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Viertes Kapitel.


Mein Geist war seit meiner Heimkehr durch Pläne und Nachdenken über Clithero vollständig beschäftigt gewesen. Das von Dir angeregte Project, dem ich meine Stunden zu widmen beschlossen hatte, war vergessen worden, oder ich erinnerte mich seiner nur auf einen Augenblick und nach langer Unterbrechung. Das Wenige, was aus meinem Geiste in wachem Zustande fast ganz verbannt war, trat jedoch in meinen Träumen in unklarer und halb erkennbarer Gestalt auf. Das Bild Waldegrave's zog an mir im Schlafe immer vorüber. Es war mir, als ob das Gefühl, welches mich antrieb, ihn zu besuchen, nicht Liebe oder Wohlgefallen, sondern Unruhe und Zorn sei, – es blieb mir ein Dienst oder irgend eine Pflicht zu leisten übrig – diese halbentrüstete Erscheinung kam, um meinen Eifer anzufachen, meine Erinnerungen zu wecken und mich zur Vollbringung dieser Pflicht anzustacheln.

Ich pflegte zeitig genug zu erwachen, daß ich die erste Morgendämmerung erblickte. Jetzt öffnete ich, vielleicht in Folge meines unruhigen Schlafes, die Augen, noch ehe die Sterne etwas von ihrem Glanze verloren hatten. Dieser Umstand erregte einigermaßen meine Verwunderung, bis die Bilder, die vor Kurzem an meinem Geiste vorübergezogen waren, wieder aufstiegen und das Räthsel einigermaßen lösten. Mit dem Bilde meines ermordeten Freundes erwachte das seiner Schwester. Das Gespräch, welches bei unserm letzten Beisammensein stattgefunden hatte – die Absicht, zu Deinem Gebrauche alle Briefe abzuschreiben, welche ich während seines kurzen aber fleißigen Lebens von ihm erhalten hatte – das Wesen dieses Briefwechsels und die Gelegenheit, diese reichen, kostbaren Denkmale des vernünftigen Daseins und der moralischen Erhabenheit eines Freundes zu betrachten, welche mir diese Beschäftigung gewähren würde, kamen mir in den Sinn.

Der Entschluß, diese Arbeit vorzunehmen, erwachte wieder; die Verpflichtung, Clithero beizustehen, war noch nicht erfüllt – weder Pflicht, noch Neugier gestatteten mir, diese zu übersehen oder aufzuschieben. Aber warum sollte ich diesem Manne meine ganze Aufmerksamkeit und Thätigkeit widmen? Ich konnte die Stunden, welche ich zu Hause und in meinem Zimmer verbrachte, nicht nützlicher anwenden, wie dazu, meine beabsichtigte Abschrift zu machen.

Ich beabsichtigte, mich einige Stunden nach Sonnenaufgang wieder nach den Bergen auf den Weg zu machen; konnte ich die Zeit bis dahin besser anwenden, als daß ich die Briefe meines Freundes durchsah, sie unter den wenigen hervorsuchte, und die zum Abschreiben bereit legte, von welchen ich einen so hohen und doch so trüben Genuß erwartete.

An diese Absicht knüpfte sich ohne einen gewaltsamen Uebergang die Erinnerung an meinen Traum. Diese Erinnerung erfüllte meinen Geist mit einem gewissen Schwanken und Niedergeschlagenheit. – Wenn ich die Briefe abschrieb, so handelte ich den oft wiederholten feierlichen und dringenden Bitten des Verfassers zuwider. Standen diese Absicht und die Umstände meines Traumes in irgend einem Zusammenhang? War mir letzterer gesendet worden, um das Verbot einzuschärfen, welches früher ausgesprochen worden war.

Du bist nicht vollständig mit der geistigen Geschichte Deines Bruders bekannt. Es wird einige Auskunft in dieser Beziehung nöthig sein, um die Natur des Widerwillens, Deine Bitte zu erfüllen, der früher Deine Verwunderung in so hohen Grade erregt hat, zu erklären.

