Otto Julius Bierbaum
Prinz Kuckuck
Otto Julius Bierbaum

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»Wegen Hermann. – Du erinnerst Dich: Als ich Dir, vor unserer Heirat, seine Existenz bekanntgab, bat ich Dich, wohl zu erlauben, daß der Junge, wenn er groß genug dazu wäre, uns in München allwöchentlich einmal besuchen dürfe, im übrigen aber nie von ihm zu sprechen. Schon damals meintest Du, ich wollte das so haben aus Rücksicht auf Dich, und ich erklärte Dir auch dazumal, ich bäte Dich meinetwegen darum.

In aller Kürze: seitdem ich Dich kenne, ist mir die Erinnerung an die Beziehungen, deren Frucht Hermann ist, unangenehm. Überlege ich mir: warum? so ergibt sich als Antwort: Ich schäme mich, einmal so instinktverlassen gehandelt zu haben.

Reue ist ein Begriff für gedankenlose Schwächlinge und Dienstbotenseelen. Wer vornehm und stark empfindet und denkt, kann diesen Begriff (der im übrigen nützlich ist) nicht hegen. Dafür weiß er, was Scham ist: nämlich das brennende Gefühl, sich einmal an unrechter Stelle entblößt, sich an etwas ihm Ungemäßes hingegeben zu haben.

Wäre die Mutter Hermanns im Wesen Dir ähnlich, so würde ich diese Scham nicht empfinden und mit herzlichem Dank Dein schönes Anerbieten annehmen, denn dann dürfte ich mich der Existenz Hermanns freuen, indem ich in ihm einen Menschen erblicken dürfte, der Dein Sohn sein könnte. Ich würde mir sagen können: Auch damals bin ich auf meinem rechten Wege gewesen.

Indessen weiß ich nun, daß dies eine Verirrung war, die mir beweist, wie schwach es um mein eigentliches Lebensgefühl bestellt gewesen ist, als ich mich mit Hermanns Mutter einließ.

Ich bin damals auch in der Tat unglücklicher gewesen, als es ein Mensch je sein darf, der Fond besitzt. Ich habe mich selbst aus den Händen gegeben. Ich ließ mich ziellos laufen, geleitet von einer Sehnsucht ohne inneren Halt. Eine runde Hüfte, ein voller blonder Haarkranz, ein paar muntere Augen und eine weiche Stimme von schmeichlerischer Biegsamkeit genügten dazu, in mir die Vorstellung zu erwecken, daß ich ein Wesen gefunden hätte, in dem sich meine Sehnsucht nach harmonischer Ergänzung erfüllte.

Fanny war reizend genug. Hätte ich mich als junger Mensch in ein junges, lebhaftes, leichtherziges Mädchen von ihrer Art verliebt, so wäre auch hinterher nichts dagegen einzuwenden. Ich aber war achtunddreißig Jahre alt und nahm es ganz ernst. Ich ließ sie nicht mehr in ihr Geschäft gehen, sondern mietete ihr eine kleine Wohnung und bemühte mich, sie durch gemeinschaftlichen Besuch von Theatern, Galerien, Sammlungen, Konzerten zu bilden. Und sie war nicht unbegabt. Ihr angeborener Geschmack war eine gute Grundlage, und es war reizend für mich, ein ganz unverbildetes Geschöpf auf mich wirken zu lassen. Aber nach kurzer Zeit schon stellte sich heraus, daß Bildung und Verbildung für sie eins war. Sie verlor (für mich) ihr Bestes und gewann (auch für sich) eigentlich nichts.

Indessen fühlte ich das Unhaltbare des Verhältnisses erst dann ganz, als sie sich Mutter werden fühlte.

