Otto Julius Bierbaum
Prinz Kuckuck
Otto Julius Bierbaum

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Rasebahn

Und Henry Felix raste durch alle die Länder und Städte, in denen sich Szenen seiner Lebenskomödie abgespielt hatten, nicht anders, als seien es Schauplätze von Verbrechen, zu denen ihn die Faust einer fürchterlichen, dumpfen, nicht läuternden, sondern trübenden Reue stieß.

Es war, als wollte er sich selbst von der Wahrheit der Schilderung überzeugen, die sein hinkfüßiger, aber an der Sprungstange des Wortes wie ein beflügelter Dämon über sein ganzes Leben wegsetzender Gegner von ihm entworfen hatte.

Doch dieses Bild, das ihn eine Weile heftig peinigte, wich bald aus ihm. Wie er keine Einzelheit von den Landschaftsbildern sah, durch die er raste, Augen und Gedanken immer vorwärts, nur auf die Fahrbahn gerichtet, die er gleichsam in sich schlang, so wußte er bald auch keine Einzelheit seines Lebens mehr: selber wie verschlungen von dem immer aufs neue sich öffnenden, weitenden Trichter der weißen Landstraße. Die wahnsinnige Wut, vorwärts zu rasen, auf alle Eindrücke der Umwelt, alles Bildwerden im Innern zu verzichten, einzig zugunsten des einen übermäßigen Gefühls einer ungeheuren Wollust im sturmhaften Bewältigen leerer Entfernungen: diese letzte ihm aufgesparte Wollust besaß, beseligte ihn ganz. Und es kam ihm nicht zum Bewußtsein, daß diese letzte Wollust auch ein großes letztes, zusammenfassendes Symbol seines ganzen Lebens war, dieser immer von fremder Kraft getragenen, um jede Sammlung, jeden fruchtbringenden Genuß, jede Selbstgestaltung, jedes Wertwirken betrogenen Existenz. Er dachte an nichts und fühlte nichts als diese ungeheure Lust, auf Rädern – beinahe zu fliegen. Der wildeste Bewegungsrausch, dem westlichen Menschen vom jungen zwanzigsten Jahrhundert beschert als bedeutsame Morgengabe einer Zeit, die damit vielleicht auf noch höhere Räusche, höhere Überwindungen, höhere Freiheiten vorbereiten will, nahm ihn völlig ein. Ihm war, als säße seine Seele selber in diesem Motor, der in Explosionen lebte. Das Einknirschen der breiten, von Luft prallen Gummiräder im Erdreich, wenn sie wie zum Sprunge ansetzten, fühlte er selbst, als ob die eigenen Sohlen sich wegfederten. Er empfand im Viertakt der Maschine eignen Lebensrhythmus und lauschte ihm mit stolzer Ergriffenheit wie der Offenbarung sicherster Gesetzmäßigkeit.

Und dieser Takt hatte jetzt ein tröstliches Wort für ihn: Vorbei, vorbei, vorbei, vorbei.

Aber auch diese Lust nahm ab, und mit ihr verschwand der Trost. Je mehr er sich Italien näherte, um so mächtiger wurde wieder eine dumpfe Angst in ihm, und in seinen stieren Blick auf die Fahrbahn kam Entsetzen, Grauen, Verzweiflung. Der Motor wurde ihm zu einer fremden, herrischen, dämonisch fortreißenden Gewalt, über die er keine Macht hatte, und wenn er seinen ewig gleichen Stößen lauschte, glaubte er Karls Stimme zu vernehmen, Karls kurzes Lachen, Karls Hohn.

Da kam ein letzter Entschluß über ihn, ein letzter Wille.

In Mailand kaufte er sich einen Rennwagen: nichts als eine mächtige Maschine mit zwei Sitzen dahinter, das Ganze ein dahinschießender grauer Keil. Und er übte sich auf einer Rennbahn das Fahren ein und saß seitdem selber am Steuer, schräg darüber liegend, den Kopf wie zum Stoße nach vorn, während der Mechaniker neben ihm lediglich die Aufgabe hatte, unausgesetzt die Sirene wimmern und eine stiermäßig brüllende Hupe ertönen zu lassen.

Diese barbarischen Klänge, wie das Heulen der Windsbraut, untermischt mit dumpferen Stößen erwachenden Sturmes, wurden seinen Ohren nun eine ermutigende Musik: Musik der Kraft, Musik der Macht, Musik der Vernichtung.