Waldegrave hatte wie andere Menschen, die sich frühzeitig dem Nachdenken und den Büchern hingeben, zu verschiedenen Zeiten verschiedene Meinungssysteme über Dinge angenommen, die mit der Religion und Moral in Verbindung standen. Sein erster Glaube diente dazu, den Eindruck seiner Erziehung zu verwischen – die Nothwendigkeit zur Gottheit zu machen und die Materie zu universalisiren – den angenommenen Unterschied zwischen Seele und Körper zu vernichten und die geglaubte Verbindung zwischen dem moralischen Zustande des Menschen vor und nach dem Tode aufzulösen.

Er hatte diesen Glauben mit der ganzen Fülle der Ueberzeugung ergriffen und mit dem höchsten Eifer ausgebreitet; bald nachdem unsere Freundschaft begonnen hatte, führte uns das Schicksal aus einander und es blieb kein andrer Verkehr wie vermittelst der Feder. Unsere Briefe waren jedoch pünktlich und ausführlich – die Waldegrave's widmeten sich nur zu oft der Vertheidigung seiner Lieblingsgrundsätze.

Du bist mit dem Umschwunge bekannt, welcher später in seinem Geiste stattfand. Als er in den Kreis religiösen Einflusses gestellt wurde und sogleich die Gründe und Ermahnungen Mr. S. anhörte, dessen sanfter Charakter und tadelloses Verhalten eine fühlbare und ununterbrochene Lektion bildeten, nahm er unbewußt den Glauben wieder auf, welchen er aufgegeben hatte, und wurde ein heftiger Gegner Alles dessen, was er früher vertheidigt hatte. Bei diesem neuen Zustand seines Geistes bestand der Hauptzweck seiner Bemühungen in dem Kampfe gegen die Einwirkung seiner früheren Behauptungen auf meinen Geist.

Um diese Zeit trat eine Veränderung in seiner Lage ein, in Folge deren es uns wieder gestattet wurde, unter dem nämlichen Dache zu wohnen; der schriftliche Verkehr hörte jetzt auf und die schlauen, mühseligen Beweisgründe, welche er früher gegen die Religion aufgestellt hatte und die in fester Gestalt vorhanden waren, wurden mit zahlreichen Worten bekämpft. Es lag ihm nicht allein viel daran, die Ansichten zu verdrängen, die er mir früher durch seine Mitwirkung beigebracht hatte, sondern er wünschte auch ernstlich die Bücher und Manuscripte vernichtet zu sehen, die zu der Unterstützung verwendet worden waren. Er fürchtete nicht allein oder hauptsächlich für mich – er glaubte, daß der Einfluß früherer Vorstellungen auf meinen Glauben durch die neuen genügend beseitigt werden würde, aber er war besorgt, daß diese Manuskripte in andere Hände fallen und so ein Unheil herbeiführen würden, das er nicht wieder gut zu machen vermochte. Bei mir war auf das Gift das richtige Gegengift gefolgt, aber Andern würden diese Briefe das Gift mitgetheilt haben, ohne daß das Gegengift hätte gereicht werden können.

Ich wollte mich zu diesem Opfer nicht verstehen. Ich schwor den Glauben, den er in diesen Briefen mit großer Ausführlichkeit und Beredtsamkeit vertheidigt hatte, nicht ganz ab, und außerdem befanden sich unter die abstrakten Raisonnements zahllose Stellen gemischt, welche den Charakter und die Geschichte meines Freundes in ein helleres Licht stellten. Diese waren zu kostbar, als daß sie der Vergessenheit hätten übergeben werden dürfen, und sie aus ihrem gegenwärtigen Zusammenhange und ihrer Ordnung zu reißen, wäre eine Entstellung und Verstümmelung derselben gewesen.

Seine Bitten und Vorstellungen waren dringend und häufig, aber stets wirkungslos. Seine Beweggründe waren zu rein, als daß er über meine Hartnäckigkeit hätte erzürnt werden können, aber sein Bewußtsein der schädlichen Eigenschaften dieser Briefe war so groß, daß ihm meine Unerschütterlichkeit vielen Schmerz machte.

