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Fünftes Kapitel.


Mrs. Lorimer hatte einen Zwillingsbruder. Die Natur hatte Beiden das nämliche Bild aufgedrückt und sie nach demselben Muster geformt. Die Aehnlichkeit zwischen ihnen war bis zu einem fast unglaublich hohen Grade genau, und man hatte sie in ihrer früheren Kindheit fortwährend leicht von einander verwechseln können. Als sie aufwuchsen, schien für einen oberflächlichen Beobachter nichts sie von einander zu unterscheiden, wie die geschlechtlichen Eigenthümlichkeiten. Ein scharfsinniger Beobachter würde unzweifelhaft den wesentlichsten Unterschied gefunden haben – in allen Modificationen der Züge, welche durch Gewohnheiten und Gefühle herbeigeführt werden, gab es keine zwei weniger ähnliche Personen. Die Natur schien sie zum Beispiel für die Richtigkeit jener Theorien bestimmt zu haben, welche alles der Körperbildung und dem Instinkt, und nichts äußeren Umständen zuschreiben; auf welche verschiedene Weise das nämliche Material geformt und zu welchen verschiedenen Zwecken es verwendet werden kann. Vielleicht waren die Grundzüge ihres geistigen Charakters sowie die ihrer Gestalt die gleichen, aber die Kräfte, welche sich bei der einen der Sache der Tugend weihten, wurden bei der anderen gemeinen und schändlichen Zwecken gewidmet.

Arthur Wiatte (so hieß er) war stets der Gegenstand der Liebe seiner Schwester gewesen – so lange er lebte, hörte sie nie auf für die Beförderung seines Glückes zu wirken. Ihre ganze Güte wurde durch einen düstern, unerschütterlichen Haß vergolten. Dieser Mann war eine Ausnahme von allen Regeln, welche uns bei der Beurtheilung der menschlichen Natur leiden; er übertraf an Verderbtheit Alles, was dem Erzfeind der Menschheit zugeschrieben worden ist. Seine Schlechtigkeit kannte keine jener reuigen Unterbrechungen, von denen wie man geglaubt hat, selbst die tiefste Schuld nicht ganz frei ist – er schien an keiner Nahrung wie an dem vollständigen, unverfälschten Bösen Genuß zu finden – er freute sich um so mehr, je tiefer das Elend war, das er herbeigeführt hatte.

Seine Schwester erduldete in Folge dessen, daß sie am meisten im Bereiche seiner Feindseligkeit stand, die schlimmsten Folgen derselben; sie war der Gegenstand, an welchem er seine boshaften Experimente mit der größten Hoffnung auf Ersatz versuchen konnte, da er mit den Mitteln, auf ihr Glück einzuwirken, bekannt war. Da ihre Eltern an Rang und Reichthum hoch standen, so bildete natürlicherweise die Heirath ihrer Tochter den Gegenstand besorgter Aufmerksamkeit. Es giebt kein Ereigniß, von welchem unser Glück und unsere Nutzbarkeit wesentlicher abhingen und bei welchem daher die Freiheit der Wahl und die Anwendung seines eigenen Verstandes weniger beschränkt werden sollten: aber dieser Grundsatz wird in der Regel in gleichem Maße mit der Höhe des Ranges und der Größe des Besitzes mißachtet.

Die Dame traf ihre Wahl selbst, aber sie gehörte zu denen, welche nach einem umfassenden Plane handeln, und wollte sich ihre Entscheidung nicht durch ihre persönliche Neigung vorschreiben lassen; sie hielt das Glück Anderer, wenn es sich auf solche Ansichten gründete, ihrer Berücksichtigung nicht für unwürdig – die Wahl war der Art, daß sie nicht leicht die Billigung der Eltern erlangen konnte, für welche die moralischen Eigenschaften ihres Schwiegersohnes, wenn sie auch nicht ohne alles Gewicht in der Waagschale blieben, doch unter der Rücksicht auf Reichthum und Rang standen.

