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II.
Neuyorker Mosaik.

Manchmal kommt mir's in den Sinn,
Nach Amerika zu segeln,
Nach dem großen Freiheitsstall,
Der bewohnt von Gleichheitsflegeln …

Heine.

Vor hundert Jahren lebte in der Nähe des Waldensees in Massachusetts ein einsamer Denker, Henry D. Thoreau, einer der größten Menschen, die das europäisierte Amerika hervorgebracht hat. Dieser Naturmensch behauptete, nachdem er mehrere Jahre ganz allein in den Wäldern gelebt hatte, die Häuser der Menschen strömten einen üblen Geruch aus. Aber die Wohnungen in der nahen Stadt Concord, wo ja auch Emerson gelebt hat, waren keine Häuser zu nennen. Es waren Hütten. Was würde die feine Nase Thoreaus uns erst verkündigt haben, hätte ihr Besitzer die direkt unwahrscheinlichen und märchenhaften Wolkenkratzer Neuyorks riechen und mit seinen Augen sehen können. Das sind keine Häuser mehr, sondern in die Luft hinausgebaute Städte. Was aber den Geruch anbelangt, da würden die Yankees ihren großen Denker ausgelacht haben, denn mehr als anderwärts heißt es hier für alles, was praktisch ist und Geld einbringt, non olet.

Ich kann nicht beurteilen, was Neuyork, die Empire-City, auf den Neuling für einen Eindruck macht, denn ich komme zum vierten Male in meine zweite Heimat – nur von meinem eigenen Eindruck nach einer achtjährigen Abwesenheit vermag ich zu sprechen. Kühnlich darf man behaupten: das moderne Neuyork ist die überwältigendste Stadt der Erde. Geradezu alles nimmt den Zug ins Gigantische an – die Ausdehnung, die Schönheit, die alle Grenzen überschreitende Mächtigkeit der Bauwerke, der sinnverwirrende Verkehr, die Lebenslust, die ungeheure Geschmacklosigkeit, das Verbrechen, der öffentliche Betrug, Geschäft und Wohltätigkeit.

Was aber in all dieser Hypertrophie am meisten in die Augen springt, sind die Gebäude und ihre Höhe. Wer nach Neuyork kommt, gelangt in das Fabelland der Riesen, wo die Wohnhäuser Gebirgen gleichen. Wer mit einer der vielen Dampffähren, die selbst gewaltigen Schlachtschiffen gleichen, über den Hudson geschwommen kommt, um die untere Stadt zu erreichen, vor dem steigen die Geschäftstürme des Engrosbusineß-Viertels auf: die Burgen Plutos. Man muß nun nicht glauben, daß Stil in diesen Wolkenkratzern ist, durchaus nicht, – einsame Blöcke ragen aus dem Gewimmel der normalen Häuser auf, und jeder ist Zeuge der Geschmacklosigkeit seines Bauherrn. Da gibt es Pyramiden, Würfel, Glockentürme, Dreiecke, viereckige und achteckige Riesenblöcke mit Tausenden von dunklen blinkenden Fenstern. Der Anblick dieses unteren Teiles der Manhattan-Insel mit den Hunderten zusammengerückter Wolkenkratzer spottet jeder Schilderung, er findet nicht seinesgleichen. Ueber allen diesen seltsamen Türmen lagert eine bewegte Wolke, die Tag und Nacht aus vielen tausend Schloten strömt und auf die die Elevatoren treibenden Maschinen zurückzuführen ist. Diesen Umstand haben sich die Schöpfer des Bankers Trust Building (540 Fuß, 40 Stockwerke) zunutze gemacht; sie haben eine Riesenpyramide gebaut, aus deren höchstem Gipfel ununterbrochen eine Dampfwolke steigt, ein architektonischer Vulkan. Auch in der oberen Stadt ragen fern drohende Burgen empor, wahre Märchengebilde an Klobigkeit und Höhe, nur der Riesencampanile der Metropolitan-Versicherungsgesellschaft (700 Fuß, 52 Stockwerke) macht mit seinen herrlichen Formen eine Ausnahme, ebenso wie das neue, im Bau begriffene Stadthaus (580 Fuß, etwa 50 Stockwerke), das nach seiner Vollendung der schönste »Wolkenkratzer« der Welt sein wird.

Staunend fragt man sich, wann wird in diesem Wettstreit um das allerhöchste Gebäude die Grenze erreicht sein?! Das neue Woolworth-Gebäude am Broadway, zurzeit das absolut höchste Wohnhaus der Welt, ist 750 Fuß hoch und besitzt 55 Stockwerke. Das Gebäude mißt also in der Höhe 228 Meter und bleibt nur noch etwa 70 Meter hinter dem Eiffelturm zurück.

