Otto Julius Bierbaum
Prinz Kuckuck
Otto Julius Bierbaum

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Die Überfahrt von Calais nach Dover war für Karl eine fürchterliche Prüfung, da sie ihn aufs brutalste daran erinnerte, daß auch ein Genie nicht bloß aus Gehirn besteht. Er hatte, obwohl sein Gedicht die Kabine mit ihm teilte, den entschiedenen Wunsch, sofort zu sterben, denn sein Zustand während der Überfahrt war ebenso unangenehm wie würdelos.

»Welch eine Schweinerei ist das Leben!« rief er ein Mal über das andere aus, »welch eine Schweinerei! Und dabei gibt es Menschen, die an Gott glauben!! Wären doch die vielen Gedanken, die an diese Fiktion verschwendet worden sind, dazu benutzt worden, ein Mittel gegen die Seekrankheit zu erfinden! Man sollte alle Theologen auf See schicken.«

Besonders gräßlich war ihm dabei, daß Henry von dem Übel verschont blieb. – Dieses Tier scheint gegen alle Krankheiten gefeit zu sein, dachte er voll Grimm. Wie es für ihn keine venerische Ansteckung zu geben scheint, obgleich er sie tausende Male herausgefordert hat, so geht auch dieses furchtbare Leiden an ihm vorüber, wie an einem Auserwählten. Ein glänzender Beweis für die Existenz Gottes. Mir explodieren die Gedärme, und er füllt sie sich ohne Unterbrechung mit schlechthin säuischem Behagen. Wenn ich ihn doch vergiften könntet – Und mit welcher Frechheit dieses Ungeziefer mit einem Male Englisch spricht. Nicht ein Wort ist richtig außer yes und no und goddam, aber er hat sich mit dem Nachahmungsvermögen eines Affen bereits nach einer Stunde den verfluchten Ton dieser Pferdeknechtsprache so instinktiv angewöhnt, als habe er schon in den Windeln englisch gegreint. Wie weh sie tut! Oh Gott, wie weh! Es ist die Sprache der Seekrankheit, das syntaktische Speien. – Welch ein Genie war Shakespeare, daß er in diesem Rülpsen dichten konntet«

Noch auf der Eisenbahnfahrt von Dover nach London war ihm zum Sterben übel. Das saftige Grün der englischen Landschaft ärgerte ihn, der Anblick der Kathedrale von Canterbury machte ihn wütend, noch im Gewimmel der Viktoria-Station verfluchte er die Infamie der Engländer, die von den Fremden zwar keine Zölle, aber den erniedrigenden Tribut der Seekrankheit erheben. Aber der raffinierte Komfort von Claridges Hotel besänftigte ihn bald, und als er unter Verwendung von drei Litern Eau de Cologne ein zweistündiges heißes Bad genommen hatte, war er in die vollkommenste Balance geraten, so sehr, daß die englische Sprache nun einen vornehmen Klang für ihn erhielt und er mit Bestimmtheit darauf drang, noch am selben Abende das Coventgardentheater zu besuchen, – natürlich nicht, um »La Traviata« von Anfang bis zu Ende anzuhören, sondern um elegante Welt zu sehen.

Dieses Theater und sein Publikum in full dress imponierten ihm sehr. Er begriff sofort die Sachlage: Hier kam, durch hohe Preise von der Vermischung mit Plebs bewahrt, die Gesellschaft zusammen, nicht wegen dieser – italienischen Sängerinnen und Sänger, denen man nur bei gewissen Bravourstücken aufmerksamer lauschte, sondern um ihrer selbst willen. Das bißchen »Volk« auf der Galerie bildete Staffage, so, wie sich die Fürsten früher beim Tafeln zusehen ließen. – Diese Engländer von der herrschenden Klasse, und das war hier gottlob noch vornehmlich die alte Aristokratie, hatten doch einen größeren Stil, als die Franzosen, bei denen schließlich immer einmal die Herrschaft der Bourgeoisdemokratie zutage trat. Hier in England war, wie liberal auch immer die Konstitution des Landes sein mochte, die alte aristokratische Tradition in allen Dingen des höheren Lebens ersichtlich noch bei Macht. Das Volk als Staffage – wundervoll. Die Kunst als Rahmen gesellschaftlicher Betätigung – wie vornehm. Die Gesellschaft als kultureller Selbstzweck – wie richtig!