Der Bruder legte keinen Werth auf etwas Anderes, wie die Mittel zum Luxus und zur Macht, er war erstaunt über die Hartnäckigkeit, welche einen anderen Begriff von Glück hatte, wie er. Liebe und Freundschaft hielt er für grundlos und phantastisch, und glaubte daß diese Täuschung bei verständigen Leuten durch die Erfahrung verbannt werden würde, aber er kannte die beharrliche Anhänglichkeit seiner Schwester für diese Phantome, und daß es das beste Mittel sein werde, sie unglücklich zu machen, wenn er ihr das Gute raubte, das sie versprach. Zu diesem Zwecke setzte er sich das Ziel, ihre Wünsche zu vereiteln. Er fand in der Einfalt und falschen Nachsicht seiner Eltern die mächtigsten Bundesgenossen; er bewog sie dazu, diese Verbindung zu untersagen, die nur ihrer Beistimmung und ihrer Einwilligung, sie mit einem geringen Theile ihres Besitzes auszustatten, bedurfte, um sie völlig wünschenswerth zu machen. Es betraf ihr Glück und das Glück desjenigen, dem sie ihr Herz geschenkt hatte, und es kam ihr daher zu, alle ihre Kräfte zur Vertheidigung desselben aufzubieten, den Einfluß ihres Bruders auf den Geist ihrer Eltern zu schwächen, oder ihn zu vermögen, daß er ihr Fürsprecher wurde. Wenn ich an ihre Geisteskräfte, und an die Vortheile denke, welche anscheinend daraus hervorgehen mußten, daß sie als Tochter und Schwester flehte, so kann ich es kaum glauben, daß ihre Bemühungen fehlschlugen. Ich hätte glauben sollen, daß alle Hindernisse vor ihr weichen sollten, und besonders in einem Falle wie dieser, wo sie alle ihre Kräfte aufgeboten haben mußte, und nie glauben konnte, daß sie genügend gekämpft hätte.

Soviel ist gewiß, daß ihr Schicksal entschieden war; es wurde ihr nicht allein der Gatte ihrer Wahl versagt, sondern ihr auch ein Andrer aufgedrungen, dessen Empfehlungen dem Begriffe jedes andren, wie ihr selbst, nach, unwiderstehlich wurden. Der abgewiesene Geliebte wurde mit jeder möglichen Geringschätzung behandelt; ihr Bruder wendete List und Gewalt an, um seine Ehre, seine Freiheit und selbst sein Leben zu gefährden.

Alle diese Schändlichkeiten machten keinen großen Eindruck auf den Geist der Dame – die Ränke, welche gegen ihre Liebe gesendet wurden, würden ihn zum Wahnsinn getrieben haben, wenn sie nicht alle ihre Kräfte angestrengt hätte, um ihn zu beschwichtigen.

Sie vermochte ihn endlich dazu, sein Vaterland zu verlassen, obgleich sie der Verworfenheit ihres Bruders dadurch nur einen neuen Weg eröffnete. Ihre Eltern starben, ohne etwas von dem Bösen zu ahnen, daß sie angestiftet hatten, aber sie erduldeten eine bittere Vergeltung durch das Verhalten ihres Sohnes. Er war der Liebling und die Stütze eines alten würdigen Hauses, aber seine Handlungen machten seinen Vorfahren nur Schande, und drohten die Ehre ihrer Familie in seiner Person zu Ende zu bringen. Bei ihrem Tode fiel der Stamm ihres Vermögens an ihn. Dieses verschwendete er bald im Spiel und Ausschweifungen und von glänzenden Lastern sank er zu gemeinen herab. Die Bemühungen seiner Schwester ihn wieder zur Tugend zurückzurufen, waren unermüdlich und fruchtlos, und er verwandelte ihre Liebe zu ihm in ein Mittel zur Befriedigung seiner Selbstsucht. Sie urtheilte ganz richtig; es bewies keine Schwäche, daß sie so häufig getäuscht wurde – wenn sie ihren Bruder richtig beurtheilt hätte, so würde sie nicht allein ohne Beispiel, sondern auch im Widerspruch mit der allgemeinen Erfahrung der Menschheit geurtheilt haben. Aber sie konnte nicht unaufhörlich hintergangen werden. Ihre Zärtlichkeit ordnete sich der Gerechtigkeit unter und als ihn seine Laster von dem Spieltische auf die Landstraße führten, als er endlich von den Dienern des Gesetzes ergriffen – als er überwiesen und zur Deportirung verurtheilt wurde, flehte man sie um ihre Fürbitte an; als alle Welt wußte, daß die Gnade einer Bittenden von ihrem Range, ihrem Vermögen und ihrem Charakter gern gewährt werden würde – als der Verbrecher selbst seine Verwandten, Freunde und selbst unbetheiligte Personen, sie um ihre Einmischung anging, blieb ihr Gerechtigkeitssinn unbeugsam. Sie kannte seine unverbesserliche Verworfenheit recht gut, wußte, daß die Verbannung das mildeste Geschick sein werde, welches ihm zustoßen konnte, und daß die Entfernung von alten Schauplätzen und Gefährten der Zustand sei, von welchen seine wahren Freunde am wenigstens zu fürchten hatten.

