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Die ganze Gesellschaft, auch die Herren (bei dieser Gelegenheit auf die Dinerzigarre Verzicht leistend), hatte sich indessen in dem neuen Salon der jungen Gräfin vereinigt, dessen Wandbekleidung, Fußbodenbelag, Vorhänge, Möbelstoffe gleichmäßig in einem sanften Altblau mit sparsamem Dekor in grau abgeschattetem Rosa gehalten waren, wovon sich das nachgedunkelte, von flachen, mattierten Bronzebeschlägen diskret unterbrochene schwärzlich rote Mahagoni der Möbel bestimmt und doch weich abhob. Das gelbe Licht der Wachskerzen erfüllte diesen Raum der lautlosen Farben wie mit einem warmen Lichtbade. Selbst die vom Reden, vom Wein und von der unsichtbar irgendwoher wollüstig leise hereinflutenden Walzermusik erregten Damen wagten hier anfangs nur zu flüstern. Wie aber der narkotische Geruch des Kaffees sich mit dem Dufte der vielen dunkelroten Rosen, die in breitbauchigen graublauen chinesischen Vasen und bronzenen japanischen Räuchergefäßen auf allen Tischen samtig tief leuchteten, zu einem stimmulierenden Parfüm von fast berauschender Fülle vereinigt hatte, und die unsichtbare Musik in die lebhafteren Weisen einer hüpfenden Gavotte überging, hoben sich die Stimmen und mit den schweren Likören stellte sich auch der Grundbaß männlichen Gelächters und der frische Diskant lustigen Frauenlachens ein. Das seidene Rauschen der Damenröcke, silbernes Klirren von männlichen Sporen, leises Aneinanderklingen von Porzellan und Glas machte die Symphonie angenehm belebter, behaglich heiterer Verdauungsstimmung vollständig. Über allem aber dominierte das volle Lachen des glücklichen Hausherrn, der, von Gruppe zu Gruppe schreitend, immer aufs neue und in immer lebhafteren Tönen es vernehmen durfte, wie entzückt, ja begeistert man von der jungen Herrin des Hauses war. –
Da stand plötzlich in der Türöffnung zwischen den mattblauen Portieren eine schlotternde Gestalt, und man hörte die hervorgekeuchten Worte: »Master! Master!« Alles wandte sich um und sah ein schwarzes, verzerrtes Gesicht, gefletschte Zähne zwischen bebenden blaßroten Lippen und zwei weiße Augenöffnungen, aus denen das Entsetzen selber starrte.
Totenstille brach alles Reden und Lachen mit einem Schlage ab.
Henry Felix stürzte zur Türe und schob die Negerin hinaus. Graf Pfründten war mit einem Sprunge bei ihnen. Die ganze Gesellschaft drängte nach, als man den alten Grafen draußen stöhnen hörte: »Tot! Tot! Wo?«
Alles schob sich in den breiten Korridor, wo man die beiden Grafen wie in einem Handgemenge sah.
»Bleiben Sie doch! Bleiben Sie um Gottes willen!« schrie Henry Felix.
»Sind Sie von Sinnen!« rief Graf Pfründten und bemühte sich, ihn beiseite zu schieben. »Wozu wollen Sie mich abhalten!«
»Sie... dürfen nicht, Graf!« schrie Henry Felix, dessen kalkweiß gewordenes Gesicht zu einer Grimasse der Todesangst verzerrt war.
»Ich – darf nicht?!« keuchte der Graf und sah ihn mit einem Blicke an, vor dem der immer noch Abwehrende zurückwich. »Geben Sie die Bahn frei, oder...« Er erhob den rechten Arm.
Der Oberst drängte sich vor und legte ihm die Hand auf die Schulter: »Bitte, Graf, Besinnung!« Und zu Henry Felix: »Was ist eigentlich geschehen!?«
»Es läßt sich in Gegenwart der Damen nicht sagen,« murmelte der, während ihm Lala einen Brief in die Hand schob. »Es ist zu entsetzlich.«
Seine zitternden Finger öffneten mechanisch den Brief.
Der Oberst wandte sich um: »Wollen sich die Damen nicht zurückziehen?«
»Nein!« schrie Graf Pfründten auf. Dann, ruhig, leise, betont: »Dieser Brief ist entweder an mich gerichtet, wie ich hoffe, und dann wird ihn mir der Herr Graf Hauart sofort überreichen, oder... er ist... nicht an... mich gerichtet, und dann wird er ihn laut vorlesen, oder ich... werde ihn... vor allen Anwesenden...«
Der Oberst hielt ihn fest.
Henry Felix warf einen Blick auf die Adresse und sagte tonlos:
»Er ist an meine Frau gerichtet.«
Graf Pfründten trat einen Schritt zurück, maß Henry Felix mit einem langen Blicke und sagte ruhig: »Dann hat niemand hier ein Anrecht, zu erfahren, was er enthält, und ich – brauche es nicht mehr zu wissen. Ich weiß genug. – Gehen Sie beiseite, Herr Graf, und wagen Sie es nicht, mir zu der Toten zu folgen. Ich möchte mich nicht gerne... in Ihrem Hause an Ihnen vergreifen.«
Henry Felix biß die Lippen aufeinander und machte dem Grafen Platz.
