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XXX.
Das große heilige Kasi.

Das heiße, wühlende Kalkutta liegt im Abendsonnenschein, als mein Wagen nach der Howrah-Station fährt, zuerst an der ungeheuren grünen Fläche des »Maidan« und dem ragenden Schloß des Gouverneurs vorüber, dann durch breite Straßen, in denen die Karossen der Europäer hin und wider rollen, durch enger werdende Gassen, gefüllt mit den Farben und dem Staub des indischen Volkslebens, endlich auf breiter Brücke über den Hoogly und nach dem Bahnhof.

Als ich, lange vor Abgang des Zuges, mein Abteil besteige und der Kuli Coupékoffer und den unvermeidlichen Sack mit dem Bett hinter mir herschiebt, ist schon ein dunkelhäutiger Gentleman damit beschäftigt, auf der gegenüberliegenden Bank sein eigenes Bett auszubreiten. Dieser also, denke ich, wird mein Schlafgenosse sein. »Reisen Sie nach Benares?« frage ich den Hindujüngling in englischer Sprache. »Nicht ich,« sagt er und sein Gesicht verklärt sich, »mein Meister reist in das große heilige Kasi, ich bin nur sein geringer Diener.« Der Jüngling entfernt sich, ein anderer Hindu stürzt in das Abteil und ordnet das bereits geordnete Bett noch einmal. Ein dritter, ein vierter, ein fünfter erscheint, um noch einen prüfenden Blick auf das Bett zu werfen. Immer mehr Menschen drängen sich heran, einer stellt einen verschlossenen Blechkasten, der vermutlich Nahrungsmittel enthält, auf den Boden; ein anderer bringt einen goldglänzenden, sorgfältig verdeckten Chettie mit Trinkwasser, der nächste legt Blumen auf das Bett und ein anderer ein Paket Zeitungen. Als sich auf dem Perron, just vor meinem Abteil, noch eine malerische Gruppe von etwa fünfzig Hindus ansammelt, bin ich schon fest überzeugt, irgend ein ganz gewaltiges Tier werde mein Reisebegleiter sein, vielleicht ein ordenbehangener und diamantenbesäeter indischer Ferscht oder ein hoher geistlicher Würdenträger. Noch einmal steige ich aus dem Wagen und bin sogleich der Gegenstand großen Interesses von seiten der harrenden Gesellschaft. Mit vielen Verbeugungen und Komplimenten nähert sich mir ein älterer würdiger Herr und sagt unter vielen Salaams: »Unser Herr wird die Ehre haben, in Gesellschaft des Sahibs nach Benares reisen.« Als ich auf die Anrede eingehe und nicke, fügt der Sprecher in sehr höflichem Tonfall hinzu: »Wie ich sehe, ist der Sahib ein Offizier.« Mein Khaki-Anzug, die Silberknöpfe an ihm und das Stöckchen, das ich in der Hand halte, haben den alten Herrn getäuscht. Ich kläre ihn aber darüber auf, daß ich ein auf der Studienreise begriffener Deutscher bin. Sofort umringt mich eine ganze Anzahl lächelnder Hindu, denn der deutsche Reisende erfreut sich in ganz Indien großer Achtung und Beliebtheit, wenigstens bei dem gebildeten Teil der Bevölkerung. In dem Deutschen sieht man ohne weiteres den Gelehrten, mindestens einen Professor. Von verschiedenen Seiten wird gefragt: »Herr, verstehen Sie Sanskrit?« Alle wissen, daß die größten Sanskrit-Gelehrten Deutsche sind, und sie meinen, daß die Kenntnis des Sanskrit in den gebildeten Kreisen Deutschlands ganz allgemein sei. Beschämt muß ich zugeben, daß ich von Sanskrit leider sehr wenig weiß, aber es tut nichts, meine neuen Freunde schwärmen mich trotzdem an. Ein jüngerer Herr erklärt zum Entsetzen der andern, daß er Deutschland besuchen wolle, wenn er auch seine Kaste verlöre. Ein junger Student kann sich nicht genug tun in Fragen über die sozialen Verhältnisse Deutschlands. In der Schar von etwa fünfzig Menschen sind aber nur zehn oder zwölf, die ein verständliches Englisch sprechen.

