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Kindheit und Jugend auf Owa Raha

Mein Leben in der nächsten Umgebung des weißen Zauberers war gewiß abwechslungsreich, meine Arbeit ersprießlich, doch ich wollte die Eingeborenen »ganz unter sich« kennenlernen ohne Abhängigkeit von einem Weißen. Ich entschloß mich daher, auf der anderen Seite der Insel, in Natagera, meine Zelte aufzuschlagen. Den Mwane Apuna dieses Dorfes hatte ich schon im Hause Küpers kennengelernt und Freundschaft mit ihm geschlossen; er würde mir wohl helfen, das Zutrauen der Eingeborenen zu gewinnen.

Meine beiden schwarzen Burschen, die ich schon in Tulagi aufgenommen hatte, sollten mich begleiten. Tiliko, der mir auf mein Bitten vom Chefarzt in Tulagi überlassen worden war, hatte als Wäschebursche des Spitals ein beschauliches Dasein geführt. Er stammte von der kleinen Insel Sikai Ana, war Polynesier, groß und kräftig gebaut und neigte bereits zur Fettleibigkeit, obwohl er kaum zwanzig Jahre alt sein mochte. Er war das, was man als »guten Kerl« bezeichnete. Immer lustig, immer für Tanz und Witz aufgelegt, betrachtete er jegliche Arbeit als unangenehme Unterbrechung seiner Festesstimmung. Er arbeitete nur, wenn ich neben ihm stand, und selbst dann zog er es meist vor, mir dabei zuzusehen.

Trotz seiner Größe war Tiliko wenig widerstandsfähig, und selbst das Tragen meines Photoapparates strengte ihn so an, daß er dann immer wie ein Häufchen Unglück im Schatten einer Palme kauerte und Kokosnußwasser in sich hineinschüttete. Im Wasser aber war er in seinem Element. Er kraulte meisterhaft, schwamm mit den Fischen um die Wette, suchte mit dem Speer die Riffe nach Langusten und Fischen ab und versorgte meine Tafel mit leckeren Bissen.

Tiliko war überall beliebt; er schloß sich sehr leicht an und hatte selbst das Herz des weißen Zauberers gewonnen, indem er seinen Kindern Tänze und Lieder beibrachte.

Gore, mein Zelt- und Küchenjunge, war das gerade Gegenteil. Er stammte von der Insel Malaita, war somit Melanesier. Klein, von hellbrauner Hautfarbe, ebenmäßig gebaut, mochte er kaum über zwanzig Jahre alt sein. Doch er hatte eine Frau und zwei Kinder in der Heimat zurückgelassen und war ausgezogen, um sich die von der Regierung vorgeschriebene Kopfsteuer zu verdienen. Ich habe nie in meinem Leben einen besseren Burschen gekannt. Er sah mir jeden Wunsch buchstäblich von den Augen ab. Außergewöhnlich geschickt, ließ er sich für jegliche Arbeit abrichten. Zelt und Feldbettstell aufzustellen, war für ihn eine Spielerei, und bald verstand er es, mit meinen Apparaten umzugehen.

Einmal erklärte ich ihm die Geheimnisse des Insektenfanges, und schon verwendete er seine freie Zeit dazu, mich mit den herrlichsten Schmetterlingen und Käfern zu überraschen. Fragte ich ihn dann, wenn er ermüdet von seinem Ausflug zurückkehrte, wie die Ausbeute gewesen wäre, hieß es immer »sehr schlecht«. Er erklärte mir entweder, daß die Schmetterlinge von einem Gewitter beschädigt und zerschlagen worden seien, oder daß er sich im dichten Busch des schweren Geländes nicht habe zurechtfinden können. Schüttelte ich dann bedauernd den Kopf, so öffnete er die Büchsen, und die herrlichsten und seltsamsten Insekten kamen zum Vorschein, wie sie noch nie ein Museum gesehen hatte. Mein Lob erfreute ihn so sehr, daß seine großen Augen aufleuchteten, bis sein ganzes Gesicht glücklich strahlte, und ohne ein Wort zu verlieren, machte er sich an das Konservieren der Beute.

Gore hatte immer still unter einer Abneigung Küpers gelitten, um so mehr, als dieser seine Gefühle nicht zu verbergen pflegte. Als er nun hörte, daß wir die andere Seite der Insel besuchen sollten, war er überglücklich und sprang lachend und singend an meiner Seite umher.

Wir durchquerten das Innere der Insel, das aus Korallenriffen besteht, die im Laufe der Jahrtausende und wohl auch durch vulkanische Einflüsse emporgehoben wurden. Während der sandige Strand der Insel dicht mit Kokospalmen bewachsen ist, bedeckt ein üppiger Buschwald die steil ansteigende Höhe. Die Steine des Riffes sind spitz und scharfkantig, und der Eingeborenenpfad, der von einer Seite der Insel zur anderen führt, ist steil und beschwerlich.