In der beklommenen Stille, die jetzt eingetreten war, hörte man nur den stoßenden Atem des Hausherrn und die sporenklirrenden Schritte des sich Entfernenden.
Berta trat an Henry Felix heran und sagte leise, kurz: »Gib!« Er reichte ihr wie bewußtlos den Brief.
Die Gesellschaft empfahl sich bis auf den Prinzen, der mit Henry Felix in das Studierzimmer ging, während die Gräfin das Schlafgemach aufsuchte.
»Gräßliche Sache!« murmelte der Prinz. – »Über alle Maßen scheußlich. – Wichtigste Regel verletzt: niemals irgendwie was mit Dame von Regiment. Nimmt immer böses Ende. Diesmal aber besonders greulich.«
Henry Felix starrte apathisch vor sich hin. Er dachte nicht an die Gräfin Erna, die mit aufgeschnittenem Halse im Bette der Nicchietta lag; er dachte auch nicht an die Gräfin Berta, die jetzt einen Brief las, der gewiß einen scheußlichen Inhalt hatte; er dachte nur an den Blick, an die Worte des Grafen Pfründten und daran, daß dieser der beste Pistolenschütze des Regiments war.
Der Prinz ging auf und ab und entwickelte seine Meinung von der Sachlage: »Hätten Ihrerseits nach Auftritt vorhin alle Ursache, vorzugehen. Warten aber besser ab. Pfründten schließlich doch der schwerer Beleidigte. Wird nicht lange warten lassen.«
Unter dem Fenster knirschten Schritte.
Henry Felix sprang auf.
Der Prinz verstand die Bewegung, die wahrhaftig nicht aggresiven Gefühlen entsprang, falsch und sagte: »Bitte, Ruhe! Nur keine Auseinandersetzung! Ruhig reden lassen!«
Graf Pfründten erschien in der Türe. Er sah unheimlich greisenhaft aus, hielt sich aber straff aufrecht und sprach ganz ruhig: »Gut, daß Sie da sind, Prinz. Ich hätte ungern das Wort an diesen dort gerichtet. Man muß die Leiche fortschaffen lassen. Ich schicke Wagen und Träger. Sie veranlassen wohl, daß der Pavillon geöffnet bleibt, und nehmen es auf sich, daß kein Unberufener es sich untersteht, diesen Raum zu betreten. Alles übrige morgen. Diese Angelegenheit muß noch erledigt werden, ehe meine Frau unter der Erde ist. Gute Nacht, Prinz!« – Er ging, ohne Henry Felix auch nur mit einem Blick zu streifen. Der hatte sich wieder gesetzt und starrte auf den Boden.
»Gehen Sie zu Ihrer Frau, Graf!« sagte der Prinz. »Braucht auch Trost. Doppelten. Wird hoffentlich verständig sein. Habens ohnehin schwer.«
Aber Henry Felix rührte sich nicht. Er war völlig niedergebrochen.
Plötzlich schluchzte er auf und stützte weinend den Kopf in beide Hände.
Der Prinz trat zu ihm: »Na ja. So was wirft um. Aber trotzdem: Kopf hoch! Haltung Hauptsache.«
»Gibt es denn keinen Ausweg?« stöhnte Henry Felix. »Ich kann doch unmöglich gerade jetzt...«
Prinz Assi riß die Augen so weit auf, daß das Monokel zu Boden fiel.
Er hob es auf, klemmte es ein und sagte, die Brauen zusammenziehend: »Ausweg? Wie meinen?«
»Ich bin ja zu jeder gewünschten... zu allem bereit,« flüsterte Henry Felix, der nicht mehr imstande war, zu verbergen, welches Grauen ihn jetzt schüttelte.
»Erlauben, Graf,« sagte der Prinz betont, indem er sich zum Gehen wandte, »solche Phantasien sind, äh,... sind nicht mehr am Platze.«
Er ergriff die Hand des Zusammengesunkenen mit einem Ausdruck von Unbehagen und sagte: »Werde also nach Pfründtens Wunsch Anweisungen geben. Brauchen sich nicht zu kümmern. Setze voraus, daß gleichfalls nach seinem Wunsch verfahren werden wegen... na ja... nicht in den Pavillon. Verlasse mich drauf.«
»Ich werde diesen Raum nie wieder betreten,« murmelte Henry Felix; »ich lasse das Mauerhaus noch morgen abtragen. Ich gehe überhaupt fort von Hainbuchen.«
Prinz Assi war kein großer Psychologe. Trotzdem sagte er sich: du möchtest wohl am liebsten jetzt überhaupt fort von hier. – Und seine Kenntnis der pfründtenschen Schützenkunst setzte hinzu: du wirst aber kaum mehr dazu die Beine haben.