Als der Erbärmliche die Bitten fruchtlos fand, überließ er sich den Einflüsterungen seiner Bosheit und gelobte, blutige Rache für Ihre Unbeugsamkeit zu nehmen. Das Urtheil wurde in Ausführung gebracht. Der Charakter, von welchen die Ausführung solcher Drohungen zu fürchten war, mußte wirklich ungeheuerlich sein. Die Folge bewies hinsichtlich, daß unsre Befürchtungen in dieser Beziehung begründet waren. Diese Folge lag jedoch noch in weiter Ferne. Man erhielt die Nachricht, daß die Missethäter zu denen er gehörte, auf dem Schiffe, mit welchen sie fortgeschafft werden sollten, eine Meuterei angestiftet hatten, und man sagte, daß er bei dem darauf folgenden Kampfe getödtet worden sei.

Zu den Schlechtigkeiten, denen er sich schuldig machte, gehörte die Verführung einer jungen Dame, deren Herz bei der Entdeckung seiner Treulosigkeit brach. Die Frucht dieses unglücklichen Verkehrs war eine Tochter. Ihre Mutter starb bald nach der Geburt. Ihr Vater kümmerte sich nicht um ihr Schicksal; sie wurde der Pflege einer gemietheten Person übergeben, die zum Glück für das unschuldige Opfer die mütterlichen Pflichten um ihrer selbstwillen erfüllte, und sich durch das Ausbleiben einer vereinbarten Vergütung nicht grausam oder nachlässig machen ließ.

Diese Waise wurde durch die Wohlthätigkeit der Mrs. Lorimer aufgesucht und unter ihren eignen Schutz gestellt. Sie ließ ihr die Behandlung einer Mutter zu Theil werden. Das durch die Gewohnheit verstärkte Band der Verwandtschaft war nicht das Einzige, was sie vereinigte – die Aehnlichkeit mit ihr, welche ihren Bruder in so bedauerlicher Weise gefehlt hatte, fand sich bei seinem Kinde vollständig vor – die Natur schien jeden andern Unterschied zwischen ihnen, wie den des Alters ausgeschlossen zu haben. Dieses geliebte Wesen erregte in ihrem Busen mehr eine mütterliche Sympathie und ihre Seele klammerte sich an das Glück Clarissa's mit größerem Eifer, wie an das ihres Sohnes. Der letztere war nicht allein der Liebe weniger würdig, sondern ihre Trennung verminderte natürlicherweise auch ihr gegenseitiges Vertrauen.

Es war natürlich, daß sie auf das künftige Schicksal Clarissa's Bedacht nahm. Bei solchen Gelegenheiten konnte sie nicht umhin, an die Möglichkeit einer Verbindung zwischen ihrem Sohne und ihrer Nichte zu denken. An diesen Plan knüpften sich bedeutende Vortheile, aber es war eher ein Gegenstand der Hoffnung, wie die Wirklichkeit eines Projectes. Die Umstände, von welchen die Annehmlichkeit dieser Verbindung zuletzt abhing, waren zahlreich und zarter Art. Sie war keineswegs überzeugt, daß ihr Sohn dieses Glückes würdig sein werde, oder ob nicht, wenn er würdig war, seine Neigung an einen anderen Gegenstand fallen konnte. Ebenso zweifelhaft war es, ob es die junge Dame nicht für angemessen halten werde, anders über ihre Zuneigung zu verfügen. Diese Ungewißheit konnte nur durch die Zeit gelöst werden, und sie war inzwischen hauptsächlich nur dafür besorgt, sie tugendhaft und weise zu machen.

