Otto Julius Bierbaum
Prinz Kuckuck
Otto Julius Bierbaum

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Der gefrorene Christ

Herr und Frau Kraker

Herr Jeremias Kraker war ein strenger Lutheraner. Selbst auf seinem Kontorschreibtische stand ein gipserner protestantischer Christus mit ausgebreiteten Armen, und er unter ließ es nie, auf die erste Seite eines Geschäftsbuches mit seinen klaren Kaufmannszügen zu schreiben: Mit Gott (rot unterstrichen).

Trotzdem war sein erster Gedanke, als er das Telegramm gelesen hatte: Das schöne Geld! Der nächste Gedanke aber schwenkte bereits ins Religiös-Moralische ab: In den Alpen! Natürlich! Der gottlose Übermut! Immer hinauf! Immer hinaus aus den Schranken der Demut! So führte Satanas selbst Christum auf den Gipfel eines Berges.

Dann ein kurzer Schreck: War es nicht am Ende gar Selbstmord? Beide! Endigen Weltkinder nicht oft ein Leben des Frevels mit einem Frevel, der der Frevel aller Frevel ist? Müssen solche Menschen nicht in Verzweiflung untergehen?

Jetzt meldete sich nun aber doch Christus zum Worte: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!

Herr Jeremias neigte demütig sein Haupt: Friede ihrer Asche! Mein ist die Strafe, spricht der Herr.

Und nun wieder der Geschäftsmann: »Henry Felix Hauart«, das heißt: der Erbe. Wäre der nicht da, so fielen die zehn Millionen an uns...

Pfui! warf der Christ prompt ein, denk an das Wort von den Motten und dem Rost!

Ja doch, ja, meinte der Kaufmann, aber – zehn Millionen! Und ich habe zwei Kinder. Nicht an mich denk ich ja (hier soufflierte schon wieder der Christ), sondern an sie, denen das Geld von Gottes und Rechts wegen gehört, da sie wirklich Blutsverwandte des Verstorbenen sind, während dieser hineingeschneite Irgendwer... Oh, ich weiß wohl, warum er ihn adoptiert hat! Aus Bosheit gegen uns, weil wir ihm seine unanständige Ehe verdacht haben!... Es war am Ende doch wohl unklug. Wer weiß, ob er nicht, wenn wir uns zu ihm gehalten hätten, schließlich doch... oder auch die Frau selbst... aus Dankbarkeit gewissermaßen...?

Nein! erhob sich gestrenge der Christ. Es war moralische Pflicht! Schäme dich, Jeremias! Wenn du jetzt Einbuße erleidest an irdischen Gütern – es wird dir gutgeschrieben im großen Grundbuche der ewigen Gerechtigkeit, für die du diese Prüfung auf dich genommen hast.

Prüfung! ja, das wars. Eine Prüfung des Rechtschaffenen nach dem Sinne des Wortes: Die Gott liebet, züchtiget er.

Der Christ war guter Dinge, aber auch der Kaufmann partizipierte daran. Denn, so dachten Christ und Kaufmann zugleich: Die Gerechtigkeit gewinnt die Krone – und manchmal schon hienieden.

Herr Jeremias Kraker, froh, wieder einmal den guten Kampf siegreich bestanden zu haben, verließ das Kontor, obwohl die Geschäftszeit noch nicht aus war, und ging nach Hause zu seiner Frau, die nicht weniger fromm war, als er. Sie hatte sich ihm in ihrer langen Ehe, wie innerlich, so auch äußerlich angeähnelt. Man hätte sie für Geschwister halten können, diese beiden langen dürren Menschen mit scheinbar geschlechtslosen Zügen, die ebensogut beide in Männerkleidern oder beide in Frauenröcken hätten gehen können, so neutral sahen sie aus. Beide waren schmallippig, scharfnasig und auch im Gesichte von sparsamer Fleischentfaltung. Verschieden waren nur die Augen, aber auch nur in der Farbe (braun bei ihm, blau bei ihr), nicht im Ausdrucke. Denn der Ausdruck war bei beiden streng, kalt und dennoch von einer gewissen Demütigkeit. Man kann das Phänomen bei Pietisten der mehr verstandesmäßigen Richtung, wo der mystische Einschlag nur schwach oder gar nicht entwickelt ist, häufiger beobachten.