Endlich wenden sich alle in einem tumultuarischen Enthusiasmus dem Eingang zu, denn nun erscheint der Erwartete. Kein Fürst, kein General, kein Kirchenlicht, sondern ein ganz einfacher junger Mann, der mit Wohlwollen und Lächeln naht und stürmisch begrüßt wird. Fünfundzwanzig Menschen präsentieren mich dem Jüngling, der die Hand voll Ergebenheit an die Stirn legt. Leider ist sein Englisch nicht allzu deutlich, aber ich erfahre doch, daß er zur Hochzeit seines Bruders nach Benares reist. Dieser Bruder ist fünf Jahre alt. Unter den stürmischen Nachrufen der Volksmenge auf dem Bahnsteig fährt der Zug ab. Ich kann meine Neugierde nicht länger zügeln und frage meinen Schlafkameraden: »Wer bist du und wer waren alle jene Menschen, die dir das Geleit gaben?« »Alle diese Leute sind meine Diener,« sagt er, »oder vielmehr Handlungsdiener, Gehilfen, Mitarbeiter, ich bin der Chef eines Handelshauses, und was Sie beobachtet haben, ist auf unser altes patriarchalisches System zurückzuführen – wir alle sind wie eine Familie.« »Es war schön,« meine ich, »wie die Leute um Sie besorgt waren, Ihr Bett in Ordnung brachten und es Ihnen so bequem wie möglich zu machen suchten.« Stolz und bescheiden antwortet der Hindujüngling: »Ich gebe ihnen ja auch ihr Brot.«

*

Der Morgen schreitet über die sonnenverbrannten Felder und schon ist die heilige Stadt ganz nahe. Längst ist mein Bett in dem grünen Sack, der mich durch ganz Indien begleitet, verschwunden, und ich stehe am Fenster in Erwartung der ersten Zeichen, die die Nähe der heiligen Stadt verkünden sollen. Auch mein junger Reisegefährte hat sich erhoben, gießt aus dem goldglänzenden Chettie Wasser über seine Hände und murmelt Morgengebete. Auf den Feldern draußen ist es schon rege. Schwerfällige Wasserbüffel gehen vor altertümlichen Pflügen aus Holz. Auf dem Rücken jedes Tieres sitzen schwarze Vögel, die sich durch die Bewegung durchaus nicht vertreiben lassen. Es sind Madenhacker, die den Büffeln das Geschmeiß aus dem zottigen Fell heraushacken. Raubvögel schweben in den Lüften. Elefanten und Buckelrinder schleppen Lasten und ziehen zweiräderige Ekkas über die staubigen Landstraßen, die die Felder kreuzen. Primitiv wie die Menschen sind die Behausungen, die am Zuge vorüberziehen. Alle Häuser aus sonnengebackenem Lehm, die Menschen braun und nackt, nur mit einer bunten Windel bekleidet, um die Blöße zu decken. Allein die Frauen machen eine Ausnahme. Schlanke Wesen mit großen braunen Gazellenaugen, schreiten sie stolzen Ganges, in bunten Musselin gehüllt, vorüber.