– Weg da, Gesindel! Zur Seite, Gewürm! brüllte die Hupe, heulte das Lärmrohr: ein Herr kommt, dem die gefesselten Dämonen zerkrachender Kraft gehorchen müssen in Millionen Untergängen: jeder einzelne ein Sturmteilchen des großen Prinzips der Bewegung, alle zusammen ein rhythmisches, gesetzmäßiges Sturmrasen: ihm zu Willen als ziehende, tragende Kraft, der sie einsperrt oder losläßt, drosselt oder dahinschießen heißt nach seinem Gutdünken, ihr Bändiger und Lenker, dem sie im Verächzen frohlocken: ave Caesar, morientes te salutant!

Ein letztes, lautes, freches, dummes, plumpes Hochgefühl beglückte den armen Narren, den auch jetzt sein Reichtum wieder äffte: zum Affen wirkender Macht machte, daß er sich wunder wie erhaben vorkam in dem Gefühle, daß vor seinem Dahinbrausen in den Straßengraben flüchten müßte, was nicht von ihm überrädert werden wollte.

Seine letzten Opfer waren Hühner, Hunde, Gänse, Enten, Schweine, und als Trophäen seiner sieghaften Sturmgewalt brachte er die kleinen Leichen von Schwalben heim, die am Gitter seines Kühlers klebten von des rasenden Ungeheuers Stemmwucht gegen die Luft dort festgehalten.

Aber bald genug mußte er fühlen, daß die Musik der Vernichtung, die ihn begleitete, einen ganz anderen Sinn hatte.

Was er von da an überrädern, überrasen, auslöschen, vertilgen, töten wollte, war die Fahrbahn seines Lebens selber mit allem, was darauf war, und alles Darandenken, Davonwissen in sich. Denn das erhob sich nun in ihm ununterdrückbar wie ein Wogen und Aufschwappen von Schlamm. Das niederzuwalzen war der Sinn des Zwanges, mit dem er sich zum Sklaven der Sekunde machte, von einer der anderen überliefert, immer nur den nächsten Augenblick abmessend, ein Knecht am Steuer, glücklich, sich dabei körperlich und geistig so abzumüden, daß er, nachts angelangt, gleichviel wo, kaum Zeit zum Essen fand, um dann sogleich in einen todähnlichen Schlaf zu versinken.

Und dennoch: je weiter er nach dem Süden Italiens kam, um so mächtiger hob sich das qualvolle Grauen in ihm. Zweimal kehrte er zwischen Neapel und Sorrent um und floh zurück zum Norden. Als er aber das drittemal durch Vico Ecquense und Meta gefahren war, schon das Tempo den Berg nach Sorrent hinauf nicht bloß der Steigung wegen verzögernd, da fielen seine Hände wie tot vom Rade, daß der Mechaniker die Steurung ergreifen mußte.

»Umkehren!« murmelte er. Mitten in der halben Drehung des Wagens aber: »Nein! Vorwärts!« – –

In der Pension, die ihn damals mit Karl beherbergt hatte, fand er, zermüdet an Leib und Seele, für eine Nacht und einen Tag Ruhe in einem dumpfen Schlafe. Als er, in gleicher Dumpfheit, erwachte, wußte er nicht, ob es Tag oder Nacht war, denn die dicht schließenden Persiennen ließen nicht ein Fünkchen Licht in das Zimmer. Die blendende Helle, die hereinbrach, als er die Läden zurückstieß, tat ihm körperlich weh und erschreckte ihn, ohne ihn zu ermuntern. Er schloß die Läden und legte sich wieder zu Bett.

– Schlafen! Immer nur schlafen und nie erwachen! dachte er sich –: Was soll ich im Lichte? Was soll ich draußen? Immerzu weiter rasen? Aber: wohin? Bin ich nicht am Ziele? Hier ist der einzige Ort, wo ich etwas... getan habe. Hier wäre wohl der Ort, wo ich... ein zweites Mal etwas tun könnte.

Er schloß die Augen. Aber der Schlaf mied ihn. Es kam immer wieder der Satz: Hier... wäre... der... Ort...

