb versteckt; in seiner Stellung und seinem Aussehen lag etwas, was mehr, wie eine Verwirrung der Gedanken und Leidenschaften verrieth, seine betrübten, gespenstigen, regungslosen Augen bewiesen nicht allein, daß sein Geist von der Verzweiflung durchwühlt wurde, sondern daß er auch vom Hunger geplagt werde.

Diese Beweise seines Elends durchzuckten mich im tiefsten Herzen; Entsetzen und Schauder erfüllten mich, während ich ihn betrachtete, und ich besaß eine Zeitlang nicht die Kraft, über die Mittel zu seiner Rettung nachzudenken, die zu ergreifen meine Pflicht war. Mein erster Gedanke war, daß ich ihn durch Rufe von meiner Gegenwart benachrichtigen wolle. Ich wußte nicht, welchen Rath oder welchen Trost ich ihm geben, durch welche Worte ich seine Aufmerksamkeit erregen, oder durch welche Gespräche ich seine düstren Leidenschaften beschwichtigen sollte. Obgleich wir uns in solcher Nähe befanden, so war doch die Kluft, welche sich zwischen uns befand, unüberspringlich. Ich konnte nichts thun, wie ihm zurufen.

Meine Ueberraschung und mein Schauer waren noch stark genug, daß sie meiner Stimme einen durchdringenden, gellenden Ton gaben. Die Spalten und Felsen machten meine Worte noch lauter und wiederholten sie, als ich rief:

»Mensch! Clithero!«

Mein Ruf wurde von Erfolg begleitet. Er schüttelte augenblicklich seine Starrheit ab. Er hatte auf den Rücken ausgestreckt, mit auf einen zerklüfteten Vorsprung über sich geöffneten Augen dagelegen, als ob er jeden Augenblick hinabstürzen und ihn zu Atomen zermalmen werde. Jetzt sprang er auf. Er hatte die Stimme gehört, aber nicht bemerkt, aus welcher Gegend sie kam. Er blickte besorgt um sich, als ich wieder sprach, – »hier – ich bin es, der ruft!«

Er blickte auf. Das Erstaunen vereinigte sich jetzt mit jedem anderen furchtbaren Ausdruck seines Gesichts. Er klammerte die Hände in einander und beugte sich vor, wie um sich zu überzeugen, daß derjenige, welcher ihn rief, wirklich vorhanden sei; im folgenden Augenblick trat er zurück, legte die Hände auf die Brust und schlug die Augen zu Boden. Dieses Schweigen konnte nicht gut durch einen Anderen, wie durch mich unterbrochen werden. Ich schickte mich an, wieder zu sprechen; um deutlicher gehört zu werden, trat ich näher an den Rand. Während ich dies that, wendete sich mein Auge nothwendigerweise von ihm ab; als ich eine etwas nähere Stellung eingenommen hatte, sah ich wieder hin, aber – er war verschwunden!

Der Platz, welchen er vor so kurzer Zeit eingenommen hatte, war leer. Ich wurde durch kein Rascheln des Laubes auf seine Entfernung aufmerksam gemacht, oder von dem Wege, auf welchem er entflohen war, benachrichtigt – dieses würde auch durch das Brausen des Wasserfalles übertäubt worden sein. Der Ort, wo er gesessen hatte, befand sich in der Tiefe einer Aushöhlung, deren eine Seite im Rande des Abgrundes ausging, aber die andern waren senkrecht und hingen über. Er war doch gewiß nicht in die Tiefe gesprungen, und doch erschien es unmöglich, daß er in so kurzer Zeit die Felswand erklettert haben könne.

Ich blickte in den Abgrund hinab, aber die Tiefe und die Dunkelheit ließen mir nichts deutlich sehen. Sein Geschrei oder Gestöhn hätte bei dem Lärm des Wassers nicht gehört werden können; dieser Fall hätte ihn augenblicklich vernichten müssen, und daß er gefallen sei, war der einzige Schluß, welchen ich ziehen konnte.