Als sie an Jahren vorrückte, wurden die Hoffnungen, welche sie gefaßt hatte, vereitelt. Der Jüngling war nicht frei von bedeutenden Fehlern, außerdem zeigte es sich deutlich, daß die jungen Leute geneigt waren, einander in keinen andern Lichte, wie als Bruder und Schwester zu betrachten. Ihre Absichten waren mir nicht unbekannt, und ich sah, daß die Vereinigung unmöglich sei. Ich stand nahe genug, um den Charakter Clarissa's beurtheilen zu können. Meine Jugend und die Bildung meines Geistes machten mich besonders empfänglich, für weibliche Reize. Ich war ihr Spielgefährte in der Kindheit und ihr Gesellschafter bei den Studien und Unterhaltungen eines reiferen Alters. Man hätte diese Lage vielleicht für gefährlich halten können, aber diese Gefahr wurde durch Umstände verhütet, von denen ich eine Zeit lang kaum etwas ahnte.

Ich war daran gewöhnt, den Rangunterschied für unübersteiglich zu halten. Die Hindernisse, welche sich jedem Wunsche, den ich vielleicht hegen konnte, entgegen stellten, glichen denen der Zeit und des Raumes, und waren von selbst unüberwindlich.

Dies war der Stand der Dinge, ehe wir unsere Reise antraten. Clarissa wurde indirect in unsere Correspondenz eingeschlossen: meine Briefe lagen ihr zur Einsicht vor und ich wurde zuweilen mit einigen glückwünschenden Zeilen von ihrer Hand beehrt. Als ich an meinen alten Aufenthaltsort zurückkehrte, sah ich mich wieder dem düstern Einflusse ausgesetzt, welcher die Abwesenheit wenigstens unterbrochen hatte. Inzwischen waren mehrere Bewerber abgewiesen worden – ihr Charakter war größtentheils der Art gewesen, daß es ihre Weigerung erklärte, ohne daß man Veranlassung zu der Voraussetzung einer feierlichen oder uneingestandenen Liebe gefunden hätte.

Bei unseren Zusammentreffen begrüßte sie mich achtungsvoll aber mit Würde. Ein Beobachter konnte darin nichts entdecken, was nicht der Verschiedenheit des Standes entsprochen hätte, die zwischen uns herrschte. Wenn ihre Freude bei dieser Veranlassung mit ein wenig Zärtlichkeit gemischt war, so konnte, wenn man die Sanftmuth ihres Charakters und die eigenthümlichen Umstände in denen wir uns bewegt hatten, berücksichtigte, selbst der strengste Censor keine Veranlassung zu Tadel oder Verdacht finden.

Es verging ein Jahr, aber nicht ohne daß meine Aufmerksamkeit durch etwas Neues, Unerklärliches in meinen persönlichen Gefühlen in Anspruch genommen worden wäre. Anfangs kannte ich ihre wahre Natur nicht, aber der allmählige Fortschritt meiner Empfindungen ließ mich nicht lange in Zweifel über ihren Ursprung. Ich erschrak über die Entdeckung, aber mein Muth verließ mich nicht sogleich. Meine Hoffnungen schienen augenblicklich zu erlöschen, sobald ich deutlich erkannte, zu welchen Punkte sie führten. Mein Geist hatte eine Veränderung erlitten; die Gedanken welche ihn erfüllten, waren verändert. – Der Anblick Clarissa's oder die Erinnerung an sie, veranlaßte sie unausbleiblich zu der neulich gemachten Entdeckung zurückzukehren und mich den Gedanken zu überlassen, die sich natürlicherweise daran knüpften. Ich fühlte eine heimliche Beklemmung und ein inneres Beben, wenn wir einander zufällig oder ohne Zeugen trafen, aber meine gewohnte Ruhe war bis jetzt noch nicht merklich verringert. Ich konnte es über mich gewinnen, an ihre Heirath mit einem Anderen ohne schmerzliche Empfindung zu denken, und war nur besorgt, daß sie eine verständige und glückliche Wahl treffen möge.

Meine Gedanken konnten nicht lange in diesem Zustande bleiben; sie wurden allmählig feuriger und sinnender. Das Bild Clarissa's kehrte unerfreulich oft zurück; seine Reize wurden durch namenlose, unerklärliche Zuthaten erhöht, und oft, wenn es unterwegs vor mir aufstieg, fühlte ich mich unwiderstehlich angetrieben, stehen zu bleiben und es mit besonderer Aufmerksamkeit zu betrachten. Der pathetische Ausdruck ihrer Züge, die tiefe Gluth ihrer Wangen und ein Bruchstück einer schmelzenden Melodie, die sie vor kurzer Zeit gesungen hatte, drängten sich unaufhörlich meiner Phantasie auf. Wenn ich aus diesen Anfällen des Sinnens wieder erwachte, fand ich zuweilen, daß meine Wangen von unbemerkt gefallenen Thränen naß waren und, daß meine Brust von unwillkürlichen Seufzern wogte.