Dazwischen dachte er an Berta und den Doktor –: Ob ich... vorher hingehe? – Nein! Dieses eine Mal will ich stark sein und nicht tun, was fremder Wille will... Sie ziehen mich – ich spürs. Die entsetzlich klaren, harten Augen der... Frau ziehen mich, und diese fürchterliche breite Stirne, die so weiß und gleißend ist, wie die Landstraße... Nein! Nein! Nein! Ich... will... nicht!

Er faltete die Hände zum Gebet, als suchte er einen Halt im Umkrampfen seiner Finger. Sie waren kalt und feucht, und seine Lippen fanden keine betenden Worte, denn es war etwas in ihm, das stöhnte: Nur keine Lüge mehr! Nur jetzt, dieses einzige Mal, keine Lüge, sondern Wille, Wille, Wille; Kraft! Wenigstens das... Ende soll ehrlich sein, von mir sein, Stärke sein... wie... damals... Damals! Das war mein schönster Moment – schöner noch als die, wenn ich als Erster durchs Ziel ging. Damals! Hier! Ja! Hier... ist... der... Ort!

Er erhob sich und kleidete sich an. Es hungerte ihn, und das Gehen fiel ihm schwer, da er in der letzten Zeit nur vom Wagen und zum Wagen gegangen war. Aber er bezwang sich und schritt, ohne etwas zu sich zu nehmen, zum Haus hinaus auf die Straße.

Es war ein warmer Septembertag, und der dicke, undurchlässige Automobildress aus schwarzem Leder drückte ihn wie eine Rüstung. Die schweren Gamaschen waren wie Schienen um seine Unterschenkel, die dicksohligen Schuhe klopften beim Gehen wie Holzpantoffeln auf die steinige Straße. Er kam nur langsam vorwärts und geriet in Schweiß.

– Ich werde mindestens zwei Stunden bis zum toten Winkel brauchen, sagte er sich – wenn ich nicht vorher umsinke. Ob ich nicht lieber umkehre und hinauffahre?

Aber er schleppte sich weiter. Das Licht tat ihm weh. Er zog die schwarze Fahrbrille vom Mützenrande herunter über die Augen. Aber das verhalf nur zu einer Täuschung von Schatten. Mitten auf dem heißen, leeren Hauptplatze von Sorrent mußte er erschöpft stehen bleiben. Das Gefühl einer entsetzlichen Vereinsamung überkam ihn und mit ihm eine weichliche Schlaffheit, eine weinerliche Angst.

Ein Fremdenführer drängte sich an ihn heran, ihm seine Dienste anzubieten.

Er legte dem Manne seine rechte Hand auf die Schulter und sah ihn unsicher an. Etwas Heißes drängte in ihm auf. Tränen stürzten ihm aus den Augen. Er schluchzte heftig.

»Sie sind krank, Signore!« rief der Führer und legte den Arm um die Hüfte des Wankenden. »Soll ich Sie zu einem Arzte führen?«

Das Wort traf ihn wie eine Erleuchtung, ein Strahl der Rettung. Er vergaß alles, was er gewollt hatte, und sagte hastig: »Ja! Ja! Zum Doktor del Pas!«

Der Führer überstürzte sich in Worten: »O! Wohl! Ich kenne ihn gut! Er wohnt nicht weit! Gleich dort, die rote Villa mit den weißen Säulen ists! Ah, und sehen Sie! Er ist zu Hause! Er steht auf dem Balkon. Und, sehen Sie doch, er weist mit der Hand hierher. Die Signora neben ihm, die nun auch hersieht, ist seine Frau. Wir nennen sie die goldene Dame. Sie verstehen: wegen ihrer Haare. Und dann, weil sie so reich ist. O, so reich! Sie werden es selbst sehen: Ihre Villa ist innen herrlich wie ein Palast. Der Papst und der König wohnen nicht schöner. Ihr Kind, der kleine Carlo, hat ebenso goldene Haare, wie sie, und er ist so klug, daß es ein Wunder ist. Aber auch stark ist der kleine Bursche und gewandt! O! Kaum sechs Jahre und reitet schon! Sitzt auf seinem kleinen wilden schwarzen Pferdchen und reitet, daß die goldenen Haare im Winde fliegen. Reitet ganz allein, Signore – jeden Tag die Straße nach Amalfi hinauf zum Denkmale des anderen Carlo, von dem die Signora die Schwester ist. Aber das ist eine böse Geschichte, Signore, eine sehr böse und geheimnisvolle Geschichte. O, es werden furchtbare Dinge davon erzählt. Warum ist kein Kreuz auf seinem Grabe, sondern, von der Signora und ihrem Manne gesetzt, eine schwarze Pyramide mit einem goldenen Adler und einer silbernen Schlange? O, es hat uns niemand gesagt, und doch wissen wir es alle: dieser Carlo ist ermordet worden! Ein Fischer in Capri, den sie Tiberio nennen, wüßte wohl mehr davon zu erzählen. Aber der ist stummer als seine Fische, wenn es zu schweigen gilt.«