Endlich erreichten wir das Dorf Natagera. Unsere Ankunft bedeutete für die Eingeborenen eine willkommene Abwechslung in ihrem täglichen Einerlei. Vom ersten Morgengrauen bis in die späte Nacht hinein war ich von Neugierigen umringt, für die ich immer etwas auf Lager hatte, um sie zu unterhalten und ganz unbemerkt so nebenbei meinen Zwecken dienstbar zu machen. Mit einigen Alten schloß ich besondere Freundschaft, und sie erzählten mir von ihren Sorgen und Freuden. Das Vertrauen der Frauen und Mädchen aber gewann ich, weil ich die Kinder bewundernd anblickte und mit ihnen spielte. Als ich einmal wie im Scherz jedem der Kleinen Papier und Bleistift gab und erlaubte, daß jeder für sich in einer Hütte zeichnen dürfe, was ihm beliebe, fand dieses »Spiel« so großen Anklang, daß sich binnen kurzem auch die Erwachsenen daran beteiligten und ich mir unser Einvernehmen nicht besser wünschen konnte.

Ich aber verfolgte die Fortschritte meiner Arbeit mit ganz besonderer Befriedigung. Ohne große Mühe konnte ich aus den Blättern nicht nur die Entwicklung des Zeichentalentes der Eingeborenen von Kindheit an verfolgen, ich konnte auch daraus ersehen, womit sich die verschiedenen Altersstufen geistig vorwiegend beschäftigen. Auf diese Weise stellte sich heraus, daß die melanesischen Kinder viel frühreifer sind als die europäischen, daß sie gut erkennbare Tiere in einem Lebensalter zu zeichnen vermögen, in dem unsere Kinder bestenfalls einfache Linien kritzeln.

In frühester Kindheit ist die Begabung von Knaben und Mädchen fast gleich. Sie haben nur Sinn für Tierwelt und Pflanzen, und ihre zeichnerischen Motive erstrecken sich auf kein anderes Gebiet. Doch bald beginnt eine sehr schmerzhafte Sitte den Sinn der Mädchen zu beeinflussen. Sie werden tatauiert. In die Haut werden blaue Linien eingeritzt, bis der ganze Körper der Mädchen wie von einem durchsichtigen Gewebe bedeckt erscheint. Da die Mädchen auf Owa Raha unbekleidet gehen, könnte man meinen, die Tatauierung hätte nur den Zweck, die knospenden Brüste und die Schenkel zu verschönern. Doch diese Prozedur ist tief im religiösen Leben der Eingeborenen verankert; ist es daher ein Wunder, daß, sobald die Zeremonie beginnt, die Mädchen nur mehr an die Ornamente denken, die man ihrem Körper einprägt? Meine Blätter waren denn auch über und über mit solchen Zeichnungen bedeckt.

Dann kommt die Zeit der Pubertät. Für die Mädchen gibt es keine Probleme. Die Ehe ist heilig, Ehebruch ein schweres Verbrechen, das oft zu Blutfehde führt; doch vor der Ehe steht es beiden Geschlechtern frei, wann und wen immer zu lieben. Die Mädchen machen von ihrem Recht häufig Gebrauch und beginnen mit Liebesspielen schon lange vor der Reife.

Ein hungriger Mensch denkt unausgesetzt an das Essen. Je mehr er sich bemüht, seine Gelüste zu bezwingen, um so mehr macht ihm die vergewaltigte Natur zu schaffen. Sobald er aber seinen Hunger gestillt hat, erscheint ihm auf einmal die Frage der Ernährung überflüssig, ja zu gering, um sich mit ihr abzugeben.

Ähnlich ist es mit anderen Trieben bestellt, die die Allmutter Natur in die Brust jedes Wesens aus Fleisch und Blut gesenkt hat. Diese Mädchen hier haben von Kindheit an keine Gelegenheit nach Liebe »zu hungern«. Wie meine Blätter zeigen, beschäftigen sich ihre Gedanken bereits von der Pubertät an nur mit hausfraulichen Dingen und keineswegs mit Erotik.

Das gleiche liegt den Knabenzeichnungen zugrunde. Vor der Mannbarwerdung ist Fischerei, Jagd und Kampf ihr Lebensinhalt. Später der Bonitofischfang, da bei der feierlichen Jugendweihe die Knaben mit dem Blute des heiligen Bonitofisches geweiht werden. Doch fast gleichzeitig mit der Pubertät treten auch schon religiöse Probleme an die Burschen heran. Aussehen und Tätigkeit guter und böser Geister erfüllt ihre Gedanken in immer steigendem Maße. Wiederum keine sexuellen Vorstellungen, denn auch in ihrem Leben gibt es keine verdrängten Triebe.

Eines Tages aber bekomme ich zwei Bogen in die Hand mit unverkennbar erotischen Zeichnungen. Ich lasse die beiden Burschen kommen, die dieses Gebiet gewählt hatten. Der eine hinkt und ist mit eiternden Wunden bedeckt, der andere ist ebenfalls ein Krüppel. Diese Burschen hatten keine Partnerin gefunden, Liebessehnsucht erfüllt und beschäftigt sie.