Diese Bilder begnügten sich nicht damit, meine wachen Stunden zu erfüllen, sondern drängten sich mir auch im Schlafe auf. Ich konnte mich dem Schlummer nicht mehr mit der gleichen Ruhe hingeben, wie früher, und wenn ich schlief, hatten meine Träume den nämlichen leidenschaftlichen Charakter.

Es war nicht schwer, meine Lage richtig zu beurtheilen. Ich wußte, was meine Pflicht von mir forderte; in meiner gegenwärtigen Stellung zu bleiben, war ein phantastischer Plan. Daß die Zeit und das Nachdenken genügen würden, mich mir selbst zurückzugeben, war ein eben so trügerischer Gedanke, aber ich fühlte einen unüberwindlichen Widerwillen, ihn zu ändern. Dieser Widerwillen rührte nicht allein oder hauptsächlich von meiner wachsenden Leidenschaft her, sondern von der Anhänglichkeit, welche mich an den Dienst meiner Gebieterin band. Alle meine Entwürfe hatten sich bisher auf den Glauben gegründet, daß ich lebenslänglich in meiner jetzigen Lage bleiben werde, und meine wildesten Vermuthungen hatten sich nie bis zu einem solchen Ereigniß verstiegen; jedes Unglück war im Vergleich mit dem, welches mich aus ihrer Nähe und aus ihrem Dienste trieb, leicht. Aber wie sollte ich meinen Entschluß zu erkennen geben, wenn ich mich endlich entschloß, fortzugehen? Der Schmerz der Trennung würde auf ihrer Seite kaum geringer gewesen sein, wie auf der meinen. Konnte ich mich dazu bewegen, Veranlassung zur Unruhe für sie zu werden? Ich hatte alle meine Geisteskräfte ihrem Dienste gewidmet. Dies war die Vergeltung, welche ich für die empfangenen Wohlthaten bieten konnte. Würde dieses Verfahren nicht den Anschein der gemeinsten Undankbarkeit gehabt haben? Der Schatten einer solchen Beschuldigung war qualvoller wie die Folterbank.

Welchen Grund für mein Verhalten konnte ich angeben? Die Wahrheit durfte nicht gesagt werden – dies hätte um eine neue Wohlthat bitten heißen, und es kam mir eher zu, meine Verbindlichkeiten zu vermindern, wie sie zu vermehren. Unter allen meinen Gedanken über die Sache kam mir die Möglichkeit einer gegenseitigen Leidenschaft nie in den Sinn. Ich konnte gegen die wesentliche Verschiedenheit, die unter Menschen besteht, nicht blind bleiben – ich konnte mich, wie Andere, über die Kleinigkeit der Orden und Titel und über die Würde, welche sich an Talent und Tugend knüpfen, aussprechen, aber dies waren unzusammenhängende Speculationen und übten keinerlei Einfluß auf den Strom meiner Handlungen und praktischen Gefühle aus.

Ich hielt die Schranke, welche sich mir in dem gegenwärtigen Falle entgegenstellte, für unüberwindlich, darüber herrschte nicht einmal der Schatten eines Zweifels. Wenn ich die Wahrheit aussprach, so hätte man glauben können, daß ich um die Gnade und Vermittlung meiner Gebieterin flehe, aber dies wäre wahnsinnige Anmaßung gewesen. Lieber wollte ich ihr jede andere Meinung beibringen, wie daß ich das Glück aufsuchte, das ich unter ihrem Dache verloren hatte; ich wollte ihrem edlen Herzen die Pein ersparen, welche diese Ueberzeugung unfehlbar wecken mußte.

Ich konnte zu keinem festen Entschlusse kommen. Ich glaubte unerschütterlich von der Nothwendigkeit einer Trennung überzeugt zu sein, und war doch nicht im Stande, meine Absicht auszuführen. Wenn ich meinen Geist zu dem Vorsatze gebracht hatte, mich bei dem nächsten Zusammensein auszusprechen, so war, wenn das nächste Zusammentreffen stattfand, meine Zunge machtlos – ich ergriff jede Entschuldigung, mein Vorhaben aufzuschieben und ließ gern jedem Thema, wie fern es auch meiner Absicht stand, seinen Lauf.