Jetzt war er todt und ich hatte nicht allein beschlossen, diese Andenken aufzubewahren, sondern auch eingewilligt, sie zum Gebrauch einer dritten Person abzuschreiben – für den Gebrauch eines Wesens, dessen zeitliches und ewiges Wohlergehen der Hauptgegenstand seiner Sorgen und Anstrengungen gewesen war. Du bist wie Andere Deines Geschlechts nicht an methaphysische Subtilitäten gewöhnt; Dein Glaube ist die Frucht des Gefühls und nicht der Ueberlegung; Du bist nicht gegen die feinen Gründe, womit das Wesen und die Attribute der Gottheit angegriffen worden sind, gerüstet und voreingenommen; wäre es recht, Dich der Verderbtheit und Befleckung aus dieser Quelle auszusetzen – Deinen Bruder zum Werkzeug Deiner Abtrünnigkeit und zum Urheber Deines Falles zu machen – diesen Bruder, dessen letzte Tage so eifrig der Aufgabe gewidmet gewesen waren, den Geist der Andacht in Deinem Herzen zu pflegen.

Diese Gedanken kehrten jetzt in größerer Stärke wie früher zurück. Ich hatte nicht ohne Widerstreben versprochen, Dir eine vollständige Copie dieser Briefe zukommen zu lassen, aber jetzt schrak ich vor diesem Versprechen zurück. Ich beschloß für Dich nur diejenigen auszuwählen, die erzählend oder beschreibend waren. Dies konnte nicht mit zu viel Schnelligkeit geschehen. Es war noch immer dunkel, aber mein Schlaf hatte sein Ende erreicht und mit Hülfe eines neben meinem Bett liegenden gewöhnlichen Apparats konnte ich augenblicklich Licht machen.

Das Licht wurde angezündet und ich ging nach dem Sekretair, wo alle meine Bücher und Papiere aufbewahrt wurden. Dieser war von meiner eignen Erfindung und Arbeit, die ich auf den Rath Sarsefield's unternahm, der sich unendliche Mühe gab, das mechanische Talent zu nähren, welches sich bei Deinem Freunde so gewaltig und so zeitig entwickelt hatte. Der dazu gehörige Schlüssel wie der Sekretair selbst waren von eigenthümlicher Form; ich legte ersteren zur größeren Sicherheit beständig in einen Schrank, der gleichfalls verschlossen war.

Der Schlüssel fand sich an seinem gewöhnlichen Platze und der Sekretair wurde geöffnet. Die Briefe waren fest zusammengebunden und lagen in einem Pergamentdeckel in einem geheimen Fache. Dieses Fach würde von gewöhnlichen Augen nicht entdeckt worden sein und öffnete sich auf den Druck einer Feder, deren Dasein nur dem Verfertiger bekannt war; dieses Fach hatte ich geöffnet, ehe ich mich schlafen legte, und die Briefe waren damals in Sicherheit gewesen.

Du kannst Dir meine Verwirrung und mein Erstaunen nicht vorstellen, als ich bei Eröffnung des Faches fand, daß das Packet verschwunden sei. Ich schaute mit größerer Aufmerksamkeit hin und fuhr mit der Hand hinein, aber der Raum war leer. Wohin war es gerathen und von wem war es entwendet worden. Ich wußte nichts davon, daß es entwendet worden, und doch konnten keine andern Hände wie die meinen es gethan haben. Ich hatte es ohne Zweifel am vergangenen Abend in eine andere Ecke gelegt und es vergessen. Ich strengte mein Gedächtniß und meinen Verstand an; ich konnte die Möglichkeit, daß mich irgend etwas bewogen haben könne, meine Anordnungen in dieser Beziehung zu verändern, nicht begreifen und war nicht im Stande, mich zu erinnern, daß ich diese Veränderung vorgenommen habe.

Was blieb noch übrig? Diese unschätzbare Reliquie war verschwunden. – Ich mußte jeden Gedanken und alle meine Kräfte dem einzigen Zweck ihrer Wiedererlangung widmen. Bis jetzt verzweifelte ich noch nicht; bis ich jeden Theil des Sekretairs vergebens geöffnet und durchsucht hatte, gab ich dem Glauben, daß ich sie verloren habe, keinen Raum, und selbst dann war diese Ueberzeugung stürmisch und unsicher; es war mir von Sinnen verschwunden oder diese Sinne hatten eine Schwächung erlitten und täuschten sich. Daß sie von selbst durch die Poren dieses Holzes gedrungen sei, war unmöglich, wenn sie aber verschwunden war, so mußte es auf diese Weise zugegangen sein.