Meine Empfindungen bei diesem Vorfall sind nicht leicht zu beschreiben. Das Bild der Verzweiflung dieses Mannes und der plötzlichen Catastrophe, zu welcher mein unzeitiges Eindringen geführt hatte, erfüllte mich mit Mitleid und Entsetzen. Einige meiner Befürchtungen wurden durch die neue Vermuthung beseitigt, daß es hinter dem Felsen, auf welchem er gelegen hatte, eine Vertiefung geben könne, in welche er hinabgestiegen oder vielleicht verborgen sei. Diese Voraussetzung gewährte mir Trost. Vielleicht hatte sich nicht allein das Schlimme, was ich fürchtete, nicht zugetragen, sondern es war auch eine Erleichterung seines Elends möglich. Wenn ich seine Schritte aufhalten und seine Aufmerksamkeit erregen konnte, so war ich vielleicht im Stande, ihm Stärke zu lehren, oder wenn Worte ohnmächtig und Vorstellungen nutzlos blieben, stumm neben ihm zu sitzen, seine Hand mit Thränen zu befeuchten, mit ihm zu seufzen, ihm das Bild des Mitgefühls zu zeigen, ihm den Trost zu gewähren, daß er glauben dürfte, seine Vergehen würden von Anderen nicht nach so starrem Maßstabe beurtheilt, wie von ihm; daß ihn wenigstens Einer unter seinen Mitmenschen mit Liebe und Mitleid ansah, konnte nicht verfehlen, eine wohlthätige Wirkung zu haben.

Die Gedanken flößten mir neuen Eifer ein. Um meinen Zweck zu erreichen, mußte ich auf die andere Seite gelangen. Ich war jetzt überzeugt, daß dies kein unausführbares Unternehmen sei, da Clithero es bereits vollbracht hatte. Ich machte nochmals die Runde auf dem Berge. Jede Seite desselben war steil und von mächtiger Höhe und die Kluft zeigte sich nirgends so schmal, wie an dieser Stelle. Ich kehrte deshalb hierher zurück und dachte nochmals über die Mittel nach, wie ich wohlbehalten über diesen furchtbaren Spalt gelangen konnte.

Als ich die Augen nach oben warf, bemerkte ich den Baum, an dessen Fuße ich stand. Ich verglich die Breite der Kluft mit der Länge des Stammes und er erschien mir sehr passend für eine Brücke. Er war zum Glück in schräger Richtung gewachsen und würde, wenn er durch eine Axt umgehauen wurde, höchst wahrscheinlich von selbst so fallen, daß er über den Spalt hing. Der Stamm war dick genug, daß er mir Fuß zu fassen gestattete, und mußte es mir möglich machen, die andere Seite ohne Gefahr oder Zeitverlust zu erreichen.

Eine sorgfältigere Untersuchung des Ortes, der Stellung des Baumes und seine Richtung überzeugten mich vollkommen von der Möglichkeit dieses Unternehmens und ich beschloß, es sogleich in's Werk zu setzen. Zu diesem Zwecke mußte ich nach Hause eilen, meine Axt holen und mit der größten Schnelligkeit hierher zurückkehren. Ich schlug meinen früheren Weg ein, trat wieder in den unterirdischen Gang und kehrte langsam an das Tageslicht zurück. Ehe ich meine Wohnung erreichte, war der Abend hereingebrochen und meine ermüdeten Glieder, sowie mein abgematteter Geist nöthigten mich, mein Unternehmen bis zum Morgen aufzuschieben.

Obgleich meine Glieder während der Nacht ruhten, blieben meine Gedanken doch in Thätigkeit. Ich rief mir sorgsam die Lage dieses Berges wieder in das Gedächtniß zurück und war nicht im Stande, zu errathen, durch welche Mittel Clithero auf denselben gelangen konnte. Wenn er nicht zuweilen zu den bewohnten Gegenden zurückkehrte, so war es unmöglich, daß er dem Schicksal entging, vor Hunger zu sterben. Vielleicht hatte er die Absicht, sich hierdurch das Leben zu nehmen, und meine ersten Bemühungen mußten darauf gerichtet sein, diesen erbärmlichen Entschluß zu hintertreiben. Es war vielleicht eine mühsame, langwierige Aufgabe, ihn zu überreden, daß er diesen öden, langwierigen Aufenthalt verließ und alle reinen, wohlwollenden Absichten wurden mittlerweile durch seinen Mangel an Nahrung vereitelt, es erschien mir daher geeignet, Brod mitzunehmen und es ihm vorzulegen. Der Anblick von Lebensmitteln, die Bedürfnisse des Hungers und meine dringenden Bitten konnten ihn vermögen, zu essen, obgleich ihn keine Vorstellungen dazu brachten, in der Entfernung Nahrung aufzusuchen.


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