Frau Kraker war zu ihrem Leidwesen in der Taufe mit dem Vornamen Susanna behaftet worden, den sie im Grunde ihres Herzens beinahe für unanständig hielt, ja für eine Art Ärgernis, weil man bei ihm leicht an eine unbekleidete üppige Frauensperson denkt. Sie bestand deshalb darauf, daß ihr Mann sie Sanna nannte. Diese Abkürzung, meinte sie, nahm dem Namen seine Indezenz, ja gab ihm sogar etwas Strenges. Systematische Frömmigkeit, als welche nicht mit dem gemeinen gefühlsmäßigen Frommsein zu verwechseln ist, macht in allen Dingen, die irgendwie mit der Erbsünde zusammenhängen (und, ach, wie schrecklich viele solcher Dinge gibt es!), schmerzhaft empfindlich.

»Sanna«, sprach Jeremias, »was sagst du dazu!« Und er reichte ihr das Telegramm.

Sanna, die sich zum Lesen eines in Stahl gefaßten Zwickers bediente, dessen dünne schwarze Schnur sie über das linke Ohr zu legen liebte, wenn sie ihn auf ihrem schmalen Nasenrücken befestigte, bewehrte ihre Augen und las.

»Tja«, sagte sie, indem sie den Zwicker wieder abnahm und ihren Mann forschend ansah: »Schrecklich.«

»Wohl schrecklich!« meinte Jeremias.

»Tja«, sagte Sanna und starrte vor sich hin, »und all das schöne Geld!«

»Man darf nicht daran denken!« sagte ganz leise Jeremias.

»Tja«, sagte Sanna und las die Botschaft aufs neue.

»Eine Prüfung!« bemerkte Jeremias.

»Wohl eine Prüfung!« sagte Sanna. »Das wäre nun alles an uns gefallen...«

»Sanna,« vermahnte der Mann, der den Kampf bereits siegreich bestanden hatte, »wir Christen besitzen, gottlob, die Richtschnur durch das Gewirre der Versuchungen. Auch in Gedanken sündigen ist Sünde. Wir müssen durchhalten! Für uns gibt es nur ein Wort jetzt...«

Herr Jeremias fand es nicht.

»Gottes Wille!« meinte Sanna.

»Sicherlich!« bestätigte Jeremias, »denn sein Wille ist geheiliget für und für. Aber ich meine ein anderes.«

»Welches, Jeremias?« fragte fast ängstlich die Gattin.

»Abwarten!« antwortete der Gatte.

– »Wie meinst du das?«

– »Nun ja, der Junge wird zweifellos in meine Vormundschaft gegeben.«

– »Um Gottes willen, Jeremias.«

– »Ich kann aus Gründen des Gesetzes nicht ablehnen, soviel ich weiß, weder wenn der Verstorbene mich selbst zum Vormund bestimmt hat, was ich aber nicht glaube, noch, wenn mich das Vormundschaftsgericht dazu ernennt, falls kein Vormund von ihm bestimmt worden ist. Aber ich will es auch nicht ablehnen. Denn, Sanna, dies ist die höchste Prüfung! – Du verstehst mich?«

– »Es ist gräßlich!«

– »Nicht so, Sanna! Eine Prüfung Gottes ist nicht gräßlich. Aber schwer, ja, und diese hier ist voller Versuchungen.«

– »Tja!«

– »Denn des Menschen Herz ist böse von Grund aus. – Es wird mir schwerfallen, diesen Jungen zu lieben, Sanna – ich fühle es. Ich werde mich manchmal über dem sündhaften Gedanken ertappen: Dieser da hat geraubt, das den Meinigen gehört von Gottes und Rechts wegen!«

– »Tja!«

– »Aber ich werde diesen Gedanken weit von mir weisen, und des Wortes Christi gedenken:...«