Hier gedachte Karl, viel zu lernen.

Er überließ auch in London Henry ganz sich selbst, ja er kümmerte sich überhaupt nicht mehr um ihn. Da man in Claridges Hotel ständig Quartier zu nehmen beschlossen hatte, war eine Berührung mit Henryschen Wüstheiten ausgeschlossen. – Er mußte sich außerhalb betätigen und tat es auf die ihm bequemste Manier, indem er fürs erste und in der Hauptsache John als Zutreiber benutzte. Auf beengend vornehme Verhältnisse ließ er sich nicht mehr ein. Er ging wieder aufs Massenhafte aus, nur daß er hier, dem Genius loci und einer gewissen erotischen Zeitrichtung folgend, die seinen eigensten Neigungen entsprach, handfeste Frauenzimmer bevorzugte. Dadurch nahm er immer mehr ein rohes und gleichzeitig verdüstertes Wesen an, ja etwas Tückisches, Böses. – Seine Streifzüge führten ihn bis in die schmutzigsten Viertel des rohesten Lasters, und er war mehr als einmal nahe daran, trotz seiner Leibgarde von Zuhältern, mit denen er in Gut und Böse vortrefflich auskam, in irgendeinem Hinterzimmer von Whitechapel auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, obgleich er sich wohl hütete, bei diesen Streifereien im dunkelsten London äußerlich als reicher junger Mann aufzutreten. Er kam sich, indem er sich verkleidete, besonders interessant vor, als eine Art Harun al Raschid, der ausging, die Sitten und Meinungen des gemeinen Volkes zu studieren. Doch war es im Grunde einfach Wohlgefallen am Rohen und ein gewisser seltsamer Trieb ins Dunkle, Ungeheuerliche, schmutzig Nackte des Urtriebes, wobei er, der eigentlich feige war, vor Gefahren keineswegs zurückschreckte. Aber er vertraute gerade hierbei seinem »Stern« mit äußerster Festigkeit.

Er sah und erlebte Scheußlichkeiten von aller Art: widerlich gemeine, trostlos elende, aber auch solche, die in sich Größe hatten, die Größe unbeugsamen wilden Trotzes und grimmiger Verachtung alles Behüteten, und er konnte auch wahrnehmen, daß es im stickigsten Sumpfe, inmitten greulichster Verworfenheit, nicht an dem Wunderbaren innerlicher Reinheit und Güte fehlte, daß es unter diesem Menschenkehricht Seelen voller Glaube und Liebe, ja heroische Herzen und ruhig klare, philosophische Köpfe gab, die sogar lächeln konnten in einer Umgebung, die nur das kreischende Lachen des Hohnes und gemeiner Ersättigung kannte. – Aber er sah alles dies nur, und es ergriff ihn nicht. Denn er war auch hier nur der Mensch, der etwas mitmachte, dabei, aber nicht darin war: auch hier nur Wollüstling der Eitelkeit und einer lüstern neugierigen Begierde. Er nahm auch hier nicht zu an Wert und Wesen; er höhlte sich auch hier nur aus.

Indessen gewann Karl mehr als Erkenntnis, Bestätigung und Vertiefung seiner Lebensanschauung. Er fand den Weg zu seiner Natur.

Er kannte ihn längst, aber er hatte es bisher peinlich und heroisch vermieden, ihn zu betreten, weil er ihn immer nur in Schlupfwinkel führen sah, die ihm bei allem Drange der Begierde zuwider waren. – Auch hier führte er in Heimlichkeit und hinter verschlossene Türen. Aber es waren die Türen eines sehr vornehmen Klubs und die Heimlichkeiten gingen in Gesellschaft äußerst fein erzogener Herren der allerbesten Gesellschaft der Aristokratie, der Geburt und des Geistes vor sich.