Ich war von Erstaunen und Entsetzen erfüllt. Ich durchsuchte jede Ecke zum zweiten oder dritten Male, aber sie entging noch immer meinen Augen und meinen Händen; ich öffnete meine Schränke und Kästen, legte jedes Kleidungsstück aus einander, untersuchte und besichtigte jedes Instrument, aber es half Alles nichts.

Meine Gedanken sammelten und beruhigten sich jetzt schnell. Ich warf mich auf das Bett und überließ mich dem Sinnen. Daß mein Verlust unwiderruflich sei, war eine Voraussetzung, die ich nicht ertragen konnte, aber ein bedeutungsvolles Entsetzen erfüllte mich, eine geheime Ueberzeugung, daß meine Reliquie, die mehr Werth für mich hatte, wie das Leben, durch ein boshaftes, unergründliches Geschick mir auf immer geraubt sei, daß die nämliche Macht, welche sie von diesem Orte weggenommen hatte, im Stande sei, sie über die Berge und den Ocean zu führen und mich zu einer fruchtlosen, ewigen Nachforschung zu verdammen.

Aber wer hatte den Diebstahl begangen? Von allen lebenden Wesen warst Du das einzige, welches das Dasein dieser Manuscripte kannte. Du bist viele Meilen von hier entfernt. Art und Ort ihrer Aufbewahrung sind Dir vollkommen fremd. Der Zugang zum Secretair war nicht allein ohne mein Wissen und meine Erlaubniß unmöglich, sondern auch der Eintritt in mein Zimmer – beide waren während dieser Nacht verschlossen gewesen. Es waren noch keine fünf Stunden verflossen, seitdem ich den Secretair und das Fach geöffnet, die Briefe an ihrem gewöhnlichen Platze gesehen und gefühlt hatte. Während dieses Zeitraumes war der Dieb eingedrungen und hatte mich meines Schatzes beraubt.

Dieses so unerklärliche furchtbare Ereigniß versetzte meine Seele in eine Art Betäubung oder vielleicht in Zerstreuung, aus welcher ich plötzlich durch Schritte geweckt wurde, die sich leise auf dem Gange vor meiner Thür bewegten. Ich sprang von meinem Bett auf, als ob ich die Räuber erblickt habe. Ehe ich noch öffnen konnte, klopfte Jemand an. Ich hielt es nicht für rathsam, hinauszugehen, sondern wagte mit klopfendem Herzen die Thüre zu öffnen. Mein Onkel stand in seinem Nachtanzug, und augenscheinlich eben erst dem Bett entstiegen, vor mir!

Er bemerkte die Hast und Unruhe in meinem Gesicht und fragte nach der Ursache. Ich antwortete absichtlich nicht auf seine Fragen. Sein Erscheinen in meinem Zimmer und in diesem Anzug erhöhte mein Erstaunen. Mein Geist war bei der eben erst gemachten Entdeckung und dachte sogleich an eine Verbindung zwischen diesem ungewöhnlichen Besuche und dem Verlust meines Manuscriptes. Ich fragte ihn daher nach der Veranlassung seines Kommens.

»Ei,« sagte er, »ich komme, um zu sehen, ob Du es bist, der sich zu dieser Zeit der Nacht auf so seltsame Weise unterhält, oder nicht. Was fehlt Dir? Warum bist Du so früh aufgestanden?«

Ich sagte ihm, daß ich durch meine Träume geweckt worden sei, und da ich keine Lust gehabt habe, den Schlaf wieder zurückzurufen, aufgestanden wäre, wenn auch mehrere Stunden vor meiner gewöhnlichen Zeit.