Man darf nicht glauben, daß meine Gesundheit durch diesen Kampf der Gedanken keinen Nachtheil erlitten hätte. Meine Gönnerin bemerkte diese Veränderung; sie fragte mit der liebevollsten Sorgsamkeit nach dem Grunde, aber er war nicht zu erklären. Ich konnte es recht gut leichthin behandeln und es als etwas darstellen, was vermuthlich von selbst verschwinden werde, da es sich ohne genügenden Grund eingestellt habe. Sie mußte sich mit einem unvollständigen Berichte zufrieden geben.

In diesem Zustande der Ungewißheit verfloß ein Tag nach dem anderen. Ich kannte die Gefahren des Zauderns und wußte, daß der Aufschub die Schwierigkeiten vermehrte, ohne die Aufgabe weniger nothwendig zu machen. Endlich faßte ich Muth und forderte eine geheime Unterredung. Sie empfing mich mit ihrer gewohnten Güte. Wir besprachen gewöhnliche Gegenstände, aber sie sah die Verwirrung und das Schwanken meiner Gedanken und verließ dieselben schnell. Dann theilte sie mir mit, was sie bemerkt habe, und sprach von der Besorgniß, welche diese Erscheinungen in ihr hervorgerufen hätten. Sie erinnerte mich an die mütterliche Zuneigung, welche sie mir stets gezeigt habe und forderte mein Herz auf, sich zu fragen, ob etwas zur Entschuldigung der Zurückhaltung vorzusuchen sei, mit welcher ich sie in der letzten Zeit behandelt hätte, und drang in mich, wenn mir an ihrer guten Meinung etwas liege, ihr den Grund einer Niedergeschlagenheit zu erklären, die nur zu sichtbar war.

Auf Alles dies konnte ich nur eine Antwort geben: »halten Sie mich nicht für undankbar oder schlecht. Ich komme eben jetzt, um Ihnen einen Entschluß mitzutheilen, den ich gefaßt habe. Die Ursachen, welche mich zu demselben treiben, kann ich nicht erklären. Es würde unverzeihlich sein, wenn ich in diesem Falle eine Lüge gegen sie aussprechen wollte, und da ich meine wahren Beweggründe nicht darlegen kann, so will ich Sie nicht durch falsche Vorstellungen irre leiten. Ich bin gekommen, um Sie von meinem Entschlusse, Ihren Dienst zu verlassen und mich mit den Früchten Ihrer Güte in mein Heimathsdorf zurückzuziehen, wo ich hoffentlich mein Leben werde in Frieden verbringen können, zu benachrichtigen.«

Ihr Erstaunen bei dieser Erklärung übertraf jede Erwartung, sie konnte ihren Ohren nicht trauen: – sie habe mich nicht richtig verstanden, sie forderte mich auf, es zu wiederholen; ich scherze wohl nur; ich könne nicht meinen, was meine Worte ausdrückten.

Ich versicherte ihr in noch deutlicheren Ausdrücken, daß mein Entschluß gefaßt und unabänderlich sei und bat sie nochmals, mir die schwere Aufgabe zu erlassen, meine Beweggründe anzugeben.

Dies war ein seltsamer Entschluß, was konnte die Veranlassung zu diesem neuen Plane sein? Worin lag die Nothwendigkeit, sie vor ihr zu verbergen? Dieses Geheimniß war nicht zu ertragen; sie war nicht im Stande, darüber hinweg zu gehen; sie hielt es für hart, daß ich sie zu dieser Zeit verlassen wolle, wo sie meines Beistandes und Rathes ganz besonders bedurfte; sie wollte mir nichts verweigern, was meine Stellung angenehm machen konnte; ich sollte ihr nur zeigen, wo sie in ihrem Verhalten gegen mich einen Fehler begangen habe, und sie wolle sich bemühen, ihn wieder gut zu machen. Sie war bereit, meinen Gehalt in jedem Maaße zu erhöhen, wie ich es wünschte. Sie könne nicht daran denken, sich von mir zu trennen, aber jedenfalls müsse sie mit meinen Beweggründen bekannt gemacht werden.

