Otto Julius Bierbaum
Prinz Kuckuck
Otto Julius Bierbaum

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In der Nachfolge Hesekiels

So lebte der weiland Lord Henfel ein verkrochenes Dasein unter dem Schatten des Katechismus dahin. Herr Jeremias und Frau Sanna priesen täglich den lieben Gott, daß er alles so überraschend schnell nach Wunsch gelenkt hatte, indem sie gar nicht mehr daran zweifelten, daß Henry auch ihre nun sehr lebhaft auf ihn gesetzten materiellen Hoffnungen einmal im weitesten Maße erfüllen würde. Sie waren daher in ihrer Art »nett« zu ihm, und besonders Frau Sanna entwickelte bald eine Art Süßigkeit ihm gegenüber, die gewiß das höchste Maß gemütlicher Milde darstellte, dessen die sauer fromme Dame fähig war.

Das krampfhafte Arbeiten für die Schule förderte ihn dort nicht sonderlich. Er blieb im Kreise der Mittelmäßigen, und es gelang ihm nur gerade eben, unter ihnen an die Spitze zu gelangen. Nur sein Nachahmungstalent im deutschen Stile wuchs, und er lieferte als Aufsätze wahre Bücher ab, die jedoch inhaltlich recht wenig enthielten, das wenige aber unermüdlich immer aufs neue paraphrasierten durch hohl einherhallende Perioden.

Es waren vielleicht die einzig glücklichen Stunden dieses öden Jungenlebens, wenn Henry seine Perioden rollen ließ. Dabei fühlte er sich. Er las sie sich auch immer und immer wieder laut vor. Und dann geschah es wohl auch, daß ein Stück vom alten Henfel in ihm erwachte, ein Stück seiner Natur, das selbstgefällige Genügen an der Pose. Er konnte dabei sogar wieder an den Spiegel treten und ein bedeutendes Gesicht schneiden. Nur, freilich: es war jetzt ein Pastorengesicht.

Jenes wolkenhaft in ihm Aufdrängende, das ihn eine Weile geängstigt hatte, schien unterdrückt zu sein, und so ließ auch seine fieberhafte Art, zu lernen, allmählich nach. Dafür begann er nun, ebenso fieberhaft zu lesen. Bücher belletristischen Inhalts standen ihm nicht zu Gebote, denn das christliche Ehepaar übte eine strenge Einfuhrkontrolle aus, und die wohlausprobierten Praktiken, mit denen Karl und Berta die Kontrolle sicher zu umgehen wußten, waren ihm nicht geläufig. So blieb er auf die Schulbücher angewiesen und begnügte sich fürs erste damit, die Echtermeyersche Sammlung deutscher Gedichte zu verschlingen. Es dauerte nicht lange, und er wußte alles auswendig herzusagen, was die damalige Pädagogik an Versdichtungen der deutschen Schuljugend vorzulegen für gut befand. Aber schließlich war auch das Interesse daran einmal erschöpft, und er sah sich nach anderer, in der Schule noch nicht durchgenommener Lektüre um.

Aber ach, fast alles war abgegrast; zum Teil sogar grammatikalisch. Nur in dem dicken feierlich in schwarzes Leder gebundenen Buche der Bücher gab es weite Strecken, dahin ihn kein Lehrer geführt hatte. Er fiel also über die Bibel her und las die Geschichten des Alten Testamentes mit Begierde. Aber so, wie der alte Magister Franke gewünscht hat, daß ein rechter Christ die Bibel lesen solle, las er sie nun nicht. Statt sich »mit wahrem Fleiße davor zu hüten, daß er nicht etwa einen heimlichen falschen Grund in seinem Herzen habe, oder irgendeinen unrechten Zweck, warum er die heilige Schrift lese«, ging er ganz deutlich darauf aus, in ihr die Sensationen zu suchen, die sonst junge Leute seines Alters in profaneren Büchern finden. Denn, wie vieles in ihm auch unterdrückt zu sein schien durch jenen probaten Mahlstein: es war doch alles nur niedergewalzt und wartete auf die Gelegenheit, sich zu erheben. So auch der Hunger seiner Phantasie. Hätte ihm das christlich wandelnde Ehepaar den Daheim-Kalender oder ähnliches zur Verfügung gestellt, so würde er sich, akkommodationsfähig wie er war, wohl auch damit befriedigt gefunden haben, und es wäre ein leichtes gewesen, ihn auf der gleichen Linie behutsam und sicher weiterzuführen in die harmlosen Auen traktätchenhaft moderierter Belletristik, auf denen eine fromme Seele keinen Schaden erleiden kann. Aber Herr Jeremias hielt selbst diese Erzeugnisse der fabulierenden Literatur für eitel Blendwerk, durchaus unziemlich als Lektüre für einen Christenmenschen, sei er nun alt oder jung. Wie er sich ausschließlich auf Bibel, Gesang- und Geschäftsbuch beschränkte, so sollten auch die seiner väterlichen Gewalt unterstellten Kinder sich damit begnügen; nur daß bei ihnen die Schulbücher an Stelle des Geschäftsbuches standen. Schlimm genug, daß diese Schulbücher schon so mancherlei enthielten, das seiner Meinung nach geeignet war, den Geist auf falsche Bahnen zu lenken.

Hier meldet sich nun freilich die Frage: Kannte Herr Jeremias denn wirklich die Bibel? Wußte er nicht, daß in ihr, zumal im Alten Testamente, Dinge von höchster Verfänglichkeit stehen? Worte von schwellender, gewaltiger Brunst, die wohl ein Alter theologisch lesen kann, hinter denen ein junger Mensch aber Fleisch und Blut wittert?