Inzwischen windet die Fähre sich auf dem Hudson zwischen den Dutzenden schwimmender Eisenbahnzüge, Ozeanschiffe, haushoher Kornelevatoren und Kohlenbagger und anderen seltsamen Fahrzeugen hindurch, läßt den Blick frei auf die gewaltigen hängenden Brücken, deren nunmehr vier den Fluß überqueren, und legt an ihrem Pier an. Das summende Gewühl der Fünfmillionenstadt, ihre Hitze und ihre Gerüche, vor allem ihr Völkergewühl, umfangen den Wanderer. Zwischen den Riesengebäuden huschen die Menschen nun wie geschäftige Ameisen durcheinander hin. So gewaltig die Wolkenkratzer auch aus der Entfernung wirken, dieser Eindruck verwischt sich, wenn man dicht vor ihnen steht, er verhundertfacht sich. Unterhalb des Woolworth-Blockes stehend und an ihm in die Höhe sehend, schaut man hinaus in die Unendlichkeit. Die furchtbare Massigkeit, die für das Auge unbegrenzte Höhe, die verwirrende Menge der immer kleiner erscheinenden Fenster, die Stockwerke, die nur noch Rillen in der Mauer gleichen – alles das bringt einen ganz überwältigenden Eindruck hervor. Diese übertriebenen Höhen gehen nicht mehr aus einem Bedürfnis oder aus Raummangel hervor: sie sind Gegenstand der Reklame, des gegenseitigen Ueberbietens – eine amerikanische Abart des Größenwahns. Das amerikanische Volk gleicht heute einem schwerreichen, ungebildeten Emporkömmling, der sich alles Schöne und Große kaufen kann und auch kauft, aber fürchterlich damit protzt und schlechte Manieren hat. Nirgends stoßen die Gegensätze auf allen Gebieten heftiger gegeneinander als hier. Das kann auch gar nicht anders sein, denn Neuyork ist der große Hexenkessel, in dem der Abfluß aller Völker der Erde zu einer Art neuen Rasse zusammengebraut wird. Grenzenlos wie die gigantische Bauart in den meilenlangen Straßen, durch die die Tramcars stundenlang in einer Richtung fahren, ist auch die Arbeit der Stadt für das allgemeine Beste. Oeffentliche Bibliotheken von einem Umfang und einer Schönheit der Einrichtung, die einzig dastehen, Museen, gefüllt mit Schätzen, Staatsschulen von hohem Rang, Asyle und Wohlfahrtseinrichtungen von ungeheurer Ausdehnung, Konzerte und Vorträge, Abend-Universitäten – alles frei. Daneben wiederum eine allgemeine Geschmacklosigkeit, die in ihrer Art ebenso erstaunlich ist wie das Große und Schöne.

