Otto Julius Bierbaum
Prinz Kuckuck
Otto Julius Bierbaum

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Vom Reisen

Henfel freute sich beinahe kindlich über den Ausflug ins Gebirge, zumal Herr Hauart seinem Wunsche stattgab und einwilligte, daß man bis Mittenwald, von wo aus die Kletterpartien unternommen werden sollten, die alte vierspännige Hauartsche Reisekutsche benutzte. Das war ein ziemliches Ungetüm. Vorn ein Bock mit Verschlag, dann, viersitzig, das Coupé für die Herrschaften, dann zwei Dienersitze und schließlich noch ein weitauslaufendes Stahlgestänge zum Aufschnallen der Koffer.

Auch dieses ehrwürdige Gefährte gab Herrn Hauart Anlaß zu prinzipiellen Erörterungen. »Ich hoffe«, sprach er, »daß du diese alte Kutsche, die ich einmal auf einer Versteigerung in London erworben habe, und die jetzt vielleicht die einzige ihrer Art auf dem Kontinente ist, noch oft benutzen wirst, indem du es vorziehst, in ihr, statt mit der Eisenbahn, zu reisen. Hüte dich überhaupt, ständig von den Verkehrsmitteln Gebrauch zu machen, die der Allgemeinheit dienen und daher im Grunde auf den Pöbel zugeschnitten sind, weshalb sie, neben der Volksschule und der allgemeinen Dienstpflicht, die Hauptmittel zur Demokratisierung der Gegenwart bilden. Sich gegen diese Tendenz direkt aufzulehnen hat keinen Zweck, denn sie ist augenblicklich so im Anschwellen begriffen, daß der einzelne, der sich ihr entgegenstemmen wollte, nur den zweifelhaften Ruhm eines Don Quixote erringen würde. Selbst Bismarck hat diese Tendenz nicht ignorieren können, war vielmehr gezwungen, sich ihrer zur Erreichung seiner nächstliegenden Ziele zu bedienen. Ob er freilich wirklich glaubt, daß das allgemeine Stimmrecht dauernd dazu berufen ist, an der Lösung der ungeheuren Aufgaben mitzuhelfen, die dem deutschen Reiche bevorstehen, wird sich erst noch zeigen. Ich hoffe, du hast nicht vergessen, was ich dir voriges Jahr in jener Geschichtsstunde gesagt habe, als uns das Extrablatt das zweite Attentat auf den Kaiser meldete, und was ich dir dann später im Zusammenhange mit der römischen Kaisergeschichte weiter ausführte, als das Sozialistengesetz durchgegangen war. Ich durfte mich damals über dein Verständnis für die zwar unumstößliche, aber heutigentags wie von Nebeln verschleierte Logik der Tatsachen freuen, und habe dich immer wieder darauf hingewiesen. Ist sie dir noch gegenwärtig?«

Henfel, ganz im Anblick des großen Wagens und in der Vorstellung versunken, wie er vom Bock aus die vier Rappen bergauf, bergab zügeln werde, hatte nur mit halbem Ohre hingehört, war aber mit einem starken Gedankensatze mitten in der gewünschten Antwort, die er schon oft genug prompt zutage gefördert hatte, und er sprach mit ernster Miene gleich, als ob er sich dabei etwas dächte: »In der Politik führt nur rücksichtslose Ausübung der Gewalt zum Ziele. Wer nicht die Herrschaft der Masse will, muß die Masse unterdrücken. Dies ist nicht als Ungerechtigkeit anzusehen, denn die Gerechtigkeit will es, daß nur die Besten, die Starken herrschen. Die Masse der Schwachen soll aber in einem Zustande materieller Zufriedenheit erhalten werden, und es muß die Möglichkeit bestehen, daß die starken Elemente in ihr zu den Herrschenden emporsteigen. Doch darf diese Möglichkeit nicht zu leicht gemacht werden, damit nur eine Auslese der ganz Starken die Schwierigkeit überwinde.«

Herr Hauart hörte seinen Sohn mit Befriedigung an, nickte mit dem Haupte und sprach: »Ob du einmal als Staatsmann für die Durchsetzung dieser dir jetzt schon als Wahrheiten ins Bewußtsein gedrungenen Prinzipien tätig sein willst, steht bei dir. Du weißt, ich rate ab, es sei denn, du fühlst einen unüberwindlichen Drang dazu. Hoffen will ich es nicht. Das Anschwellen der demokratischen Flut könnte heute doch nur in dem günstigsten Falle unterbrochen werden, den Bismarck durch das Sozialistengesetz herbeiführen zu wollen scheint, daß nämlich die revolutionären Elemente, durch ihre Unterdrückung gereizt, sich zu einem Aufstande verleiten lassen. Gleichzeitig mit diesem wäre dann das verhängnisvolle allgemeine Stimmrecht leicht zu unterdrücken.«

Henfel machte sich am Wagen zu schaffen und warf ein: »Verzeihung, Papa, ich glaube, du mußt die Federn nachsehen lassen. Auch die Polster sind ganz eingedrückt und die Scharniere verrostet.«

»Das alles sei dir übergeben, Henfel, denn es handelt sich ja um deine Reise«, entgegnete Herr Hauart, »aber du bringst mich da auf das zurück, wovon ich ausgegangen bin. Ich meine: selbst in solchen Dingen des äußeren Lebensgenusses, wie etwa einer Reise, sollst du bestrebt sein, dich von öffentlichen Bequemlichkeitsmitteln möglichst unabhängig zu machen, auch wenn es den Anschein hat, als ob du damit Vorteile aufgäbest. Sie sind nur scheinbar und jedenfalls unwesentlicher Natur. Du hast es nicht nötig, wie ein Commis voyageur schnell von Ort zu Ort zu gelangen und dich deswegen mit jedem Beliebigen in ein Coupé einsperren zu lassen. Wenn du reisest, so sei es auf die einzig vornehme Art: mit Pferd und Wagen. Welche Genüsse eine solche Reise en grand seigneur bietet, wirst du schon bei deinem kleinen ersten Ausflug spüren. Der Reiz einer wirklichen Reise liegt im Außerordentlichen einer besonders freien und nicht ins einzelne berechenbaren Tätigkeit und in der größeren Möglichkeit von Zufällen. Wenn irgend etwas beweist, daß unsere Zeit bis in die höchsten Schichten hinauf durch den demokratischen Wirbelgeist um alle vornehmen Instinkte gekommen ist, so ist es die Frequenz der Eisenbahnen auch durch Leute, die über genügende Mittel an Geld und Zeit verfügen, um anständig, das heißt wirklich zu reisen, während sie sich nun gedanken- und würdelos gleich Gepäckstücken transportieren lassen.«

Wenn Henfel darauf antwortete: »Dazu liebe ich Wagen und Pferde viel zu sehr, Papa«, so war das einmal recht und nicht bloß als Echo geantwortet. Eben gerade darum aber war Herr Hauart mit dieser Antwort nicht ganz zufrieden. »Ich hoffe: auch deine Freiheit und Selbstbestimmung, Henfel. Nicht?« sagte er.

– »Aber natürlich, Papa. Ich habe dich sehr wohl verstanden. Es ist auch eine Art Demonstration gegen das Gemeine.« So schloß auch diese Schulstunde in der Wagenremise zur vollkommenen Genugtuung des unermüdlichen Einbläsers, der sich für einen Pädagogen hielt.


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