»Die Aufgabe, welche ich mir auferlegt habe, ist schwer,« antwortete ich. »Ich habe die Schwierigkeit derselben voraus gesehen, und dies hat mich bisher verhindert, sie zu unternehmen, aber die Nothwendigkeit, durch welche ich angetrieben werde, läßt keinen längeren Widerstand zu. Ich bin entschlossen, fortzugehen, aber es ist mir unmöglich, zu sagen, warum. Ich hoffe, ich werde mir nicht die Beschuldigung der Undankbarkeit zuziehen, aber diese Anschuldigung muß, obschon sie mir unerträglich ist, wie jede andere, ertragen werden, wenn sie nicht anders, wie durch diese Enthüllung vermieden werden kann.«

»Behalten Sie Ihre Beweggründe für sich,« sagte sie. »Ich habe eine zu gute Meinung von Ihnen, als daß ich glauben könnte, Sie würden mir etwas ohne guten Grund verheimlichen. Ich fordere Sie nur auf, zu bleiben, wo Sie sind. Da Sie mir nicht sagen wollen, warum Sie diesen neuen Plan erfassen, so kann ich nur sagen: es ist unmöglich, daß ein Vortheil darin liegen sollte. Ich wiederhole Ihnen, ich will nichts davon hören; fügen Sie sich daher mit guter Miene in meine Befehle.«

Ich blieb trotz diesem Verbot bei der Erklärung, daß mein Entschluß fest stehe und daß mir die Beweggründe, welche mich leiteten, keine andere Wahl zuließen.

»Sie sind also entschlossen, fortzugehen, mag ich es nun wollen oder nicht? Habe ich keine Macht, Sie zurückzuhalten? Wollen Sie nichts beachten, was ich sagen kann?«

»Glauben Sie mir, Madame, es ist noch nie ein Entschluß nach einem schwereren Kampfe gefaßt worden. Wenn Ihnen meine Beweggründe bekannt wären, so würden Sie nicht allein aufhören, sich ihnen zu widersetzen, sondern sie sogar beschleunigen. Beehren Sie mich so weit mit Ihrer guten Meinung, zu glauben, daß, wenn ich dies sage, die Wahrheit spreche, und machen Sie mir meine Pflicht durch Ihre gütige Zustimmung zu dem Gebote derselben weniger lästig.«

»Ich wollte, ich könnte Jemand finden, der mehr Macht über Sie besitzt, wie ich,« antwortete die Dame. »Wen soll ich bei dieser schwierigen Aufgabe zu meinem Beistand herbeirufen?«

»Nicht doch, theure Lady; wenn ich Ihren Bitten widerstehen kann, so darf gewiß kein anderer Mensch auf Erfolg rechnen.«

»Davon bin ich doch nicht fest überzeugt,« antwortete meine Freundin schelmisch. »Es giebt eine Person, deren Bitten Sie, wie ich stark vermuthe, nicht widerstehen würden.«

»Wen meinen Sie?« fragte ich mit einigem Beben.

»Das werden Sie gleich erfahren. Wenn ich Sie nicht bewegen kann, so werde ich Beistand herbeirufen müssen.«

»Ersparen Sie mir den Schmerz, zu wiederholen, daß mich keine Macht auf Erden von meinem Entschlusse abbringen kann.«

»Das ist eine Lüge!« erwiederte sie mit noch größerer Schelmerei. »Sie wissen es; wenn eine gewisse Person Sie zum Bleiben auffordert, so werden Sie schnell einwilligen. Ich sehe, ich darf nicht hoffen, Sie durch meine eigene Kraft zu bewegen. Das ist ein demüthigender Gedanke, aber wir dürfen uns nicht trennen – dieser Punkt steht fest. Wenn nichts Anderes hilft, so muß ich gehen und meinen Advocaten holen. Warten Sie einen Augenblick.«

Ich hatte kaum Zeit Athem zu holen, ehe sie zurückkam und Clarissa hereinführte. Ich verstand die Bedeutung dieses Vorfalles nicht. Die Dame war von süßer Verwirrung ergriffen – ihre abgewendeten Augen und der zögernde Schritt würden mir den Zweck dieses Zusammentreffens haben erklären können. Ich fühlte die Nothwendigkeit neuer Kraft und bemühte mich, die Beweggründe in das Gedächtniß zurückzurufen, die mich bis jetzt aufrecht erhalten hatten.