Wer ein Volk kennen lernen will, muß beobachten, wie es sich amüsiert. Das Zentrum der Riesenstadt hat sich mit ihrem Wachstum immer mehr ins Innere der langen Insel verschoben und ist jetzt hinter der 42. Straße. Hier flammen abends die elektrischen Lichtreklamen auf und verwandeln die ganze Gegend in ein Strahlenmeer. Was Berlin, Paris und London auf diesem Felde bieten, schrumpft zu Kindereien zusammen gegenüber dieser unbeschreiblichen Flammenverschwendung. Wohin das Auge blickt, wird es durch irgendeine elektrische Bizarrerie gefesselt – weinende und lachende Kinder, je nachdem sie die Reklamenahrung erhalten oder nicht, ein römisches Wettrennen aus züngelnden Flämmchen, eine Dame mit winkendem Auge, Seiltänzerinnen mit Sonnenschirmen, sich selbst füllende Gläser und Flaschen, und ringsum viele Hunderte von Rädern, Garben, Sternen, Streifen und Buchstaben. Mitten in diesem Lichtgewirr feiert die Lebenslust, die trotz allem moralischen Getue hier heftiger ist als irgendwo sonst, ihre Orgien. In gigantischen Lokalen, die ganze Häuser einnehmen, soupiert man und – tanzt man. Man tanzt eine Art Wackeltanz, den Turkeytrot oder Truthahnschritt, wobei der Herr nach jedem pas ein Bein aufhebt, etwa wie ein Pferd, das mit dem Hahnentritt behaftet ist. Eine scheußliche Geschmacklosigkeit. Von den Damen weiß man nie, wohin sie gehören, – der allgemeine Verkehr zwischen den Geschlechtern ist ja freier als bei uns. Die Musik spielt » ragtime«, sinn- und melodienlose Weisen. Werden bekannte vaterländische Lieder gespielt, dann schreit alles vor Enthusiasmus und klatscht endlos Beifall; während der Nationalhymne steht man auf und nimmt den Hut ab. Dann kommt wieder der Hahnentritt. Augenblicklich hat es den Neuyorkern – allerdings etwas post festum – das Kabarett angetan. Was sie aber darunter verstehen, ist zum Totlachen. Ahnungslos geht man in irgendein besseres Lokal, um Abendbrot zu essen. Auf einmal erscheint oben an der Treppe irgendein Frauenzimmer ohne Stimme und geht gröhlend die Treppe hinab ins Lokal, wo sie, immer noch krächzend, zwischen den Gästen hin- und hergeht. Oder zwei schrecklich salopp gekleidete Burschen, die an einem Nebentisch Soda und Whiskey getrunken haben, beginnen plötzlich zwischen Tischen und Stühlen singend auf- und abzugehen. Fragt man den Kellner, was der Unfug bedeuten solle, dann antwortet er beleidigt: »Wir haben doch jetzt ein Kabarett.« Ueberhaupt, o diese Kellner! Heine müssen diese Gentlemen vorgeschwebt haben, als ihm die »Gleichheitsflegel« einfielen. An unsern Tisch in einem der vornehmeren Lokale tritt der Kellner und fragt: » What are you boys going to have?« (»Was wollt ihr Jungens haben?«) Bemerken muß ich, daß ich zwei ältere Herren bei mir hatte; auf mich paßte die Bezeichnung schon besser, ich bin allerdings erst ein Knabe von 49 Jahren. In bezug auf Höflichkeit muß man überhaupt in Amerika umlernen; sie existiert nur unter Bekannten, Fremde behandeln einander mit vollkommener und schöner Rücksichtslosigkeit. Die ganze jetzige amerikanische Kultur hat noch einen Stich ins Indianische. Im alten Mexiko führte man bei Tische die tiefsten philosophischen Gespräche und – aß Menschenfleisch dazu. Auch in dem modernen Amerika reichen hohe Kultur und tiefe Barbarei einander die Hände. Dieses Land bringt Wunder der Technik, der Baukunst, der geschäftlichen Unternehmungen und der plutokratischen Spekulation hervor – aber die Polizei geht Hand in Hand mit dem Verbrechertum, selbst in Neuyork kann man, wie wiederum der Rosenthal-Prozeß zeigt, professionelle Mörder dingen, die Presse ist sicherlich ziemlich minderwertig und zieht bei aller gepriesenen Gleichheit einen Personen- und Reichtumskult groß, der anekelnd wirkt; die besten Männer des Landes scheuen sich nicht, wenn es zum Kampf um politische Macht kommt, tief im gemeinsten Schmutz zu wühlen; unter der ungeheuren Pracht der Theater und Vergnügungslokale verbirgt sich der »Bluff«, denn es steckt nichts dahinter.

Man soll aber nicht über diese merkwürdigen Erscheinungen einfach aburteilen, sondern sie zu verstehen suchen. Sind die Neuyorker Amerikaner?! Nur bedingt. Sie sind ein unausgegorenes Völkergemisch, das stündlich Zuzug aus der Hefe europäischer Nationen erhält. Nur ein Blick in einen der Züge, die unterhalb Neuyorks in Tunneln unablässig dahinbrausen, oder in eine der Hochbahncars, die zu Tausenden die Riesenstadt durcheilen. Sechsfach übereinander brausen an manchen Stellen die Pfade des Verkehrs, in vier übereinander gelagerten Tunneln unter der Erde, auf der Straße und über der Straße.

Eine Gepflogenheit, die allen Verkehrsmitteln anhaftet, ist das Zugmachen. Sämtliche Fenster und Türen bleiben offen, dazu blasen von oben die sausenden elektrischen Fächer, – ein gewaltiger Luftstrom macht die Blusen der Damen, die Schlipse der Herren, die Gardinen an den Fenstern flattern – in Europa vergißt man immer, daß Neuyork keineswegs auf dem Breitengrad Hamburgs liegt, sondern auf dem von Neapel.

