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Erster Band.

Erstes Kapitel.


Ich setze mich nieder, um Deiner Aufforderung nachzukommen, mein Freund. Endlich erlaubt mir die Gewalt meiner Befürchtungen, die Größe meiner Verwunderung, mich meines Versprechens zu erinnern und es zu erfüllen. Endlich bin ich ein wenig von der Ungewißheit und von dem Beben frei geworden. Endlich ist das Drama zu einem unvollkommenen Schlusse gekommen, und die Reihe von Ereignissen, welche meine Geisteskräfte in Anspruch nahmen und meine Aufmerksamkeit mit sich fortrissen, hat in Ruhe geendet.

Bis jetzt war es mir unmöglich, die Feder festzuhalten – meine Sinne von der Scene loszumachen, welche sich eben zutrug, oder herannahte – mich des Haschens nach der Zukunft zu enthalten – meine Gedanken so weit von dem Vorsatze abschweifen zu lassen, der meine Befürchtungen und Hoffnungen in Anspruch nahm.

Ich brauche Dich nicht daran zu erinnern, mit welchem Widerstreben ich Dich verließ. Diesen Ort am Abend zu erreichen, wenn ich nicht am Morgen abreiste, war unmöglich. Aber Deine Gesellschaft besaß einen zu hohen Werth, als daß ich sie nicht hätte bis auf den letzten Augenblick genießen sollen. Es war unumgänglich nothwendig, daß ich mich am Dienstag hier befand, aber meine Pflicht erforderte nicht mehr, wie daß ich bei Sonnenaufgang an diesem Tage ankam. Die Reise während der Nacht brachte keine großen Unbequemlichkeiten mit sich. Die Luft mochte wohl kalt und rauh sein, aber dies hätte Jemand, der schnell geht, nicht belästigt. Eine nächtliche Reise durch eine so romantische und wilde Gegend, wie diejenige, durch welche mein Weg führte, paßt besser zu meiner Stimmung, wie eine Wanderung am Tage.

Bei Anbruch der Nacht war ich zehn Meilen von dem Hause meines Onkels entfernt. Als die Dunkelheit zunahm und ich auf meinen Wege vorwärts kam, regten sich meine Empfindungen zur Melancholie. Der Schauplatz und die Zeit erinnerten mich an den Freund welchen ich verloren hatte. Ich rief mir seine Züge, seine Stimme und seine Geberden in das Gedächtniß zurück und sann mit aussprechlichen Gefühlen über die Umstände seines Todes nach.

Mein Nachdenken stürzte mich wieder in Schmerz und Verwirrung. Ich fragte mich nochmals, wer sein Mörder sei. Durch welche Gründe konnte er zu einer solchen That veranlaßt worden sein? Waldegrave war rein von jedem Vergehen. Seine Frömmigkeit war Verzückung. Seine Wohlthätigkeit kannte keine Erschlaffung oder Trägheit. Alle diejenigen, welche unter seinen Einfluß kamen, empfanden und erkannten seine freundliche Thätigkeit. Er besaß nur wenige Freunde, weil er schüchterne, zurückhaltende Gewohnheiten hatte, aber das Dasein eines Feindes war unmöglich.

Ich rief mir die Vorfälle unseres letzten Beisammenseins in das Gedächtniß zurück – mein Drängen, daß er seine unheilverkündende Reise bis zum Morgen aufschieben solle – seine unerklärliche Hartnäckigkeit – seine Entschlossenheit, in einer dunklen, stürmischen Nacht aufzubrechen, und das entsetzliche Unglück, welches ihm zustieß.

Die erste Nachricht, die ich von diesem Unglück erhielt, der wahnsinnige Rachedurst und der Schmerz, die mich überwältigten – meine fruchtlosen Nachforschungen nach dem Vollbringer dieses Verbrechens – meine nächtlichen Wanderungen und Träumereien im Schatten jener verhängnißvollen Ulme wurden wieder aufgefrischt und nochmals durchlebt. Ich hörte den Knall des Pistols, ich sah die Unruhe Inglefield's – ich hörte ihn seinen Bedienten zurufen und sah sie mit Lichtern hinausgehen und dem Orte zueilen, von wo der Lärm gekommen zu sein schien. Ich sah meinen Freund von einer tödtlichen Wunde entseelt an der Erde ausgestreckt liegen, ohne daß man eine Spur des Mörders, ein Zeichen, nach welchem man seinen Zufluchtsort hätte aufsuchen – die Gründe seiner Feindseligkeit oder seine mörderischen Instrumente hätte entdecken können.