Als der Zug die Station Moghal Serai hinter sich gelassen hat, macht ein Schrei meines Hindugefährten mich auf die andere Seite des Zuges eilen – er deutet mit der Hand zum Fenster hinaus und kann nicht sprechen, Tränen rollen seine Wangen hinab, er faltet die Hände zum Gebet. Und als ich den Kopf zum Fenster hinausstrecke, umfasse ich mit meinen Blicken zugleich zwei seltsame Erscheinungen. Das Bahngeleise macht eine Krümmung und ich übersehe auf einmal den ganzen Zug, der mit vorgeschobenen Köpfen und gestikulierenden Händen wie besät ist. Wäre der Train ein Schiff, er würde sich sicher auf die Seite neigen, denn alle Passagiere sind an die Fenster geeilt, haben die Bänke erstiegen, um über die Köpfe der vor ihnen Stehenden hinwegsehen zu können, und alle haben nur Augen für den Silberstreifen, der sich in der Ferne durchs Gelände windet, und die bunten pittoresken Zacken und goldig leuchtenden Spitzen, die seine Krümmungen begleiten. Wie ein Rausch ist es über die vielen Hunderte von braunen Reisenden gekommen. Aller Augen glänzen vor Begeisterung und Rührung, die Hände falten sich, ein lauter Singsang wird vernehmbar. Aber auch mir klopft das Herz höher, auch meine Augen werden weit, denn jene Silberschlange, die deutlicher und deutlicher wird, ist der heilige Ganges, der seine gebenedeiten Wasser an dem Mittelpunkt des Siwareiches vorüberströmen läßt, dem mit tausend Tempeln geschmückten großen Kasi, das die Sahibs Benares nennen.

Ein großer Reisender, dem kein Platz auf der Erde verborgen geblieben ist, hat die Behauptung aufgestellt, daß nur drei Städte der Welt wert seien, besucht zu werden. Zu diesen dreien durch Geschichte und Eigenart ausgezeichneten Städten rechnet er Benares. Unvergeßlich ist schon der erste Anblick des Flußufers mit seinen völkerwimmelnden Treppen, Ghats genannt, mit seinen ganz wunderbar pittoresken Bauten, die übereinander türmen und im heiligen Wasser des Ganges sich spiegeln. Dieses Wasser ist so gesegnet, daß es keine Unreinheit duldet, es ist von einer so göttlichen Reinheit, daß Gift und Unsauberkeit jeden entweihten Gegenstand verlassen, sobald das Gangeswasser ihn umspült. Und nun erst die Stadt, die auf der Spitze des Dreizacks Siwas ruht und von keinem Erdbeben, von keinem andern Naturereignis, wie viel weniger also von Menschenmacht erschüttert werden kann. Benares ist zugleich das Mekka und Athen der Hinduwelt. Millionen pilgern aus allen Landschaften der indischen Reiche nach Benares, denn schon die Gegenwart in der heiligen Stadt verbürgt Nachlaß der Sünden und zukünftige Seligkeit. Die Wasser des Ganges reinigen nicht nur den Körper, sie reinigen auch das unsterbliche Wesen des Menschen. Deshalb dient es nicht nur zum Bad, sondern auch gleichsam für innere Waschungen. Dasselbe Wasser, in dem täglich auf kurzer Strecke über hunderttausend Menschen baden, in das die Asche unzähliger am Ufer verbrannter Leichen gestreut wird, in das täglich Millionen von Blumengewinden gesenkt werden, trinkt man mit Wonne. Wäre die reinigende Kraft des Gangeswassers ein bloßes Märchen, so könnten die Seuchen in Benares, besonders Cholera, gar nicht aufhören und müßten riesenhafte Formen annehmen. Der alte Glaube scheint aber tatsächlich einen Grund zu haben und mit der Beschaffenheit dieses Wassers zusammenzuhängen. Samuel Clemens, besser bekannt unter dem Namen Mark Twain, erzählt in seinem Werk » Tramps abroad«, daß zu seiner Zeit die merkwürdigsten Versuche mit dem Gangeswasser unternommen wurden. Cholerabazillen zum Beispiel sollte es innerhalb weniger Stunden zum Absterben gebracht haben.