Es fiel ihm nicht gleich ein, und er fuhr fort: »Pflicht! Sanna, Pflicht und Demut! Und ich werde die Liebe aus mir empor zwingen, denn sie ist das Köstlichste von allem, und ich werde ihn zu einem rechten Christen erziehen und die Furcht Gottes in seine Seele senken, und so wird er vielleicht selbst eines Tages das Unrecht gut machen, das sein Vater an uns begangen hat.«

– »Gott gebe es, Jeremias!«

– »Er wird, Sanna, er wird! Tue nur auch du deine Pflicht als Christin, überwinde das Böse, Sanna, und zwinge die Liebe in dir empor, sie, die das Köstlichste ist auf Erden und Früchte bringt hundertfältig, wenn nicht hier, so dort!«

– »Ich will es, Jeremias! Der Knabe soll eine christliche Mutter an mir haben. Ja! Ich fürchte sehr, daß er bis jetzt...«

– »Lassen wir das, Sanna! Werfen wir unsere Zuversicht auf Gott! Bereite unsere Trauerkleider und packe den Koffer. Der Nachtschnellzug geht 10 Uhr 25 Minuten.«

Frau Sanna klingelte das Dienstmädchen herbei und disponierte mit der ganzen Sicherheit einer deutschen Hausfrau strenger Observanz über alle die Gegenstände, die ihr für die Reise nach München nötig erschienen.

Plötzlich unterbrach sie sich: »Jeremias! Wenn er gar nicht getauft wäre!«

Jeremias starrte sie an, als hätte sie ihm etwas Schweres ins Gesicht geworfen.

– »Was redest du da! Gar nicht getauft?«

– »Oder am Ende – katholisch!«

– »Das... das wäre ja furchtbar!«

In seinem Entsetzen höhlte Jeremias das u zu einem o aus und sagte: forchtbar.

– »Aber wie kommst du nur auf so entsetzliche Gedanken, Sanna?«

– »Dem Verstorbenen ist alles zuzutrauen, Jeremias! Ich dächte, wir hätten schon Schändliches genug mit ihm erlebt. Diese ganze Adoption...«

– »Bosheit, Sanna, Bosheit!«

– »Vielleicht auch doch noch anderes! Vielleicht ist dieser Junge eine Frucht früherer Ausschweifungen Henrys oder gar« (Frau Sanna wurde zur Meduse) »dieser Komödiantin!«

– »Dann ist er wenigstens zuverlässig protestantisch getauft. – Nun, wir werden ja sehen! Eins ist gewiß: und wenn er in allen Irrtümern der Welt aufgewachsen wäre: ich will einen rechtschaffenen lutherischen Christen aus ihm machen, mit Gottes und deiner Hilfe, Sanna! Das sind wir ihm, den die Vorsehung nun an unsere Brust gelegt hat, schuldig, aber auch den Unseren, denen er kein Ärgernis werden darf. Sie sind ohnehin nicht so stark im Glauben, wie ich wohl wünschen möchte.«

– »Sie ringen, Jeremias, aber ich stehe ihnen bei, und so werden sie unverwundet aus dem Kampfe hervorgehen. Ich habe dich schon öfters gebeten, in diesem Punkte mehr christliche Zuversicht zu bewähren.«

– »Schon gut, Sanna; wir wollen uns am allerwenigsten jetzt nochmals darüber auseinandersetzen, wo uns eine neue Arbeit an einer jungen Seele auferlegt worden ist. Aber auch in diesem Augenblicke rufe ich dir zu: Sei wach! Deine mütterliche Liebe macht dich für manches blind, was mein Vaterauge mit Sorge wahrnimmt.«

Frau Sanna nahm diese Vermahnung nicht mit vollkommener Christendemut auf, zuckte vielmehr nicht ohne Hochmut die Achseln, als wollte sie sagen: überlasse das gefälligst mir; ich dürfte wohl in den Seelen unserer Kinder besser Bescheid wissen als du, und überdies ist das mein Ressort.


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