Damals ging etwas höchst Peinigendes in mir vor. Was zwei Menschen erst recht miteinander verbinden sollte, trennte mich von ihr; ich empfand eine Art Ekel gegen sie und litt natürlich unter diesem Ekelgefühle um so mehr, als sie instinktiv immer anschmiegender gegen mich wurde. Anfangs zwang ich mich zur Verstellung. Wie furchtbar das war! Mitleid mag eine bewundernswerte Einimpfung von etwas Unnatürlichem, aber meinetwegen höchst Göttlichem in die menschliche Seele sein; ich fühle mich nicht groß genug, seine Erhabenheit zu bestreiten, obgleich ich die Empfindung habe, daß wir damit nicht glücklicher, ja auch nicht edler gemacht worden sind; es ist ein Gegengift gegen alles Urtriebhafte in uns, und wir haben es schließlich so ins Blut aufgenommen, daß wir es nicht mehr los werden; aber es bleibt ein Gift, das zumal unter den Germanen so gewütet hat, daß diese kräftige Rasse dekadent geworden ist, ehe sie reif wurde. Aber immerhin: es ist da, und wir müssen damit leben, so gut es geht. Nur im Verhältnis zwischen den Geschlechtern darf es nicht sein. Wenn aus der Liebe Mitleid wird, ist Pest in der Seele. Die ärgste Brutalität ist anständiger, ist edler, als Verstellung aus Mitleid, wie ich sie geübt habe.

Als mir dies zum Bewußtsein kam, habe ich getan, was sehr häßlich aussieht und doch das einzig rechte war: ich habe Fanny vor ihrer schweren Stunde verlassen. Sie geriet in Verzweiflung. Ich bekam herzzerreißende Briefe von ihr, aus denen ich fühlte, daß sie mich wirklich geliebt hatte, und daß sie sich außerdem durch mein Weggehen zurückgestoßen fühlte in die Niederungen des Lebens. Beides überraschte mich. Ich hatte geglaubt, daß auf ihrer Seite nur das leichtentzündbare Blut des süddeutschen Mädels gesprochen hatte, und dann hatte ich gemeint, daß es ihr nicht ernst gewesen war mit dem, was ich ihr als das »höhere Leben« vorgestellt hatte. Dadurch wurde nun meine Lage ganz qualvoll. Aber ich blieb fest. Ich überschrieb ihr eine für ihre Verhältnisse große Summe zur Etablierung eines Geschäftes und sicherte noch eigens die Zukunft des Kindes, kehrte aber nicht zurück. Sie machte einen ernsten Selbstmordversuch, als sie im letzten Monat ihrer Schwangerschaft war. Doch erfuhr ich davon erst nach ihrer daraufhin zu früh erfolgten Entbindung.

Das sehr schwächlich zur Welt gekommene Kind starb nicht, wie ich gehofft hatte. Es hat sich sogar verhältnismäßig gut entwickelt, wie Du weißt. Aber ich kann Hermann nicht ohne ein gewisses Grauen ansehen, wenn ich mir denke, was im Gemüte seiner Mutter vorgegangen ist, während sie ihn unterm Herzen trug. Seine Seele muß vergiftet sein.

Sieh sein Auge an! Es ist sanft und schön, aber etwas Verschwommenes ist darin. Und wie gebückt ist die Haltung des Jungen. Wie müd sind seine Bewegungen. Er ist durch und durch sentimental. – Erinnerst Du Dich, wie er einen Weinkrampf bekam, als er, bei uns zum Fenster hinausschauend, einen Fuhrmann sein Pferd heftig peitschen sah? Aus einem solchen Jungen ist kein Mann nach meinem Sinne zu erziehen, und eher will ich mir die einzige Aufgabe versagen, der ich mich gewachsen fühle, als daß ich ihre Lösung an einem so untauglichen Wesen versuche. –

Er ist mit nicht nur fremd, sondern fast zuwider. Und mehr als einmal schon hätte ich seinen Besuchen ein Ende gemacht, wenn ich nicht fühlte, wie gerne Du den Jungen hast, und wie sehr er an Dir hängt. So scheu er mir gegenüber ist, ja fast mehr als scheu, feindselig (obwohl er doch seinen »Wohltäter« in mir sieht und nicht seinen Vater), so zutraulich schließt er sich Dir an. Das ist es –: Dich möchte ich ihm nicht nehmen, zumal, da er leider sonst nichts als Trübes und Häßliches um sich herum sieht. Aber weder die Rücksicht auf Dich noch auf ihn kann mich dazu bringen, ihn zu adoptieren. Mit ihm würde jene qualvolle Stimmung wieder Einkehr in mich halten, von der ich oben Andeutung machte. Verzeih es mir, und versuche, auch dies von mir zu verstehen.

Übrigens würde auch die Mutter in eine Adoption nicht willigen. Hat sie ja doch seine Besuche bei uns nur widerwillig und unter der Bedingung zugegeben, daß der Junge nicht erfährt, in welchem Verhältnisse ich zu ihm stehe.