Antwort: wohl kannte Herr Jeremias die Bibel und wohl jene Worte. Aber er war so durchaus ledern und phantasielos, daß es ihm nie eingegangen wäre, ein katechismusbeladener Geist könne die Bibel jemals anders denn als das große Quellenwerk des Katechismus lesen. Herr Jeremias, der gespenstische Christ, der vor jedem nackten Bilde Reißaus nahm und imstande war, einen Kunsthändler, der eine Abbildung der Venus von Milo im Schaufenster hatte, dem Staatsanwalt Ärgernisses halber anzuzeigen, las die nackten Worte der Bibel mit entzücktem Gemüte, denn für ihn waren sie bekleidet, wunderlich und gar herrlich bekleidet mit christlichen Auslegungen. Alle Huren des Alten Testamentes bedeuteten für ihn sibyllinische Hinweise auf Christum. Er, dem unzüchtige Worte greuelhaft waren (und fast ein jedes Wort, das eine gewisse Körperpartie streifte, konnte für ihn eine unzüchtige Bedeutung annehmen), las mit wahrer Genugtuung, jede Derbheit auskostend und pastoralen Tones unterstreichend, die unerhörtesten Schilderungen geschlechtlicher Vorgänge selbst seiner keuschen Susanne vor, wenn sie auf Bibelpapier standen. Sein christlicher Grimm vernahm es mit Wohlgefallen, wenn Hesekiel die Königreiche Juda und Israel mit zwo Huren verglich, und von seinen Lippen floß es wie Öl und Ambra, wenn er gewaltig las: »Hesekiel, Kapitel dreiundzwanzig: Siebzehntens: Als nun die Kinder Babels zu ihr kamen, bei ihr zu schlafen nach der Liebe, verunreinigten sie dieselbe mit ihrer Hurerei, und sie verunreinigte sich mit ihnen, daß sie ihrer müde ward.

Achtzehntens: Und da beides, ihre Hurerei und Scham, so gar offenbar war, ward ich ihrer auch überdrüssig, wie ich ihrer Schwester auch war müde geworden.

Neunzehntens: Sie aber trieb ihre Hurerei immer mehr; und gedachte an die Zeit ihrer Jugend, da sie im Ägypterland Hurerei getrieben hatte.

Zwanzigstens: Und entbrannte gegen ihre Buhlen, welcher Brunst war wie der Esel und der Hengste Brunst. (Jeremias 5,8.)

Einundzwanzigstens: Und bestelletest deine Unzucht wie in deiner Jugend, da dir in Ägypten deine Brüste begriffen und deine Zitzen betastet wurden.«

Fiel dann Frau Sanna etwa ein: »Tja, aber, eigentlich ist das doch alles recht anstößig und unpassend,« so verwies er ihr diese Anwandlung von Bibelkritik fast heftig – »Gott selber hat so zu seinem Propheten gesprochen, Sanna, und also ist es im höchsten Grade passend und in keinerlei Hinsicht anstößig; zudem ist es in Gleichnissen gesprochen nach dem Verstande der abgöttisch gewordenen Juden, und jedes dieser kräftigen Worte bedeutet etwas gar anderes. Z. B. Hurerei! Das heißt nicht Hurerei, sondern Götzendienst. Oder »welcher Brunst war wie der Esel und Hengste Brunst«. Das heißt nicht, – nun ja, kurz, es bedeutet: deren Sinn auf irdische Lust gerichtet war gleich dem Sinne unvernünftiger Kreaturen. Es ist überaus herrlich gesagt, und die Nutzanwendung auf heutige Zustände liegt auf der Hand.«

So Herr Jeremias; und Frau Sanna schämte sich ihres Zweifels.

Als aber Henry in einer schwülen Nacht auf dieses dreiundzwanzigste Kapitel des Propheten Hesekiel stieß, da zeigte es sich deutlich, daß der Teufel heutzutage nicht mehr wie in früheren Zeiten vom Hauche umgewendeter Bibelblätter davongejagt wird gleichwie von einem Sturme. Vielmehr er reckte sich in Henry auf; die drohende Wolke schwoll empor; in allen Blutstropfen des längst reif gewordenen und nur in allen seinen Trieben radikal beschnittenen Jungen saß triumphierend Satanas und besorgte eine Zirkulationssteigerung vom heftigsten Tempo.

Das war nicht Juda und Israel, zubenannt Ahala und Ahaliba, was nackt, heiß, winkend vor ihm aufstieg aus den schwarzen Zeilen, leuchtend im Fleische, mit wollüstigen Schenkeln und starren Brüsten, die Arme über sich hebend und den Leib vorwölbend: – das war das Weib. Mit einem Male standen in Fleisch und Blut alle die nackten Frauenleiber lebendig vor ihm da, die er mit kühlem Blicke von einem unverstandenen ästhetischen Standpunkte aus henfelmäßig blasiert auf Bildern und Stichen in der Villa Hauart erst betrachtet und schließlich übersehen hatte. Die Worte des Propheten, die Herrn Jeremias Gefäße der göttlichen Weisheit waren, waren für ihn zuckende, heiße, hinweisende, schamlos betastende Hände. Was der theoretisch belehrte Henfel schon gewußt, der unter dem Mahlsteine fromm gewordene Henry aber vergessen hatte, wußte dieser neue Mensch, diese Mischung aus beiden, wußte Henfel-Henry auf einmal wieder. Und er ahnte Unsagbares hinzu. Sein Blut sprach dunkle, dröhnende, wilde, keuchende Worte. Es schrie und jauchzte etwas in ihm auf mit Naturlauten, bei deren Brausen alle die Echostimmen seines Innern, jedes Widerklingen fremder Einflüsterungen verstummte.

Diese Nacht schlief Henry nicht. Er schlief dafür am nächsten Morgen während der Predigt in der Kirche.


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