Alles dies ergoß sich über Henry Felix, während ihn sein wortreicher Führer zur Villa des Doktors geleitete. Ihm war, als drängten diese Worte in ihn ein, wie stechende Tropfen aus einer dichten Wolke, in der er seinem Verhängnis entgegenschritt – willenloser denn je.

Er wußte nicht, wie er in das dunkle Zimmer gekommen war, in dem er plötzlich der weißen Stirne des Doktors (er sah nur sie) und den kalten Augen Bertas gegenüberstand.

Er hielt ihren Blick nicht aus und ertrug nicht das Leuchten dieser Stirne. Indem er den Kopf senkte, war es, als erwartete er sein Urteil.

Die Stille, die ihn umgab, schien ihm von einem dumpfen Murmeln beratender Richter erfüllt zu sein, und, als er die Stimme des Doktors vernahm, hatte er das Gefühl, sie zu sehen: wie zwei Lichthörner, ausgehend von dieser entsetzlichen Willensstirne.

Aber der Doktor sprach ganz ruhig und langsam, wie immer: »Sie sind also gekommen, Graf, wie Ihnen aufgegeben war. Daran ist nichts Auffälliges. Aber ich sehe es Ihnen an und weiß, daß Sie wieder etwas wollen, das Sie nicht können: noch nicht können, und auch nicht sollen: nicht jetzt und hier sollen. Denn (er erhob seine Stimme) ich will es nicht.«

Henry Felix senkte den Kopf noch tiefer und machte eine Bewegung, als wollte er sich abwenden und gehen.

»Noch nicht!« sagte der Doktor barsch und fügte mit sonderbarer Betonung hinzu: »Sie sollen erst sehen, weswegen Sie kommen mußten.«

Trotz der völligen Dumpfheit, die ihn jetzt so erfüllte, daß er für diese tiefste Demütigung, dieses Zertreten- und Beiseitegeschobenwerden keine bewußte Empfindung hatte, spürte er bei diesen Worten etwas Gräßliches: es war wie seelische Erdrosselung durch eine wahnsinnige Angst.

Er erhob den Kopf mit dem Ausdrucke grauenvollster Furcht – und erblickte vor sich, zwischen Berta und dem Doktor stehend, den leise ins Zimmer gekommenen kleinen Karl.

»Karl!!!« schrie er auf und stierte das Kind an, wie ein Gespenst. Denn vor seinen flackernden Augen, den Augen eines Irrsinnigen, stand leibhaftig der Ermordete. Er sah nicht einen sechsjährigen Knaben, der dem Vetter ähnelte, sondern den Vetter selbst, – aber als Kind und damit etwas noch viel Schrecklicheres: etwas grausam Kräftiges, Gesundes, Wachsendes, – im Wachsen Drohendes. Es waren diese selben leer wasserblauen, aber durchdringenden Augen, diese selben messerscharfen höhnischen Lippen, – alles war das gleiche, fürchterliche, haßvolle Überlegensein, nur noch fürchterlicher, noch überlegener: grausamer noch und entschlossener.

Er starrte und starrte, keuchend.

Als er aber die Lippen des Kindes sich öffnen sah und nun auch die Stimme des für ihn wieder lebendig Gewordenen vernahm – »Ist ers?« – da drehte ihn wahnsinniges Entsetzen um, und er wollte hinaus.

Doch die Stimme des Doktors hielt ihn fest wie ein übergeworfenes Lasso. Er mußte den Kopf zurückwenden und ein letztes Mal in diese drei Gesichter sehen, die für ihn drei teuflische Larven waren: Verachtung, Drohung, Willenszwang.

Er vernahm die Worte: »Dies ist Ihr Erbe!« wie ein Todesurteil und rannte davon.


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