Der Klub der »Grünen Nelke« bestand nicht aus Leuten, die ihre besondere Veranlagung oder, was bei einer guten Anzahl seiner Mitglieder zutraf, ihre erotischen Extrapassionen für ein physisches oder moralisches Manko hielten; es waren diese ausnahmslos sehr vornehmen und zum Teil höchst geistvollen Herren vielmehr innigst davon überzeugt, daß sie sich dadurch als von Natur und durch Geschmack Bevorzugte aus der Masse emporheben. In ihrem aufs üppigste und eleganteste ausgestatteten Klubhause, das in orientalisierend griechischem Geschmacke gehalten war, obgleich seine Außenarchitektur den heimischen Tudorstil aufwies, befanden sich neben einer Menge von marmornen und bronzenen Knaben- und Jünglingsstatuen auch die Standbilder von Alcibiades, Alexander, Cäsar, Michelangelo, Friedrich dem Großen und anderen berühmten Männern, gleichsam als eine Ahnengalerie der Knabenliebe, und es fehlte auch nicht an einer sehr kostbar gebundenen Bibliothek der großen »griechischen« Literatur. – Diese Abkömmlinge der herrschenden Familien des Reiches, das noch ein größeres Stück Welt umklammert hält als das alte Rom, fühlten sich als Hellenen im antiken Sinne, als Kulturelite allererlesenster Art: Aristokraten auch in der Erotik. Daß sie gleichzeitig unendlich korrekt waren, jeden Anstoß nach außen aufs peinlichste vermieden, sich in der Welt ohne den leisesten Anschein einer anrüchigen Besonderheit bewegten und alle Pflichten ihres Standes inmitten einer sehr unhellenischen Welt aufs genaueste ausübten bis zum regelmäßigen Kirchenbesuch und standesgemäßer Verehelichung – das machte sie Karl noch besonders sympathisch. Er sah hier mit wahrem Entzücken bereits existent, was er für Deutschland erst erträumte: die streng abgeschlossene Genußwelt einer Kulturaristokratie, die innerhalb ihres allem Gemeingültigen enthobenen Kreises nach eigenen Gesetzen lebt und sich wohl hütet, die Menge zur Mitwisserin der höchsten Genußgeheimnisse zu machen. Selbst das war hier schon vorhanden, was ihm immer als das schwierigste erschienen war: die Amalgamierung des Geburtsadels mit dem Geistesadel. Denn, wenn auch die Söhne der großen alten Familien weitaus in der Mehrheit waren, es gab im Klub der Grünen Nelke doch auch Männer, die nicht durch ihre Geburt, sondern durch Talent ausgezeichnet waren, – natürlich nur solche von Rang im Reiche der Kunst und die sich in den Formen durchaus nicht von den geborenen Aristokraten unterschieden.

Karl hatte die Ballotage überstanden, weil sich ein junger Lord für ihn verbürgt hatte, der sich in besonders hohem Grade der Neigung fast aller Klubmitglieder erfreute, da er nicht allein ein wunderschöner, sondern auch ein überaus liebenswürdiger und bestrickend geistvoller junger Mann war. Man nannte ihn Cäsarion, und der große Dichter der Grünen Nelke, der, der einzige nicht völlig korrekte, weil er als Dichter eine Art ästhetischen Reservatrechts besaß, sich a la Caligula frisierte, hatte einen von allen Modesteinen des preziösen Stiles funkelnden Sonettenkranz auf ihn gedichtet, der, Gold in Marmor eingelassen, gleich Gesetzestafeln das feierlich streng gehaltene Vestibül des Klubs schmückte.

Cäsarion war mehr hingebender Natur und liebte reife, starke, ernste Männer von herrischer Würde. Es war also Karl sein Fall nicht eigentlich. Was ihn an diesem anzog, war sein Geist und die verborgene Energie, die er hinter Karls eher weichlicher Glätte spürte.

Karl seinerseits verliebte sich heftig in Cäsarion, brachte aber nie den Mut auf, sich ihm sinnlich zu nähern. Es war eine sehr überschwengliche, ihn dabei ganz tief ergreifende und beglückende, aber seiner Empfindung nach von vorneherein hoffnungslose Liebe. Indessen, wie es auch bei Verliebtheiten normaler Natur manchmal geht: sein Leiden darunter hatte etwas Schönes. Er pflegte seine unfruchtbare verliebte Qual wie etwas Hohes, Köstliches – und gab sich mit anderen zufrieden.