Ein Blick in eine solche flatternde, zugige, mit schwingenden elektrischen Fächern durch das Dunkel unter dem Flußbett des Hudson dahinsausende Car eines Expreßzuges der »Subway«, wie die Untergrundbahnen in Neuyork heißen. An der Tür der Kondukteur mit offenem Rock, Mütze im Nacken, – Tabak kauend. Gegenüber ein Negerdandy mit gestreiftem Hemd und funkelnden Ringen; eine Italienerin, die ungeniert erst ihr Baby säugt und es dann – trockenlegt; eine höchstens 15jährige amerikanische Mutter mit Baby, sie kaut Gummi; ein Schutzmann mit Knüppel; drei reizende Mädel mit Riesenhüten, fesch, elegant, aber alle drei kauen unaufhörlich; mehrere glattrasierte Geschäftsleute mit Stallgesichtern; zwei Ebräer mit Stirnlöckchen, frisch aus Polen; ein Chinese in moderner Tracht. Gespuckt wird weniger als sonst – dem Spucken innerhalb der Wagen ist man wenigstens kräftig zu Leibe gegangen. Ein Plakat verkündet, daß dieses » misdemeanor« (oder Übertretung) mit fünfhundert Dollars oder fünf Jahren Gefängnis oder beidem geahndet wird. Auch hier der Zug ins Gigantische. Spucken scheint vor dem Gesetz gleich hinter dem Vatermord zu rangieren.

Nach dieser Stichprobe aus der Neuyorker Bevölkerung, wobei die »oberen 400« nicht mit eingerechnet sind, denn der Reichtum ist international, versteht man die allgemeine Geschmacklosigkeit besser. Man versteht die Augenverblendung, die aus dem großen Volksvergnügungsplatz Coney Island abends eine wunderbare, kaum zu schildernde Lichtstadt macht – mit dem elendesten Rummel dahinter; die Theater, die Riesenpreise nehmen und eine wahrhaft glanzvolle Aufmachung zeigen – mit Seichtheit und Roheit im Hintergrunde; die Kinos, die den Theatern den Rang streitig machen – und Indianerstücke aufführen.

Dieses große Neuyork saugt die Völker auf. Drüben im Osten liegt das »Jiddische Viertel«, ein neues freiwilliges Ghetto, mit jüdischen Theatern, Bibliotheken, Schulen, Zeitungen und Straßenschildern; eine ganze Stadt innerhalb der Stadt beherbergt die Italiener, eine andere die Chinesen. Wie es oben zufließt, fließt es unten wieder ab; schon die zweite Generation besteht aus englisch sprechenden Amerikanern und wird aufgesogen. Niemand weiß heute, was aus diesem Völkergemisch mit seinen vielen ungelösten Problemen, unter denen die Negerfrage wohl die schwierigste ist, einmal für ein Volk hervorgehen wird, – vielleicht ein Volk, das neben unserer Zivilisation, die es schon hat, auch unsere Kultur sich aneignet; vielleicht ein neues zivilisiertes Barbarentum, der Schrecken und der Ruin der alten Welt.

Für den Beobachter von Welt und Menschen schlingt sich aber auch um dieses Gewirr kämpfender Massen das Band der Schönheit, die alles flutende Leben begleitet. Und es schlingt sich um die Fünfmillionenstadt außerdem das goldene Band der Naturschönheit – der Hudson mit seinen bewaldeten Palisadenufern strömt an ihrer Seite, ihr Auge blickt auf die herrliche Bucht von Neuyork.

*

Wie seltsam das Leben den Fremden auch anmuten mag, er weiß, – die Außenseite abgerechnet, sind die Menschen unter allen Himmelsstrichen doch tief im Herzen dieselben. Auch hier die Hundert und Hunderttausende, die mitten im Wirrwarr ein Leben der Philosophie führen. Wenn die Feierabendglocke tönt, entführt sie der schnelle Zug oder das Schiff weit weg aus dem Getriebe in ihr stilles Heim, wo Ruhe, Frieden und Glück winken. Ich entsinne mich eines stillen schönen Abends fern von Neuyork, in einer Vorstadt Brooklyns. Schon war es später Abend und die Sterne funkelten in klarer Sommerluft.

Die ganze Straße bestand aus reizenden Cottages, Landhäusern, die jetzt im Dunkel lagen. Aber von allen Veranden straßauf und straßab winkten und blinkten seltsame, hüpfende und tanzende Feuerfunken, die jetzt Ringe und Kreise, dann wieder Sterne und Linien bildeten. Auch auf unserer Veranda hüpften die Funken. Glühende und schwelende chinesische Räucherstöcke, Punk genannt, waren es, die alle vor den Türen weilenden Cottagebewohner in den Händen hielten, – als Wehr gegen die Moskitos.

Fern lag die wühlende Stadt. Das Gezirp der bunten amerikanischen Insekten füllte die Luft. Eine Sternschnuppe fiel und ließ einen langen, feurigen Streif. »Glückliche Heimkehr dereinst,« dachte ich.


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