Gleich einer Vision aus Tausendundeiner Nacht liegt die Treppenflucht des Gangesufers vor dem verwunderten Blick und verschwindet wieder. Noch einmal wendet sich der Zug landeinwärts. Bei der Station Kasi verlassen die Hindu den Train. Die wenigen Europäer fahren noch eine Strecke weiter, um dann in herrschaftlichen Karossen, wie es sich für weiße Leute geziemt, in die gewaltige Gartenstadt des Europäerviertels, Sikrol, zu fahren.

In Sikrol, einer ausgedehnten Stadt voll breiter Alleen, in der jedes Haus in einem waldartigen Park steht, wo Ruhe und Beschaulichkeit in den Lüften weben, ahnt man noch nicht einmal die Nähe des großen wühlenden Kasi.

Noch voll von den Wundern des südindischen Heiligtums Madura, zog ich eines Morgens in der unvermeidlichen Karosse und mit der ebenso unvermeidlichen grünbeturbanten Dienerschaft vorn und hinten, den unterwürfigen Führer an der Seite, in Benares ein. Den Uebergang in die Eingeborenenstadt bildeten langgestreckte staubige Straßen voll verfallener Hütten, die Vorderseite offen, so daß man das Volk in seinen Handwerken oder in seinen häuslichen Verrichtungen beobachten konnte. Auf den ungepflasterten Straßen zwischen frei umherlaufendem Vieh nackte Kinder und verwahrlost aussehende halbnackte Männer. Immer dichter wird das Straßengewirr und enger, die Volksmassen wachsen, aber die Anzeichen des Verfalls mindern sich nicht. Alle Ordnung, wie wir sie in Europa schon mit der Muttermilch einsaugen, scheint aufgehoben. Alle hundert Meter weit stößt man auf einen Tempel, aber er verrät sich nur durch eigenartige Giebelung, durch vergoldete Dächer oder Turmspitzen, rund herum lehnen sich Häuschen und Hütten an ihn, und es umgibt ihn ein Labyrinth von engsten Gäßchen und Gängen. Den Führer vorn, einen Diener hinten, um Bettler und neugierige Müßiggänger abzuwehren, schreitet man durch diese Wunderwelt und wünscht sich noch mehr Augen, um alle Einzelheiten aufnehmen zu können. Alle Läden sind offen, süße Eßwaren und Früchte werden feilgehalten, tausend Andenken an die Pilgerfahrt nach Benares, durch die Weihe der Priester und Brahmanen geheiligt. Am häufigsten ist das Lingam, kleine Phallen aus poliertem Stein, das Zeichen Siwas, in einem kleinen Messinguntersatz stehend. Nirgend in Indien tritt der Phalluskult so zutage wie in Benares. Nicht nur in den Tempeln, überall in den Straßen, in Mauernischen und auch auf freien Plätzen findet man das Lingam aufgestellt. Daneben eine Fülle von Götzenbildern, Siwa mit vielen Armen und Gesichtern, sein Sohn Ganesa mit dem Elefantenkopf, die heiligen Genossinnen der Götter und Statuen von Heiligen. In dem Volk, das sich durch die Straßen schiebt, sind alle Kasten vertreten, vom Paria, der sich vor den Höherstehenden duckt und vom Betteln lebt, bis zu dem reichen alten Pilger, der, von zahlreicher Dienerschaft begleitet, die Tempel aufsucht. In den Ländern des Glaubensverfalls begreift man es kaum mehr, daß, wie Kipling erzählt, viele hochgestellte und gelehrte Hindus, darunter Millionäre an Gütern, allen irdischen Ballast von sich tun, ihre Paläste, ihre Reichtümer, ihre Familien verlassen und unerkannt im Alter nach den heiligen Stätten ziehen, um im Angesichte des Ganges ihr Leben zu beschließen. Dem Europäer, der sich nur eine Stunde in der Hitze und im Staube der heiligen Stadt umhergetrieben hat, scheint ein solches Lebensende ein schier entsetzliches Schicksal.