»Da,« sagte meine Gönnerin, »ich habe mich bemüht, diesen jungen Mann zu überreden, daß er noch ein wenig länger bei uns bleibt. Wie es scheint, ist er entschlossen, seinen Aufenthaltsort zu verändern; er will nicht sagen, warum, und es liegt mir auch nichts daran, es zu wissen, wenn ich ihm nicht die Grundlosigkeit seiner Beweggründe beweisen kann. Ich habe ihm nur Vorstellungen über die Thorheit seiner Absicht gemacht, aber er hat sich widerspenstig gegen Alles bewiesen, was ich sagen kann. Vielleicht haben Deine Bemühungen besseren Erfolg.«

Clarissa sagte kein Wort und meine eigene Verlegenheit machte mich gleichfalls unfähig zu sprechen. Mrs. Lorimer sah uns Beide eine Zeit lang mit wohlwollender Miene an, ergriff dann jedes von uns bei einer Hand, fügte diese zusammen und fuhr fort:

»Ich weiß recht gut, was diesen Plan hervorgerufen hat. Es ist seltsam, daß Sie mich für eine so gleichgültige Beobachterin halten, daß ich Ihre Lage nicht bemerken oder nicht verstehen sollte. Ich kenne das, was in Ihrem Herzen vorgeht eben so gut, wie Sie, aber warum bemühen Sie sich so eifrig, es zu verbergen? Sie verstehen die Abenteuerlichkeit der Liebe weniger, wie ich vorausgesetzt haben würde, aber ich will nicht mit Ihren Gefühlen spielen. Sie, Clithero, kennen die Wünsche, welche ich einst gehegt habe: ich hatte gehofft, daß mein Sohn in diesem geliebten Kinde einen seiner Wahl würdigen Gegenstand gefunden und mein Mädchen ihn jedem Anderen vorgezogen haben würde, aber ich habe schon lange bemerkt, daß dies nicht sein kann – sie passen in keiner Beziehung zu einander. Dann ist zunächst Eins wünschenswerth, und jetzt sind meine Wünsche in Erfüllung gegangen. Ich sehe, daß Ihr einander liebt, und meiner Ansicht nach hat es noch nie eine verständigere oder mehr gerechtfertigte Liebe gegeben – ich würde mich für das böseste Geschöpf halten, wenn ich nicht Alles, was in meiner Macht steht, zu Eurem Glück beitrüge. Es giebt nicht den Schatten einer Einwendung gegen Eure Vereinigung. Ich kenne Ihre Bedenken, Clithero, und bedaure, zu sehen, daß Sie dieselben auch nur einen Augenblick hegen. Nichts ist Ihres Verstandes unwürdiger. Nehmen Sie mein Wort, junger Mann. Ich habe dieses junge Mädchen schon lange durchschaut und sie steht Ihnen in der Reinheit und Zärtlichkeit ihrer Liebe nicht nach. Wozu bedarf es lästiger Einleitungen? Ich will Euch allein lassen und hoffe, daß Ihr nicht lange Zeit brauchen werdet, um zum gegenseitigen Verständniß zu kommen – Eure Verbindung kann nicht zu bald für meine Wünsche vollzogen werden. Clarissa ist meine einzige geliebte Tochter. Was Sie anbetrifft, Clithero, so erwarten sie fortan von mir die Behandlung, zu welcher Sie nicht allein Ihre eigene Verdienste berechtigen, sondern wie sie dem Gatten meiner Tochter zukommt.«

Nach diesen Worten entfernte sie sich und ließ uns allein beisammen.

Großer Gott! Befreie mich von der Qual dieser Erinnerung! Ein Wesen durch welches ich der Armuth und rohen Unwissenheit entrissen, zu einem gewissen Range in der verständigen Schöpfung erhoben, zu Reichthum und Ehre erzogen und endlich so freiwillig mit Allem begabt wurde, was noch übrig blieb, um die Summe meines Glückes zu vervollständigen – daß ein solches Wesen – aber ich darf noch nicht daran denken – ich muß diese Gedanken verbannen, sonst werde ich nie bei dem Ende meiner Erzählung ankommen. Meine Bemühungen sind bis hierher von Erfolg gekrönt worden – ich bin bis jetzt im Stande gewesen, eine zusammenhängende Erzählung zu geben – die letzten Worte, welche ich spreche, mögen eine Andeutung meiner besseren Tage geben – ich will ohne Beben, die einzige Aufgabe ausführen, die mir noch übrig bleibt.


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