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Achtundzwanzigstes Kapitel

Sobald wir allein waren, besprachen wir, beide zornigen Herzens, rasch die Sachlage. Es war jetzt ganz klar, daß die Gräfin die Führung übernehmen mußte, und wieder dachte ich daran, wie die Vorsehung sie mir gesandt hatte, da ich mir die Finger an dem Tore des düsteren Palastes hätte wund klopfen können, ohne etwas zu erreichen. Ein Gedanke beunruhigte uns für den Augenblick beide. Würde Pasquale, der kein Wort Englisch verstand, seine Botschaft der englischen Wärterin verständlich machen können?

Die Frage war bald beantwortet, als Pasquale das Gemach wiederum betrat, gefolgt von einer etwa fünfunddreißig Jahre alten Frau, die sehr ordentlich aussah, starke Kinnbacken und entschlossene, aber nicht unfreundliche Gesichtszüge aufwies, der Typus einer Frau, mit der man zwar nicht gerne allzuviel zu schaffen haben möchte, die aber augenscheinlich trotzdem ehrlich war.

Sie war nach der bekannten Art englischer Wärterinnen gekleidet, und trotzdem sie keineswegs verlegen oder bestürzt aussah, trug ihr Gesicht doch einen erstaunten Ausdruck, als sie erwartungsvoll vor uns stand. Die Gräfin bat sie, Platz zu nehmen, und machte sie vor allem in ihrer liebenswürdigsten Weise mit den verwandtschaftlichen Beziehungen bekannt, die zwischen ihr und dem Erbgrafen Frangipani bestanden. Dann stellte sie mich vor und erklärte, daß ich die alte Gräfin Elena behandelt habe, als sie plötzlich auf geheimnisvolle Art verschwunden, ja in Wirklichkeit unter Anwendung brutalster Gewalt aus ihrer Wohnung in London weggeschleppt worden sei. Was wir jetzt begierig wären, zu erfahren, seien die Gründe und näheren Umstände, unter denen die arme alte Dame nach Rom verbracht und in Wahrheit als Gefangene in dem Palast interniert worden sei, in dem sie jahrelang als Herrin geschaltet habe, »Was wir wollen,« sagte sie schließlich, »ist nur die volle Wahrheit. Ich bin überzeugt, daß Sie nichts zu verbergen wünschen. Außerdem wird es Ihnen zu Ihrem Vorteil gereichen, wenn Sie offen und freimütig in dieser Sache mit uns sprechen.«

Die Wärterin, die offenkundig erstaunt diesen Worten zugehört hatte, erwiderte ohne Besinnen:

Nun, Frau Gräfin, soweit ich in die Angelegenheit verwickelt bin, ist die Sache sehr einfach. Ich habe nicht im entferntesten etwas zu verbergen. Ich bin Wärterin von Beruf und das letzte Jahr über in der Krankenabteilung einer privaten Irrenklinik angestellt gewesen. Nachdem ich mich mit dem Oberarzt überworfen, suchte ich mir einen neuen Platz. Zufällig sah ich eine Annonce in der »Times«, durch welche eine erfahrene Wärterin, die gewöhnt sei, mit Irrsinnigen umzugehen, gesucht wurde, um eine an Halluzinationen leidende Dame auf Reisen zu begleiten. Das Ergebnis war, daß ich am folgenden oder übernächsten Tag in »De Keysers Hotel« mit einem Herrn zusammentraf, der sich mir als Erbgraf Frangipani vorstellte und mir eröffnete, daß seine Schwester vor ein paar Jahren aus Italien verschwunden sei, und er sie nach langem Suchen endlich in irrem Zustande, in einer ärmlichen Vorstadt Londons entdeckt habe. Sie sei dort all ihres Eigentums, sogar ihrer Kleider beraubt worden.

Das ist in gewissem Sinne sehr richtig, stimmte die Gräfin bei.

Ihre Wahnvorstellung sei, fuhr die Wärterin fort, – so sagte mir der Graf – daß er sie seit vielen Jahren verfolgt und in diese verrufene Gegend getrieben habe.

Das ist vollständig wahr, sagte ich, zum ersten Male das Wort ergreifend.

