Otto Julius Bierbaum
Prinz Kuckuck
Otto Julius Bierbaum

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Zuckungen

Henfel war innerlich roh geblieben, so blank poliert er in allen seinen Äußerungen zu erscheinen wußte. All sein Gebaren war im Grunde Verstellung, und dieser fortwährende Zwang, sich gegen seine Natur zu benehmen, etwas anderes vorzustellen, als was er war, verbitterte schließlich sein ganzes Wesen. Selbst seine Freuden, die aber immer nur auf Genugtuung seiner Eitelkeit beruhten, wurden mehr und mehr durch das Untergrundsgefühl vergällt: Es ist ja alles nicht wahr; alles das bin ja gar nicht ich.

Es begann sich eine Art Haß gegen den Papa in ihm zu regen, ein Drang zur Auflehnung, ein wilder Trieb, sich plötzlich zu enthüllen. Dann kamen wieder Weichheiten, Selbstanklagen, Weinkrämpfe. Er stürzte vor Frau Klara nieder und beschuldigte sich der häßlichsten Dinge, der schmutzigsten Gedanken.

»Werft mich doch vor die Türe«, rief er schluchzend aus, »ich gehöre nicht zu euch. Ich belüge und bestehle euch immerzu. Ich habe böse Gedanken gegen euch. Ich bin eure Liebe gar nicht wert, und ich mag sie auch gar nicht, eure Liebe. Ich möchte fort, weit fort. Und wenn ihr mich nicht wegschickt, so laufe ich davon.«

Er ging ernstlich mit dem Gedanken um, einmal nachts zum Fenster hinaus und über die Parkmauer zu klettern, und weg, nur weg, gleichviel wohin. Natürlich würde er sich die Taschen voll Geld stecken, damit er sich ein Billett erster Klasse lösen könne, um nach... nun, egal: vielleicht nach Hamburg zu fahren und dann zu Schiff weiter, nach... ja: nach Amerika, nach Südamerika, wovon ihm der Alte erzählt hatte... Aber was denn dort? Ah: Pferdehirt in den Pampas. Reiten, jagen, in den Krieg. Irgend so etwas. Wild, wild!« Das waren die Gedanken in der Nacht. Tags aber schien er, wenn auch verdüstert, im Grunde der gleiche, zumal Herrn Hauart gegenüber.

Frau Klara fand es nun aber doch für nötig, ihrem Manne von Henfels Ausbrüchen Kunde zu geben.

Seine Diagnose war schnell da: »Pubertät! Wir müssen ihn ablenken. Eine Reise etwa. Doch die muß vorbereitet sein. Gehen wir mit ihm fürs erste auf ein paar Wochen ins Gebirge. Jetzt können wir ihn ja dorthin führen, denn alle Erinnerung an seine frühesten Jahre wird nun geschwunden sein, und wir brauchen nicht mehr zu befürchten, daß der Aufenthalt zwischen Bauern Gefühle in ihm wach werden läßt, die ihn verwirren könnten.«

Denn das war immer eine Angst des alten Herrn gewesen: Henfel könnte sich einmal auf seine früheste Jugend besinnen und von dem überfallen werden, was er das »Heimweh nach dem Stalle« nannte... Aus diesem Grunde hatte er sich selbst seit dem Eintritt Henfels in sein Haus die Befriedigung seiner Bergsteigerleidenschaft versagt.

Das war ein wirkliches Opfer gewesen, aber kein vergebliches nach seinem Gefühle, weil Henfel in der Tat jede Erinnerung an sein Leben bei den Schirmers verloren zu haben schien. Anfangs hatte er wohl manchmal den Wunsch geäußert, die beiden Gegenstände wiederzusehen, die für ihn mit jenem Leben verbunden waren, als dessen Lichtblicke gewissermaßen: den reitenden Kosaken und den seidenen Schlafrock. Die aber waren in einen Schrank geschlossen und so seinen Blicken entzogen worden. Bald hatte er auch aufgehört, nach ihnen zu fragen, und als er das erstemal wieder von ihnen gesprochen hatte, war daraus hervorgegangen, daß er selbst an sie keine bewußte Erinnerung mehr hatte. Er hatte von einem kleinen Reiter geträumt, ganz braun und glänzend, mit einer Lanze, groß wie ein Federhalter, aber aus Gold, und dann war ein Priester gekommen in langem Mantel aus gelber Seide mit bunten Sternen darauf, nein, es war eine Frau gewesen, eine Frau mit großen schwarzen Augen, und, wie die den Mantel über ihn, Henfel, gelegt hatte, der im Sande schlief neben einem großen Wasser, ganz nackt im warmen Sande schlief, wo es nach Fischen roch und Muscheln herumlagen, da war aus dem Mantel eine Wolke von wunderbaren Gerüchen gekommen, und auch diese Wolke oder dieser Wind war warm gewesen, warm wie die Luft im Pferdestalle unten, aber doch wieder anders. Es war ein wunderschöner Traum gewesen. Ja, richtig, und dann war auch der König vorbeigefahren. Mitten in der Nacht mit Fackeln. Doch das mit der Frau und mit dem Mantel war die Hauptsache gewesen.

Nach dieser Traumerinnerung war nie mehr eine Andeutung aus seinem Munde gekommen, die auf eine, wenn auch noch so schwache Verknüpfung mit den Kindheitsjahren schließen ließ. Nur eines, das offenbar damit zusammenhing, war noch längere Zeit bemerkbar geblieben: ein gewisses respektvolles Interesse für Gegenstände des katholischen Kultus. So hatte er noch vor kurzem von einem Spaziergange eine ganz schlechte, kunstlose Madonnenfigur aus glasiertem Ton mit heimgebracht, die er bei einem Trödler gekauft hatte. Es war eine von denen, wie man sie in den Glaskästen oberbayrischer Bauernhäuser findet. Sie nahm sich nun recht wunderlich zwischen den schönen Renaissancebronzen aus, mit denen Herr Hauart das prächtig ausgestattete Studierzimmer des jungen Herrn geschmückt hatte, aber Henfel bat ausdrücklich darum, sie dort stehen lassen zu dürfen.

»Natürlich ist sie nichts wert«, hatte er gesagt, »aber ich weiß nicht, sie hat so etwas Nettes, nein, so etwas Ruhiges. Ich sehe sie gern an.«

Wenn Herrn Hauarts Psychologie weniger auf theoretischen Voreingenommenheiten begründet gewesen wäre, als auf ruhigem Abwägen wirklicher Empfindungsvorgänge, so hätte er daraus wohl Schlüsse von pädagogischem Werte ziehen können. Er würde eingesehen haben, daß er jene kostbaren Werke der Kleinkunst zu leeren Puppen degradiert hatte, indem er einen Jungen damit umgab, den er dadurch frühzeitig ästhetisch blasierte, weil er ihm das Schöne gemein machte und nicht Zeit ließ, sich rechtschaffen danach zu sehnen, sein Gefühl danach auszusenden wie nach etwas Fernem, Seltenem. Die Wirkung der kunstlosen Tonfigur hätte ihn darüber belehren können, wie heillos er sich in der Erziehung eines Kindes auf dem Holzwege befand mit seinem System der Vorwegnahme aller höheren Genüsse, die ein reifes Alter zur Voraussetzung haben.


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