Die arme Frau ist übermäßig schwer dafür bestraft worden, daß auch sie mir gegenüber eine Sünde gegen ihr Wesen begangen hat. Sie hat ja nicht, wie ich, das Glück gehabt, schließlich doch den rechten Weg zu einem Wesen zu finden, das wirklich zu ihr gehörte. Daß ihr Mann ihr Vermögen in albernen utopistischen Unternehmungen durchgebracht hat, war nicht das Schlimmste. Das Schlimmere ist, daß er zu den Theoretikern des sozialen Hasses gehört, die ohne Leidenschaft und Glut, die nur aus »Prinzip« für »ihre Sache« kämpfen. Er gehört zu den Schulmeistern des Sozialismus, in deren Munde selbst die schmetterndsten Phrasen von allgemeinem Glücke zu Formeln werden. Die arme Fanny fühlte sich zu ihm hingezogen, weil sie glaubte, er werde ihr wenigstens die Hand reichen zum Wiederhinaufkommen in das »höhere Leben«. Statt dessen hat er sie in eine Gedankenwelt der Unzufriedenheit und leeren Spekulation eingeführt, in die ihre im Grunde heitersinnliche Natur gar nicht paßt. Nur der Haß, der sie leider vergiftet hat, verbindet sie mit ihm.

Du weißt, wie heftig sie weitere Unterstützung abgelehnt hat, als ihr Geld in der Genossenschaftsgründung ihres Mannes fast völlig verloren gegangen war. Es scheint: sie will, daß ihr Sohn in Dürftigkeit aufwächst. Vermutlich soll er auch einmal ein solcher »Kämpfer« werden wie ihr Mann, ein literarischer Hungerleider voll Haß gegen alle, die nicht bloß satt zu essen, sondern auch Schönheit im Leben haben. Dazu läßt sie ihn (von seinem Gelde) das Gymnasium besuchen, und ich fürchte, sie hat ihn (beeinflußt von ihrem Manne, dem eine solche Schändlichkeit ähnlich sieht) den Einblick in unser Haus auch nur zu dem Zweck gestattet, daß der Neid in ihm rege wird, und dadurch der Haß gegen die Reichen.

So ist der Junge unrettbar verloren. Entstanden aus dem Verhältnis zweier Menschen, die nicht zusammengehörten, schon im Keime vergiftet durch das gepeinigte, bis zum Todeswunsche verirrte Gemüt der Mutter, wird ihm noch immer weiter Giftstoff zugetragen durch seine Umgebung. Hier ist keine Rettung mehr.

Mag er das werden, was sich seine Mutter und der Mann von ihm versprechen, den er für seinen Vater hält. So ist es seine Bestimmung.

Schön ist sie nicht, und er wird daran zugrunde gehen – zugrunde gehen oder sich sänftlich bescheiden, wie es dem Schwachen geziemt. Ich aber möchte einen starken Menschen bilden, der den Anforderungen dieser starken Zeit gewachsen ist.

Deutschland geht einer gewaltigen Zukunft entgegen. Auf den französischen Schlachtfeldern wird jetzt mehr vernichtet, als die französische Windbeutelei und ihr Kaisertum aus Kulissenpappe. Auch die deutsche Sentimentalität, die deutsche Romantik und die deutsche Metaphysik wird dort in Stücke geschlagen. Das neue deutsche Reich, das nun kommen muß, baut sich auf Kanonenerz auf. Sein Baumeister Bismarck, eine so ungeheure Erscheinung, daß man ihr Maß erst erkennt, wenn man, wie ich jetzt, genügend Distanz genommen hat, wird ihm seinen Geist aufprägen, den Geist zugreifender realer Kraft, einen auf reelle Machtwerke gerichteten Geist, der nicht Amboß, sondern Hammer sein will. Wehe allen Sentimentalen, allen Ideologen! Sie werden heimatlos sein im neuen Reiche. Wer aber die neue Zeit als Junger begreift, wird in ihr Möglichkeiten eines machtvoll tätigen großen Lebens finden, eines reichen gebietenden Herrenlebens, das allein starker Seelen würdig und geeignet ist, auch das ganze Leben des Volkes zu erhöhen.