Die Verhältnisse der Klubmitglieder untereinander waren überhaupt zum weitaus größten Teil nicht direkt sinnlicher Natur, wenigstens nicht in der Betätigungsart, wie man sie gemeinhin annimmt. Dafür waren in der Hauptsache hübsche Jungen von keineswegs aristokratischer Herkunft da: Stallburschen, Hotelpagen, Laufboys und dergleichen.

Man steckte sie zuerst in ein heißes Bad, ließ sie mit Essenzen abreiben und massieren, hing ihnen eine vorn bis zu den Knien, hinten bis zum Ende des Rückgrates herabzipfelnde Chlamys mit goldener Spange um, kräuselte und salbte ihnen das Haar, beschuhte sie mit weichen Sandalen, und ließ sich von ihnen, während man selbst noch in full dress speiste, bedienen. Später dann nahm das Ganze auch äußerlich griechische Formen an. Man lag, wie zu einem Symposion gekleidet, Rosen- und Efeukränze im Haar, auf dicken Polstern aus altchinesischer Seide, ließ zur antiken Hirtenflöte nackte Tänze exekutieren, indessen man unter leisen erotisch-ästhetischen Gesprächen schwere Südweine mäßig trank, und dann mochte sich ein jeder nach Neigung und Wahl mit den entchlamysten Londoner Griechenknaben vergnügen. Es ging dabei nicht schamloser, ja eher gemessener zu, als bei Orgien, die normale junge Herren mit gefälligen Damen veranstalten, und das Gefühl von etwas Unnatürlichem kam bei diesen in ihrer Art durchaus triebmäßig oder ästhetisch voluptuös handelnden Leuten auch nicht für Momente auf, um so weniger, als auch die Boys meist ihrer Natur folgten und keineswegs das Gefühl hatten, mißbraucht zu werden. Es war vielmehr die weitaus überwiegende Mehrzahl unter ihnen sehr glücklich darüber, von diesen vornehmen Herren auf eine ihnen durchaus gemäße und in jeder Hinsicht zusagende Manier karessiert zu werden. Die wenigen übrigen aber, denen diese Manier erst hatte beigebracht werden müssen, fanden sich immerhin durch die sehr reichliche Entlohnung und eine ihnen sonst unbekannte zärtliche Behandlung über das Gefühl des etwas unheimlich Absonderlichen glatt hinweggetröstet.

Indessen gab es ein paar unter ihnen, die weiter dachten und sich aufs Spekulieren verlegten. – Zum Unglück für Karl war sein Antinous darunter, ein junger Zirkusbereiter. Wäre auch Karl ein junger Lord gewesen, so hätte es sich Fred am Ende überlegt, ihm Ungelegenheiten zu bereiten, denn er wußte wohl, daß ein Zirkusjunge wenig Aussichten hat, einem jungen Lord gefährlich zu werden. Aber so: Ein Fremder, und gar bloß ein Deutscher, – es ließ sich wohl versuchen.

Und er fing an, Karl lästig zu werden. Paßte ihm, eine auffällig rote Krawatte vorgesteckt, die Augen etwas unterschminkt, pralle Hosen und ein kurzes Jackett an, bei allen möglichen Gelegenheiten vorm Hotel auf und warf ihm in Gegenwart der Angestellten winkende Blicke zu. – Karl ignorierte es. Aber nun ging Fred ins Hotel hinein und ließ sich bei ihm melden. – Karl wußte sich nicht anders zu helfen: er gab ihm Geld. Aber nun kam der Junge erst recht, und die Hotelleute fingen an, sonderbare Augen zu machen.

Karl war außer sich und fragte Cäsarion um Rat.

»Ausziehn,« war die Antwort.

Wie aber das machen, da Henry sich weigerte?

Der hatte die Sache längst gemerkt und freute sich tückisch darüber. Karl aber konnte sich ihm unmöglich enthüllen.

Die Quälerei dauerte also an, und Karl litt doppelt darunter, als er gerade jetzt in schwer deprimierter Stimmung war.


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