Ein besonderer Genuß war es, die Kinder am Strande zu beobachten, wo sie sich zu allen Tageszeiten vergnügten, zu sehen, wie sie auf schmalem Brett auf den Kämmen der Wellen dahinglitten, wie sie dann lachend die wie Edelsteine glitzernden Wassertropfen von ihren dunklen, anmutigen Gestalten abschüttelten.

Kaum ist ein kleiner Erdenbürger der Mutterbrust entwachsen, nimmt ihn die Kindergruppe am Strande auf. Die Knaben bauen Burgen, suchen nach Muscheln und Seetieren, und oft gibt es ein lebhaftes Handgemenge – man spielt Krieg. Nach Klanen getrennt, stürmen die Kleinen aufeinander los, Kriegsgefangene werden gemacht und wie Schweine an langer Stange abtransportiert. Sie sollen gefressen werden. Und seltsam, immer achten die älteren fürsorglich darauf, daß keinem wehe getan wird. Wie leicht können solche Spiele ausarten. Während meines ganzen Aufenthaltes habe ich aber nur ein einziges Mal erlebt, daß ein Kind zu weinen begann.

Am sonnigen Strand spielte man gerade Krieg. Da die Kleinsten nicht mitspielen durften, saßen sie mit leuchtenden Augen im Sande und sahen den Großen zu. Ihre hellen Stimmchen feuerten die Kämpfenden an, und jauchzend schlugen sie ihre Händchen zusammen, wenn die Kriegsgefangenen vorbeigetragen wurden. Der letzte sollte geschlachtet werden. Dieser Teil des Spieles wurde scheinbar allzu naturgetreu ausgeführt, denn ein jämmerliches Geheul ertönte aus der Gruppe der Krieger. Sofort legten sich die älteren ins Mittel, und nach wenigen Augenblicken begann der Gefangene bereits unter Tränen zu lächeln.

Beim Spiel europäischer Knaben wird man oft sehen, daß die Stellung des Führers, der seine Gefährten infolge seiner Kraft oder anderer Eigenschaften beherrscht, ebenso wichtig als begehrt ist. Den melanesischen Knaben fehlt jeder Ehrgeiz in dieser Richtung. Einmal ist dieser Führer, das andere Mal jener. Fast nie ist es der körperlich stärkste, der den anderen seinen Willen aufzwingt.

Ganz reizend ist auch die Tierliebe der Kleinen. Ich forderte die Kinder auf, Insekten zu sammeln, und entschädigte sie mit kleinen Geschenken für ihre Arbeitsleistung. Winzige Kinderchen kamen da zu mir heran, die kaum gehen konnten und doch schon in ihren Händchen eine kleine Beute gefangenhielten. Immer war das Tier unverletzt, denn Tierquälerei ist strenge verpönt.

Oft kam es vor, daß ich ein Insekt nicht brauchen konnte. Ich gab auch dann stets ein kleines Geschenk, um das gute Einvernehmen aufrechtzuerhalten. Sobald ich dem Kinde begreiflich gemacht hatte, daß ich auf seinen Fang verzichtete, öffnete es die Hand, ließ das Tier fliegen und sah ihm strahlend nach.

So lebte ich glücklich und zufrieden mit den Eingeborenen. Kinder und Erwachsene waren meine Freunde. Ich folgte ihnen zum Fischfang bei Tag oder des Nachts, wenn sie bei Neumond mit Hilfe von Fackeln Langusten und andere Kerbtiere auf dem Riff erbeuteten. Geradezu wunderbar waren diese Nächte, wenn eine leise Brise den fieberheißen Körper kühlte und die schlanken, sehnigen, braunen Gestalten mit der Grazie wilder Tiere, vom Feuerschein der Fackeln blutrot übergossen, behend von Fels zu Fels sprangen.

Ich folgte den Frauen in ihre Gärten und erlebte die uralten Weihen, die bei diesem mutterrechtlichen Volke das Pflanzen von Iam, dem Hauptnahrungsmittel, begleiten. Ich nahm an ihren Mahlzeiten teil und ließ mir die auf heißen Steinen gebratenen Speisen gut munden.

Wenn ich so unter meinen Freunden saß und ihre behenden ungezwungenen Bewegungen beobachtete, dachte ich oft an unseren modernen Sport mit Trainern und wechselndem Stil. Ist er wohl imstande, die Beherrschung unseres Körpers vollkommener zu gestalten, als sie uns von der Natur zu Anbeginn gegeben wurde? Unterscheiden sich somit die Bewegungen unserer geschulten Leichtathleten von denen der Primitiven? Gelegenheit zu solchen Beobachtungen fand sich leicht. Gehen, Laufen, Springen und Speerwerfen konnte ich photographieren, und staunend sah ich, daß wir mit all unserer Technik es nicht weitergebracht haben, als wieder zu den uralten Regeln der Primitiven zurückzukehren, von denen wir ausgegangen sind.


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