Einen schönen, kräftigen, wohlgeborenen, mit klarem Kopfe und starkem Herzen begabten Jungen so zu bilden, daß er den Geist der kommenden, seiner Zeit begreift und den Willen und die Kraft in sich entwickelt, diesem Geiste nach zu handeln, sich zur lebendigen Lust und damit auch zur Stärkung dieses Geistes im ganzen – das wäre mir eine herrliche Aufgabe, und es würde mich wenig bekümmern, daß er nicht von meinem Blute ist..., da er ja nicht von meinem Blute aus Dir sein kann.

Aber von Hermann sprich mir nicht mehr!...«

Frau Hauart vermochte es nicht, diese Gedankengänge sich zu eigen zu machen, sie empfand etwas Konstruiertes in ihnen und fühlte wohl, daß die Konstruktion wesentlich auf einer Enttäuschung beruhte. Aber doch auch im Wesen ihres Mannes selbst. Und da sie dieses Wesen liebte und wohl wußte, daß Widerspruch dagegen zu nichts führen konnte, als zu Disharmonie zwischen ihnen beiden, unterließ sie es als gute und verständige Frau, ihre Meinung der seinen entgegenzusetzen. Doch wandte sich ihr gütiges Herz nun mit verdoppelter Liebe zum Sohn ihres Mannes. Sie empfand jetzt, ohne sich über das Problem des Mitleids kritische Gedanken zu machen, herzliches Mitleid mit dem zwar nicht sehr hübschen, aber grundsympathischen Jungen, und sein schüchternes, weichmütiges, oft wie unter verhehlten Schmerzen bebendes Wesen, das, was ihr Mann als Sentimentalität bezeichnete, brachte ihn ihrem Herzen nur noch näher. Wenn er sie mit seinen blauen Augen, wie es seine Art war, bewundernd innig, beinahe schwärmerisch ansah, fühlte sie tief, daß in dem armen Burschen eine liebevolle und reiche, aber auch eine überleicht empfindliche Seele lebte. Aber sie hatte auch Gelegenheit, zu bemerken, daß diese Seele starker, ja kühner Wallungen fähig war.

Wollte sie ihm etwas besonders Gutes antun, so lud sie ihn ein, sich in einen der großen Lederfauteuils ihres Musikzimmers zu setzen, wenn sie Stücke ihres ehemaligen Repertoires sang. Da nahm er dann erst schüchtern nur ganz auf dem Rande des umfangreichen Gestühles Platz. Hatte sie aber begonnen, so verschwand alle Befangenheit bei ihm, und bald lag er fast wollüstig hingelehnt im Fauteuil, ganz unbekümmert, ob sich das für ihn schickte oder nicht, und folgte den Tönen mit einem Ausdruck so tiefer Hingenommenheit, daß selbst die Farbe seiner Augen sich zu verändern schien. Ihr sonst blasses und scheinbar leeres Blau wurde tief, und die gesternten Pupillen füllten und weiteten sich. Einmal, als sie das Lied des Pagen gesungen hatte:

Sagt doch, ihr Frauen, die ihr sie kennt,
Ist das die Liebe, was hier so brennt?

sprang er plötzlich auf und rief mit blitzenden Augen, nicht bittend, sondern gebieterisch: »Noch mal! noch mal!« dann aber lief er, indes die Tränen aus seinen Augen stürzten, weg.

Frau Klara gehörte nicht zu den Frauen, die auch bei ganz jungen Leuten an erotisches Triebleben denken, sobald sich einmal ungewohnte Wallungen bei ihnen zeigen. Der Gedanke hätte bei dem damals dreizehnjährigen Jungen immerhin nahegelegen. Denn dieses Lied ist, will man es grob, also unmozartisch, kennzeichnen, das Liebeslied der Pubertät. Aber Frau Klara empfand mit tieferem Instinkte, wenn sie fühlte, daß es hier noch mehr aufgewühlt hatte, als erotisches Unterbewußtsein. Hermann Honrader hatte bei seinem Anhören ungefähr dasselbe erlebt, was etwa gleichzeitig der junge Felix erlebt hatte, wie er den Duft seiner Mutter über sich wahrnahm. Gleich jenem hat auch er dieses Erlebnis nie vergessen. Wohl aber das Gedicht, das er mit tränenüberströmten Backen damals in seiner Kammer niedergeschrieben hat, sein erstes Gedicht, ein Weinen und Trotzen in Versen.


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