»Aber warum bist Du hinausgegangen? Du konntest Dir leicht denken, daß der Schall Deiner Schritte die unter Dir Schlafenden wecken müsse, welche in Verlegenheit gerathen würden, zu errathen, wer es für angemessen gehalten habe, sich auf diese Art zu unterhalten.«

»Hinauf! Ich habe mein Zimmer diese Nacht nicht verlassen; es sind keine zehn Minuten her, seitdem ich erwacht bin, und meine Thür ist seitdem nicht aufgemacht worden.«

»Wirklich! Das ist seltsam, ja, es ist unmöglich. Es sind jedenfalls Deine Schritte gewesen, die ich eine Stunde lang so feierlich und unermüdlich im langen Zimmer habe auf und ab gehen hören. Ich konnte mir eine Zeit lang durchaus nicht erklären, wer es sei, schloß aber endlich, daß Du es wärest. Ich hegte jedoch noch einigen Zweifel und kam hierher, um mich zu überzeugen.«

Diese Nachricht war geeignet, alle meine Gefühle in noch größere Aufregung zu versetzen. Ich befragte ihn dringend nach allen Umständen, welche er beobachtet hatte. Er sagte, er sei durch ein Geräusch geweckt worden, dessen Macht, ihn zu stören, nicht in dem Lärm gelegen habe, welchen es gemacht hätte, sondern in seiner Eigenthümlichkeit. Er hatte deutlich Jemand mit bloßen Füßen im langen Zimmer auf und ab gehen hören und dieses Geräusch war mit geringer Unterbrechung eine Stunde lang fortgesetzt worden. Dann hatte er das Aufhören des Gehens bemerkt und einen Laut gehört, als ob Jemand den Deckel der großen Kiste von Cedernholz aufhöbe, welche in der Ecke dieses Zimmers stand. Das Gehen hatte nicht wieder angefangen und Alles war still geblieben. Er hatte eine Viertelstunde gelauscht und sich mit Vermuthungen über die Ursache dieser Störung beschäftigt. Die wahrscheinlichste Folgerung war die gewesen, daß der Umherwandernde sein Neffe sei, und die Neugier hatte ihn in mein Zimmer geführt, wo er sich von der Wahrheit überzeugen wollte.

Dieses Wohnhaus hatte drei Stockwerke. Die beiden unteren sind in zahlreiche Zimmer getheilt, das obere besteht aus einem großen Zimmer, dessen vier Wände die Mauern des Hauses bildeten und dessen Ende das Dach ist. Dies Gemach enthält nichts wie Gerümpel und wird nur durch ein kleines Fenster in der Mitte unvollkommen erleuchtet. In diesem Gemach hatte mein Onkel Schritte gehört.

Die zu demselben führende Treppe endigte auf einem Gange bei meiner Thüre. Ich ergriff das Licht, bat ihn, mir zu folgen, und setzte hinzu, »ich werde die Wahrheit augenblicklich erfahren.« Er folgte mir, bemerkte aber, das Gehen habe lange genug aufgehört, daß diese Person entkommen sein könne.

Ich ging nach dem Zimmer hinauf und schaute hinter und unter die Tische, Stühle und Kisten, die bunt durch einander darin zerstreut waren, fand aber keine Spur von einem Menschen. Der von Mr. Huntley erwähnte Cedernholzkoffer enthielt alte Bücher, Landkarten und Pläne, deren Werthlosigkeit sie zur Aufbewahrung an einem andern Orte ungeeignet machte – der Deckel hatte weder ein Schloß, noch Haspen. Ich untersuchte diesen Kasten, aber es fand sich nichts vor, was meine Aufmerksamkeit erregt hätte.

Der Weg zwischen der Thüre, der Küche und des langen Zimmers bot kein Hinderniß dar; beide waren für gewöhnlich unverschlossen und die Gründe, aus welchen ein Fremder im Hause, oder selbst Jemand in demselben diesen Ort und diese Zeit zu einer derartigen Beschäftigung wählen konnte, waren völlig unbegreiflich. Als die Familie aufstand, wurden Nachfragen angestellt, aber es ergab sich keine Auskunft. Die Familie bestand nur aus vier Personen, meinem Onkel, meinen beiden Schwestern und mir. Ich erwähnte den Verlust, welchen ich erlitten hatte, gegen sie, aber ihre Vermuthungen waren in Bezug auf diesen Vorfall eben so unbefriedigend, wie in Hinsicht auf ersteren.