Ich umschloß den sterbenden Jüngling, den seine Bewußtlosigkeit verhinderte, seinen Freund zu erkennen oder die Ursache seines Todes zu enthüllen, ich begleitete seine Ueberreste zum Grabe – ich pflegte den geheiligten Ort, wo er gelegen hatte, ich strengte nochmals meinen Scharfsinn und meinen Eifer zur Verfolgung seines Mörders an und wieder sollten mein Nachdenken und meine Bemühungen ohne Erfolg bleiben.

Ich brauche Dich nicht an das zu erinnern, was vergangen ist. Die Zeit und der Verstand schienen den Zauber gelös't zu haben, der mich taub gegen die Gebote der Pflicht und der Klugheit machte. Die Erinnerungen hatten aufgehört, mich mit Schmerz zu erfüllen, mich zu unbesonnenen Thaten anzutreiben und blutdürstige Absichten zu nähren. Die Düsterkeit war halb zerstreut und es war ein lieblicherer Glanz wie meine früheren Freuden gefolgt.

Jetzt versanken meine Gedanken durch eine unbewußte Zusammenwirkung von Reflectionen, wieder in eine unbewußte Bitterkeit. Es schien mir, daß die Hand zu entdecken, welche meinen Freund getödtet hatte, nicht unmöglich, und das Verbrechen zu strafen, gerecht sei – daß es meine Pflicht gegen meinen Gott und die Menschheit verleugnen heiße, wenn ich mich der ferneren Nachforschung enthielt, oder die Bestrafung aufschob. Allmählig erwachte ein Impuls, der mir befahl, noch einmal die Ulme zu besuchen – noch einmal die Erde zu durchforschen, den Stamm zu prüfen. Was konnte ich zu finden hoffen? War es nicht schon hundert Mal untersucht worden? Hatte ich meine Nachforschungen nicht auf den benachbarten Wald und die Felsen ausgedehnt? Hatte ich nicht an den Bächen nachgeforscht und die Gräben und Hohlwege durchspürt, welche an den blutigen Schauplatz grenzten?

Ich hatte in der letzten Zeit dieses Verfahren mit Schaam und Reue betrachtet, aber bei meinem gegenwärtigen Geisteszustande nahm es die Gestalt der Uebereinstimmung mit der Klugheit an, und ich fühlte mich unwiderstehlich angetrieben, meine Nachforschung zu widerholen. Seit meiner Abreise aus dieser Gegend war einige Zeit verflossen – eine genügende Zeit, daß sich einzelne Veränderungen ereignen konnten. Mittel, welche früher nutzlos waren, konnten jetzt vielleicht sofort nach dem Ziele führen, nach welchem ich strebte. Der Baum, welcher früher von dem Verbrecher gemieden worden war, wurde vielleicht bei der Abwesenheit des Bluträchers unvorsichtig aufgesucht. Es war möglich, daß er nicht an meine Rückkehr dachte, oder sie nicht fürchtete und vielleicht in diesem Augenblick auf dem Schauplatz seines Verbrechens gefunden werden konnte.

Es läßt sich keine Entschuldigung für diesen Rückfall in die Thorheit anführen. Meine Rückkehr zu dem Schauplatz dieser Vorgänge und Leiden nach einer Abwesenheit von einiger Zeitdauer, die nächtliche Zeit, das Flimmern der Sterne, die Dunkelheit, in welche die äußeren Gegenstände gehüllt waren, und welche daher meine Aufmerksamkeit nicht von den Bildern meiner Phantasie ablenkte, können einigermaßen das Wiedererwachen der Gefühle und Entschließungen erklären, welche unmittelbar auf den Tod Waldegrave's folgten, und die während meines Besuchs bei Dir geruht hatten.

Du kennst die Lage der Ulme, in der Mitte eines Privatweges, ganz nahe bei Norwalk neben der Wohnung Inglefield's, aber drei Meilen von dem Hause meines Onkels entfernt. Der Weg, welchem ich folgte, führte nach einer anderen Richtung. Ich mußte ihn daher verlassen und einen Umweg über Wiesen und Abhänge machen. Meine Reise wurde dadurch bedeutend verlängert, aber in dieser Beziehung war ich gleichgültig, oder vielmehr, wenn ich bedachte, wie weit die Nacht bereits vorgeschritten war, so erschien es mir wünschenswerth, daß ich die Heimath erst in der Morgendämmerung erreichte.