Das bunte, traumhafte Gewirr wird noch verstärkt durch die Menge von Tieren, die sich unbehelligt unter die Menschen mischen: zumeist heilige Kühe, die vor den Gemüseauslagen seelenruhig ihr Futter auswählen, Scharen von Pariahunden, Gangesmeerschweinchen, Pfauen und den Lasttieren, Pferden, Kamelen und Elefanten. Dann und wann sucht sich eine dichtbehangene Ekka, einer jener zweiräderigen Karren, die unseren Droschken entsprechen, ihren Weg durch das Gewühl. Und überall ein ewiges Schlagen von Gongs und Läuten von Glocken, das aus tausend Tempeln dringt.

*

Aus tausend Tempeln! Klingt es nicht wie eine übertriebene Redefigur? Aber Benares zählt in der Tat nicht weniger als 1454 Hindutempel, 272 Moscheen, mehrere Dschaintempel, einen Buddhistentempel, zusammen über 1800 Gotteshäuser. Fast alle diese Tempel schließen sich gegen den Europäer ab, das Betreten dieser Stätten ist angesichts des Fanatismus der niederen Bevölkerung mit Lebensgefahr verbunden. Einzig den sogenannten Affentempel und noch den Tempel der heiligen Kuh darf man besuchen; auf den hochheiligen goldenen Tempel darf man höchstens durch ein Loch in der Mauer einen Blick werfen.

Als wir am Affentempel vorfahren, eilen sofort nicht weniger als drei Polizisten herbei und stellen sich, militärisch grüßend, dem Sahib zur Verfügung. Eigentlich ist es der Tempel der Durga, einer finsteren Personifikation der Gemahlin Siwas, und nur volkstümlich Affentempel genannt, weil man in seinen Mauern ganze Scharen der heiligen Hanuman-Affen ( Semnopithecus entellus) zu halten pflegt. Jetzt sind's einige Hunderte, früher zählten sie nach Tausenden. Auf Wunsch der Regierung wurde diese Affenplage vermindert, und zwar in der Weise, daß man ein paar Tausend in die Wälder brachte, da es dem Hindu nicht erlaubt ist, ein Tier zu töten. Oben auf einer Mauer stehend, von wo der Blick frei in die Tiefe des ziemlich verwahrlosten Gebäudes fällt, beobachteten wir den ganzen Affenkram. Dickbäuchige Paschas saßen auf den Gesimsen, junge Mütter mit ihren Babies im Arm sonnten sich, Affenjünglinge und Jungfrauen jagten einander über Mauern und Baumzweige. Inmitten dieses Getriebes lag unten auf den Steinfliesen des Tempels faul und gemütlich der Herr Oberpriester. Als er meiner hoch oben auf der Mauer ansichtig wurde, lächelte er empor, schwenkte die Hand hin und her und rief mit krächzender Stimme einige mir unverständliche Worte. Sofort stürzte aus einem Seitengange ein anderes halbnacktes Individuum, erkletterte meinen Standort und überbrachte mir eine Blume sowie ein Körbchen voll Mais, die Affen damit zu füttern. Die Biester kümmerten sich aber nicht im geringsten um das Futter. Der Abgesandte des Oberpriesters wich aber nicht eher, bis er ein Geschenk entgegengenommen hatte. Nachdem es in die Hand des Oberbonzen geglitten war, blinzelte dieser mit einer letzten verzweifelten Kraftanstrengung zu mir empor, wälzte sich auf die Seite und schlief weiter.