Während ihr Mann, zerfressen von Angst und Argwohn, hin und her geworfen von Todesgrauen und dem wütenden Wunsche, zu leben um jeden Preis, in seinem Stuhle saß, bald laut emporheulend, bald tief aufstöhnend, lag Berta ruhig in dem großen üppigen Bette unter der blauseidnen Decke, übergossen von einem angenehm gedämpften Lichte, das aus dem Opalglase muschelig geschaffener Schalen milchig weißbläulich in den mit allem Raffinement auf Wollust abgestimmten Raum fiel. – Der tragische Abschluß ihrer ersten Gesellschaft hatte sie nicht eben tief berührt, nur gerade etwas aufgeregt, und der Brief der Toten war ihr im Grunde eine prickelnde Sensation gewesen.
Eine ihretwegen verschmähte Nebenbuhlerin, die sich überdies – zurückzieht, – sollte das etwas Schreckliches sein? – Ich werde mich wegen Henry gewiß nicht umbringen, dachte sie sich, auch wenn die arme Närrin mit ihren drohenden Prophezeiungen recht behalten sollte, daß er mich gleichfalls »betrügen« wird. Übrigens war es um ihre Logik schlecht bestellt, denn ihre Hauptdrohung ist ja die, daß er gar keine Zeit mehr dazu haben wird, da ihn die unfehlbare Pistole des beleidigten Witwers ihr innerhalb zweier Tage nachsenden solle.
Es schlug zwölf Uhr, als die Schritte der Träger über den Parksand knirschten.
Henry Felix schrak zusammen. Es trat vor seine Erinnerung, wie oft dieselben Schläge Erna an den Abschied erinnert hatten.
Der Gedanke, daß sie nun zu ihrem letzten Abschiede schlugen, machte ihn nicht weich. Er haßte diese tote Frau jetzt, die sich seinethalben immerhin hätte ermorden dürfen, wenn sie es nur nicht in der Absicht getan hätte, damit auch ihn ums Leben zu bringen. Diese Leiche war ihm kein Vorwurf, sondern ein Greuel. – Aber die Glockenschläge, so oft hineingeläutet in seine heißesten Lebensgefühle, brachten ihm keine Leiche vor das innere Auge, sondern üppiges, verliebtes Leben: die Erinnerung an die zärtliche, andrängende Nacktheit Ernas, an das Unersättliche in ihren Küssen und Umarmungen, an das wollüstig Bebende in ihrer Stimme und an den Duft ihres heißen Körpers.
– Und ich soll sterben?! tobte es in ihm auf, ich, den ein paar Glockenschläge wollüstig betäuben, über alles Grauen des Todes wegtragen zu neuen Begierden? Ich will nicht sterben! Ich darf nicht sterben! Ich kann meine Lebenskraft nicht diesem blödsinnigen Phantom der Ehre oder gar Vergeltung aufopfern. Mir gehört eine Frau, die noch zehnmal schöner und heißer ist als diese Tote, und ich will sie nicht bloß genießen, wie jene, sondern sie mir auch völlig untertan machen. – Ja, sie lauert auf mich. Ja, jene Geheimnisvolle, die alles weiß, was mich angeht, hat recht: sie will nicht Liebe, sondern Rache genießen. Ja, ja, ja: alles das ist so: dunkel, gefährlich, glühend, verhängnisvoll. Und eben darum brauche ich meinen Mut zu der höheren Aufgabe, diese Gefahr zu bestehen, dieses Verhängnis zu besiegen. Mein Schicksal ruft. Ihm muß ich folgen. Nicht in den Tod, sondern ins Leben. Ich bin nicht bestimmt, ein Opfer des Todes zu sein, sondern ein Sieger, dem das Leben immer neue Schönheit, immer neue Nahrung des Genusses opfert.
Die Bahre wurde unter seinen Fenstern vorübergetragen.
– Sie hat mich immer unterschätzt, die da unten, sagte er sich. Und jetzt am meisten. Ihr Anschlag hat mich nicht geschwächt, sondern gestärkt. Was auch in Berta alles gegen mich lebendig ist: jetzt wird es schweigen, wenn sie sieht, daß selbst dieser Schlag mein Lebensgefühl nicht gedämpft, sondern erhöht und zu Entschlüssen emporgetrieben hat, die die ganze Anlage meiner Lebenspläne wie ein Kartenhaus umstoßen, um dafür einzig eine Existenz der Liebe zu ihr, mit ihr aufzurichten. Sie selber soll es sein, die mich anfleht, das Odium der Feigheit, den Verlust des Offizierstitels auf mich zu nehmen, – um ihretwillen. – –
Und so geschah es.
Die Seele Bertas schwieg auch jetzt, als ihre Sinne sprachen. Aber sie gab nichts auf, indem sie schwieg, und sie sah wohl, daß hinter den großen Worten und Gebärden dessen, der vom Mute zum Leben sprach und doch nicht den Mut zum Sterben hatte, ohne den dieser Mut ein Unding ist, nichts war, als eine trübe Leere.