Ich folgte dieser neuen Richtung mit großer Geschwindigkeit. Es blieb jedoch Zeit genug, daß mein Ungestüm nachlassen und ruhigere Gedanken dessen Stelle einnehmen konnten, aber ich verfolgte diesen Weg dennoch. Es versprach mir eine traurige Befriedigung, wenn ich einige Augenblicke in diesem Schatten weilen, über Dinge nachdenken konnte, die so wichtig für mein Glück waren. Ich kannte den Weg, obgleich er pfadlos und schwierig war, und ich erkletterte die Anhöhen, kroch durch das Gebüsch, sprang über die Bäche und Zäune mit unermüdlichem Eifer, bis ich endlich den rechten, dunklen Pfad erreichte, der zu dem Hause Inglefield's führt.

Nach kurzer Zeit bemerkte ich in der Dunkelheit die sich weit ausbreitenden Zweige der Ulme. Dieser Baum ist, wie undeutlich man ihn auch sehen mag, mit keinem andern zu verwechseln. Der merkwürdige Umfang und die Form seines Stammes, seine Stellung mitten auf dem Wege, seine Aeste, die sich in einem reichen Umfange ausbreiten, machen ihn von weit her auffällig. Meine Pulse klopften heftig, als ich mich ihm näherte.

Meine Augen strengten sich an, den Damm und den Raum im Schatten ringsum zu erkennen. Als ich näher kam, wurden diese allmählig sichtbar. Der Stamm war nicht das Einzige, was sich meinen Augen zeigte. Ich erblickte noch etwas Anderes, was sich durch seine Bewegungen bemerkbar machte. Ich schrak zusammen und blieb stehen.

Für einen flüchtigen Beobachter würde diese Erscheinung ohne Wichtigkeit geblieben sein, für mich mußte sie wohl eine mächtige Bedeutung haben. Alle meine Vermuthungen und mein Verdacht kehrten augenblicklich wieder zurück. Diese Erscheinung war, menschlich – sie stand mit dem Schicksale Waldegrave's in Verbindung – sie führte zu einer Entdeckung des Werkzeugs dieses Schicksals. Was sollte ich thun? Wenn ich mich unvorsichtig näherte, so störte ich sie auf, eine augenblickliche Flucht würde sie außer den Bereich der Entdeckung gebracht haben.

Ich ging langsam nach der Seite des Weges. Den Boden bedeckten Felsenmassen, die zwischen Eichengebüsch und Zwergcedern – dem Zeichen seines unfruchtbaren und ungepflegten Zustandes, zerstreut waren. Zwischen diesen konnte man sich der Beobachtung entziehen und doch nahe genug kommen, um einen genauen Anblick dieses Wesens zu erhalten.

Die Atmosphäre wurde jetzt ein wenig durch den Mond erhellt, der, obgleich er bereits untergegangen war, doch dem Horizonte noch so nahe stand, daß ich aus seinem Lichte Nutzen ziehen konnte. Jetzt unterschied ich die Gestalt eines großen, kräftigen Mannes. Ein wiederholtes, genaues Hinschauen setzte mich in den Stand, zu bemerken, daß er damit beschäftigt war, die Erde aufzugraben. Ein Stoff, wie Flanell umschloß seinen Leib und bedeckte seine Beine. Im Uebrigen war seine Gestalt nackt. Ich erblickte in ihm Niemanden, den ich kannte.

Eine kräftige, fremde, halb nackte, um diese Zeit und an diesem Orte so beschäftigte Gestalt war geeignet, meine ganze Seele aufzuregen. Seine Beschäftigung war geheimnißvoll und unerklärlich; bereitete er ein Grab? Beabsichtigte er, Etwas zu suchen oder zu verbergen? War es besser, wenn ich ihn aus der Ferne unbemerkt und still beobachtete, oder mich auf ihn stürzte und ihm mit Gewalt durch Drohung eine Erklärung der Scene abzwang?