Ganz anders im Tempel der Kuh, in dem selbst unser Führer von heiligen Schauern ergriffen ward und sich vor dem Idol einer großen liegenden steinernen Kuh tief verneigte. Diese Kuh, die in einem Säulenhof liegt, muß große Anziehungskraft besitzen, denn sie ist ganz umgeben von Büßern und Betern, die ihre Blumengewinde über die Hörner hängen und sie mit gefalteten Händen anbeten. Hier nahm uns schon wieder der Vertreter eines Brahmanen in die Arme, überreichte den obligaten Blumenkranz, führte uns geheimnisvoll treppauf und -ab, über Mauern und Dächer, bis wir schließlich an einem Fenster standen, durch das der Blick auf die Dächer des berühmten goldenen Tempels fiel. Alle Kuppeln sind mit Gold gedeckt, die in der Sonne glänzen. Dieses Haus, dem Siwa als Herrn des Universums geweiht und die wichtigste Stätte des Lingamkults, gilt als der heiligste Hindutempel in ganz Indien.

Von den weiteren etwa 1800 Tempeln sah ich nur noch einige von außen, darunter den unmittelbar über dem Flußufer thronenden Nepalese-Tempel, dessen Friese mit so obszönen Schnitzereien »geschmückt« sind, daß man ihren Inhalt auch nicht einmal andeuten kann. Alle anderen Tempel blieben tabu.

*

Morgenfrühe am Ganges. Noch zögert die Sonne unter dem Horizont, aber schon ist sie ganz nahe, wenngleich der heilige Strom noch von grauen, zarten Schleiern bedeckt ist. Eine Barke kommt auf den Pfiff des Führers herangeschwommen, sie ist mit einem erhöhten Sitz versehen und hat schon des Sahibs geharrt; in der frischen Morgenluft erschauernd, steigt man ein, und langsam schwimmt das Schifflein durch die Dämmerung den Strom abwärts.

In den engen Gassen, die den Ganges säumen, war es schon lebhaft. Einander drängend, zogen schon Hunderte, ja Tausende an den Strom, um die heiligen Waschungen und Bäder vorzunehmen, Männer und Frauen, Hohe und Niedere, in den Händen reiche Blumengewinde zum Opfer für den Strom und die Götter. Auf langer, stark geneigter, glitschiger Treppe geht es zuletzt abwärts an das Ufer, aber seine Bauten sind noch im Dämmer versteckt, nur Glockentöne und Gongschläge vibrieren durch die Luft und verraten die Tausende heiliger Orte, vor denen die Pilger, Büßer, Yhogis, Brahmanen und andere fromme Menschen sich sammeln.

Plötzlich zerreißt der Dunstschleier, die Sonne geht auf und wirft ihren hellen Goldschimmer über den Ganges und die heilige Stadt. Von stetigen Händen gerudert, schwimmt meine Barke nahe dem Ufer, und ein Anblick, so märchenhaft, wie die Welt keinen zweiten aufzuweisen hat, wird mir zuteil. Vom Wasser aus führt eine unabsehbare Treppenflucht, vielfach durch seltsame Bauten unterbrochen, nach der hochgelegenen Stadt empor, und oben stehen Palast an Palast, Tempel an Tempel in einer so bunten, unbeschreiblichen Unordnung, daß nach dem Gesetz der Berührung der Extreme in diesem Wirrwarr eine höhere Ordnung schon wieder zu erkennen ist. Das Gewimmel der Kioske, Schreine, Pavillons, Kapellen, Terrassen, Türmchen, Spitzen und Zacken in allen Farben eint sich zu einem malerischen Durcheinander von riesigen Dimensionen. Dazwischen ungeheure Bauten mit Wohnungen für arme Pilger, von frommen Hindumillionären errichtet, gewaltige Tempelmauern mit goldgleißenden Dächern, halbversunkene Paläste, an deren Aufbau oder Niederlegung kein Mensch denkt, und zwischen all den Hinduheiligtümern die ragenden Minaretts der Aurangzeb-Moschee, denn in Benares sind seit Jahrhunderten alle Religionen des Orients vertreten.