Mein ruheloses Sinnen nahm kein Ende. Waldegrave war das einzige Wesen außer mir, welches die Geheimnisse meines Secretairs kannte. Die Manuscripte waren während seines Lebens der Gegenstand seiner immerwährenden Sorge und sein eifrigster Wunsch ging dahin, in deren Besitz zu gelangen, um sie zu vernichten oder zu verbergen. Wenn er bei der Annäherung seines Todes das Bewußtsein noch gehabt hätte, so würde er ohne Zweifel seine Bitte mit unwiderstehlicher Feierlichkeit wiederholt haben.

Jetzt waren sie jedoch verschwunden. Es gab keinen Anhalt für Vermuthungen – keine abzuwägenden Wahrscheinlichkeiten und keinen zu berücksichtigenden Verdacht: menschliche Schlauheit oder Gewalt waren dieser That nicht gewachsen – Mittel, die weniger wie übernatürlich gewesen wären, würden die Möglichkeit, diesen Schatz fortzuschaffen, nicht geboten haben.

Anders verhielt es sich in Bezug auf diesen ungewöhnlichen Wanderer. Es stand außer meiner Macht, seine Gründe zu begreifen, aber um durch diese Thüren zu gehen und diese Treppe heraufzusteigen, waren keine Fähigkeiten eines mehr wie menschlichen Wesens nothwendig.

Das Eindringen und die Beraubung meines Secretairs waren gleichzeitige Ereignisse. Gab es zwischen ihnen keine andere Verbindung wie diejenige, welche aus der Zeit hervorgeht? Waren nicht der Dieb und der Wanderer ein und dieselbe Person? Ich konnte das erstere Ereigniß nicht mit den Eigenschaften eines Menschen in Einklang bringen und doch erfüllte mich ein nicht zu verscheuchender oder zu störender geheimer Glaube und zwang mich zu der Ansicht, daß die Entdeckung dieses Besuches den Dieb verrathen werde.

Diese Gedanken versetzten mich in Niedergeschlagenheit und Träumerei. Clithero blieb während des Tages vergessen – in der folgenden Nacht wachten meine Absichten in Bezug auf diesen Mann wieder auf. Ich zog eine geringe Beruhigung aus der Ueberlegung, daß die Zeit in ihrem ewigen Laufe und ihren endlosen Umwälzungen die mich umgebende Düsterkeit zerstreuen würde. Inzwischen bemühte ich mich, die Bilder, welche sich an meinen Verlust knüpften, zu verscheuchen und nur an Clithero zu denken.

Mein Verlangen, wieder eine Zusammenkunft mit diesem Manne herbeizuführen, war noch ebenso stark, wie früher. Ich sehnte mich heftig nach der Rückkehr des Tages. Ich glaubte, daß jeder Augenblick seine geistigen und körperlichen Leiden vermehrte, und vertraute auf meine Gegenwart, um sie zu beseitigen. Die Lebensmittel, welche ich zurückgelassen hatte, waren jedenfalls schnell verzehrt worden, und die Enthaltsamkeit von einigen Tagen genügte zum Untergraben der Lebenskraft. Ich dachte zuweilen daran, ob ich nicht augenblicklich aufbrechen solle. Es war allerdings Nacht, aber der letzte Sturm hatte die Luft gereinigt und der volle Mond schien mit hellem, blendendem Glanze.

Von diesem Versuche wurde ich durch die Ueberlegung zurückgehalten, daß mein eigner Körper der Stärkung durch den Schlaf bedürfe. Wenn ich die Mühseligkeit und das Wachen noch einen Tag fortsetzte, so mußte dies meiner Constitution, die sich keineswegs durch ihre Stärke auszeichnete, bedeutenden Schaden zufügen. Ich mußte mich daher zu einigen Stunden der Ruhe zwingen. Ich schickte mich an, mich zu Bett zu begeben, als sich ein neuer Vorfall zutrug, der meine Aufmerksamkeit eine Zeit lang von dieser Absicht ablenkte.


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