Noch ehe ich meinen Entschluß gefaßt hatte, hörte er auf zu graben. Er warf den Spaten weg und setzte sich in die Grube, welche er gegraben hatte. Er schien im Nachdenken versunken zu sein, aber die Pause war kurz und es folgten ihr Seufzer, die Anfangs leise und einzeln waren, aber bald lauter und heftiger wurden. Das Herz, welchem diese Zeichen des Schmerzes entflohen, war gewiß schwer belastet! Noch nie hatte ich eine Scene solchen Jammers – solches herzzerreißenden Schmerzes gesehen!

Was sollte ich denken? Ich war von Erstaunen erfüllt. Endlich wich jedes andere Gefühl meinem Mitleide, jeder neue Laut des Jammernden berührte mein Herz mit größerer Gewalt und die Thränen traten mir unwillkürlich in die Augen. Ich verließ die Stelle, an welcher ich stand, und ging am Rande des Schattens weiter. Meine Vorsicht hatte mich verlassen, und ich sah in dem Manne anstatt eines Menschen, den ich verfolgen sollte, nichts als einen Gegenstand des Mitgefühls.

Meine Schritte wurden dadurch gehemmt, daß er plötzlich aufhörte, zu jammern. Er raffte den Spaten auf und fing an, die Grube in der größten Hast zuzuwerfen. Er schien meine Gegenwart zu bemerken und meinen Augen etwas verbergen zu wollen. Ich fühlte mich versucht, näher zu gehen und seine Hand zu halten, aber meine Ungewißheit in Bezug auf seinen Charakter und seine Absichten, und die Plötzlichkeit, mit welcher ich ein Zuschauer dieser Scene geworden war, ließen mich noch zaudern. Obgleich ich jedoch zögerte, weiter zu gehen, gab es doch nichts, was mich verhindert hätte, zu rufen:

»Holla!« sagte ich. »Wer da, was thun Sie dort?«

Er hielt inne – der Spaten entfiel seiner Hand – er blickte auf und richtete das Gesicht nach der Stelle, wo ich stand. Jetzt schien es mir, als ob ein Gespräch und eine Erklärung unvermeidlich wären; ich nahm meinen Muth zusammen, um diesem Wesen entgegen zu treten und es zu fragen.

Er blieb eine Minute in seiner forschenden, horchenden Stellung. Da, wo ich stand, mußte ich wohl gesehen werden, und dennoch handelte er, als ob er nichts sehe. Er ergriff seinen Spaten wieder und fuhr mit erhöhtem Eifer fort, die Grube auszufüllen. Dieses Benehmen verwirrte und verblüffte mich. Ich hatte nur die Macht, still zu stehen und seinen Bewegungen stumm zuzusehen.

Nachdem die Grube angefüllt war, setzte er sich wieder an die Erde und gab sich dem Weinen und Seufzen mit noch größerer Heftigkeit wie vorher, hin. Nach einiger Zeit schien der Anfall vorüber zu sein. Er stand auf, ergriff den Spaten und kam auf die Stelle zu, wo ich stand. Ich bereitete mich wieder auf ein Gespräch vor, das jedenfalls stattfinden mußte. Er ging jedoch an mir vorüber, ohne daß er meine Gegenwart zu bemerken geschienen hätte. Er kam mir so nahe, daß er fast meinen Arm streifte, wendete aber den Kopf nach keiner Seite ab. Ein genauer Anblick ließ mir seine kräftigen Arme und die hohe Gestalt noch deutlicher erkennen, aber seine unvollständige Bekleidung, die Düsterkeit der Beleuchtung und die Verwirrung meiner Gedanken, hinderten mich an der Beobachtung seines Gesichts. Er ging einige Schritte schnell auf dem Wege weiter, sprang aber plötzlich zur Seite und verschwand zwischen den Felsen und dem Gebüsch.

Mein Auge folgte ihm, so lange er sichtbar blieb, aber meine Füße waren an die Erde gefesselt. Ich konnte nicht umhin, zu dem Schlusse zu kommen, daß sein Körper schlafe. Derartige Fälle waren mir aus Büchern und Gesprächen nicht unbekannt. Es war allerdings noch nie einer in den Kreis meiner Beobachtung gekommen und jetzt lag er klar vor mir, von Allem umgeben, was den Argwohn schärfen und meine Nachforschungen beleben konnte. Es nützte mir nichts, wenn ich noch länger hier stehen blieb und ich lenkte meine Schritte der Wohnung meines Onkels zu.


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