Aber der wunderbare Anblick der ewigen Stadt Indiens mit ihrem blauen Himmelsbaldachin, unter dem Adler ihre majestätischen Kreise ziehen, während die heiße Sonne höher und höher steigt, verschwindet bald vor der märchenhaften, seltsamen, wirbelnden Lebenswelle, die sich aus der Stadt über alle die vielstufigen Ghats an das Flußufer ergießt. Hoch oben, über den hundertstufigen Granittreppen, steht es wie eine dicke Mauer von Menschen; aber überall lösen sich, als die Sonne eben über dem Horizont erschienen ist, kleine Scharen weiß behangener Gestalten los, die langsam, unter Gesang und Glockengetön, ins Wasser schreiten. Die letzten Steinstufen münden noch in Flöße und Holztreppchen, die weit ins Wasser vorgeschoben sind. Die, die jetzt ins heilige Wasser des Ganges hinabtauchen, sind die Brahminen und Angehörigen der höchsten Kasten: noch darf kein Mensch niederer Herkunft den Göttern nahen, denn zuerst stehen sie in Verkehr mit den »Göttern auf Erden«, den Brahminen. Eine Viertelstunde später hat sich das Bild gründlich verändert. Nun strömt es förmlich über die Ghats ins Wasser, und das ganze Stromufer ist belebt durch Tausende und aber Tausende von Betern.

Ganz dicht schwimmt jetzt die Barke am Ufer hin. Alle Treppen, Stege, Flöße, das Wasser selbst ist voll von badenden, sich waschenden, die heiligen Bräuche vollziehenden Hindus. Männer und Frauen durcheinander, die älteren Damen ungeniert mit entblößtem Körper, die jüngeren in bunte Tücher gewickelt. Auf den Stegen sitzen, Stirn und Wangen mit heiliger Asche beschmiert, viele Hunderte reglos, den Blick auf den Strom gerichtet, in tiefer Selbstversenkung. Weit hergekommen sind sie vermutlich, die Pilgerfahrt hat Monate in Anspruch genommen, aber endlich war das Tor der Seligkeit, der ewige Ganges, erreicht, und nun sitzen sie hier in Verzückung, ganz in den Anblick des Stromes versunken, dessen Anblick allein schon die irdischen Begierden und Sünden auslöscht. Andere stehen im Wasser und trinken aus hohler Hand die Gangesflut, die am Ufer schon trüb ist von den Millionen Blumen, die hinabgesenkt worden sind. Ein steinalter Mann, dünn wie ein Gerippe, steht, solange ich ihn von meiner Barke aus beobachten kann, mit erhobenen Händen, bewegungslos, auf der Stirn drei rote Querstriche, und fleht zu Wischnu, dessen Zeichen er trägt. Andere wieder schöpfen vermittels einer kleinen Schale unablässig Wasser und gießen es unter Gebeten in den Strom zurück. Frauen hüpfen im Wasser auf und ab. Die Blumen, meistens gelber Jasmin, werden nicht immer haufenweise in den Fluß geworfen, man sieht Beter, die jede Blume einzeln fallen lassen und mit einem Segenswunsch begleiten. Ein junges Mädchen wirft drei Kokosnüsse in den Strom und streckt die Hände gen Himmel zum Gebet. Manche Büßer halten sich die Nase zu, indem sie ihre Gebete murmeln. Und von oben drängen immer neue Scharen von Pilgern nach, das ganze Stromufer gleicht eine Stunde nach Sonnenaufgang einem kribbelnden und wimmelnden Ameisenhaufen. Langsam geht es an all den heiligen Ghats und ihren Tempeln vorüber, vorbei an den kleinen Werften, wo die Hindus ihre Toten verbrennen, um die Asche nachher in den Ganges zu streuen, vorbei an Stellen, wo das Gangeswasser als ganz besonders heilig und kräftig gilt und die deshalb viel besuchter sind als die übrigen, bis die Barke, jetzt im brennenden Sonnenschein des Vormittags, am Dasawamedh Ghat anlegt und der Sahib, umschwärmt von Volk und Bettlern, das unvergleichliche Leben am heiligen Strom hinter sich läßt.


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