Ludwig Bechstein
Deutsches Sagenbuch
Ludwig Bechstein

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704. Die stille Wiese

Vom Fichtelgebirge abwärts dem Maingefilde zu leiten mannigfache Pfade und Wege in ein ihm naheliegendes Bergland, das viele noch zu jenem rechnen und ob seiner Naturschönheiten die fränkische Schweiz benennen. Diese Gegend ist reich an Höhlen und reich an Sagen. Durchflossen wird es von der Wisent, einem forellen- und krebsreichen Wasser. Burgtrümmer gibt es allda in Fülle, Streitberg, Neideck, Dramaus oder Drameisel, Rabenstein und noch viele andere; da führt der Weg auch über eine schöne, sanft von umbuschten Berggeländen umfriedete Wiese ganz nahe bei Muggendorf, welche vorzugsweise vom Volk die stille Wiese genannt wird. Die Sage meldet über den Ursprung dieser Benennung: Da Doktor Luther in Koburg weilte und seinen Freund Melanchthon zurückerwartete, der auf dem Reichstag in Augsburg war (1530), so machte er einen Ausflug in diese Gegend und kam auch nach Muggendorf. Der Ruf des großen Mannes ging vor ihm her, und alles Volk eilte herbei, ihn zu sehen, womöglich auch zu hören. Endlich kam er; viele drängten sich um ihn, viele sprachen zugleich ihn an, viele trieb Ehrfurcht, andere die Neugier. Da blieb Luther auf dieser Wiese stehen, erhob die Hand und rief: Stille! – und stille ward es ringsumher wie das Grab; kein Laut, keine Lippe regte sich mehr. Und Luther sprach, der gewaltige Mann Gottes und Mann des Volkes, und in einer feurigen Rede erbaute er die Hörer, die ihn im tiefen Schweigen umstanden, und als er endete, da johlte nicht der betrunkene Beifall, der manch andern Volks- und Wiesenredner zum dritten Himmel erhob, da lärmte kein Händeklatschen und Bravoschreien – da blieb es still – tiefstill, nach wie vor, und sie fürchteten den Herrn mit Ernst und fühlten wohl unbewußt Nehemias Prophetenwort: Seid stille, denn der Tag ist heilig. – Und da nannten sie die geweihte Stelle die stille Wiese.

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