Nun, was konnte ich anders tun, als seinen Angaben Glauben zu schenken? Sie schienen mir sehr einleuchtend, und als er sagte, er wünsche sie in seinen Palast nach Rom zu verbringen und dort für sie zu sorgen, damit sie mit jeder möglichen Sorgfalt behandelt werde, warum sollte ich aus seinen Beweggründen Verdacht schöpfen oder an seinen Worten zweifeln?

Gewiß, sagte die Gräfin, Ihr Benehmen in dieser Angelegenheit war völlig korrekt.

Nunmehr, fuhr die Wärterin fort, wurde ich dem Sekretär des Grafen, einem Herrn Salviati, vorgestellt. Er sollte in demselben Zuge mitfahren und uns nach Rom in den Palast begleiten.

Befindet er sich gegenwärtig hier? fragte ich.

Ja. Wenigstens sah ich ihn noch gestern. Daher wurde alles Weitere sofort abgemacht. Die alte Dame sollte am selben Abend in das Hotel verbracht werden, und ich wurde angewiesen, am nächsten Morgen meine Stelle anzutreten, um mit dem ersten Schnellzug abzufahren. Ich will mich kurz fassen: ich sprach in dem Hotel vor, sah die alte Dame und fand sie in so aufgeregter Verfassung – tobend, weinend, mich anflehend, sie aus der Gewalt ihres Feindes, des Erbgrafen, zu erretten, daß mir ihr Benehmen, so sehr ich an derartige Schauspiele gewöhnt war, die Worte des Grafen nur bestätigte. Ein großer Koffer mit Kleidern war da, aber ich hatte fürchterliche Mühe, sie nur so weit zu bringen, daß sie etwas, das für die Reise paßte, anzog; auch auf dem Bahnhof hat sie eine nette Szene aufgeführt, aber nach und nach hat sie sich doch beruhigt. Wir hatten ein reserviertes Abteil zu unserer Verfügung. Die ganze Reise über war sie sanft wie ein Lamm. Sie ließ sich ohne Murren in den Palast hier verbringen und hat mir seither keinen Augenblick mehr Schwierigkeiten bereitet. Sie liegt einfach da und jammert den ganzen Tag. Das tut mir schrecklich weh.

Dann ist sie also bettlägerig? fragte ich.

Sie bleibt im Bett liegen, gewiß. Sie will nicht aufstehen und ist meiner Ansicht nach sehr krank, aber sie weigert sich, einen Arzt zu empfangen. »Lassen Sie mich allein, meine Liebe,« sagt sie. »Ich bin mit meiner Kraft zu Ende, lassen Sie mich daher in Frieden!« Jetzt glaube ich, daß sie nicht mehr irrsinnig ist, als ich selber, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche Erleichterung Ihre Ankunft mir bereitet.

Die Gräfin erhob sich.

Sie wird sich wieder aufheitern, sagte sie, wenn sie uns sieht. Kommen Sie, Doktor! Ich werde vorausgehen, – aber einen Augenblick!

Damit wandte sie sich an den nunmehr fassungslosen Pasquale, der zwar kein Wort von der ganzen Unterhaltung verstanden hatte, aber etwas Unerwartetes ahnen mochte.

Sollte der Erbgraf oder Signor Salviati erscheinen, sagte sie, so teilen Sie ihnen sofort mit, daß ich gekommen bin, die Gräfin Elena zu besuchen und daß Doktor Perigord aus London bei mir ist.

Perigord! wiederholte er. Der Name kommt mir bekannt vor.

Natürlich, sagte die Gräfin, welche die Wichtigkeit dieser Bemerkung rasch erfaßte, der Erbgraf hat seinen Vater vor vielen Jahren in einem Duell getötet. Sie müssen damals schon im Palaste gewesen sein.

Gewiß, erwiderte Pasquale. Ich erinnere mich wohl daran.

Dann, sagte ich, ihn ernst ins Auge fassend, müssen Sie auch wissen, wo das Duell ausgefochten worden ist?

Gewiß, Signore. Es fand in den Gärten dieses Palastes hier statt, hinten, am Tiberufer.

Waren Sie vielleicht Zeuge der Affäre?

Zufällig, Signore, ganz zufällig, wie ich Sie versichern kann.

Um so besser, erwiderte ich mit beruhigendem Lächeln. Später sollen Sie mir die ganze Geschichte erzählen. Noch etwas: sollte sich dieser Salviati blicken lassen, so sagen Sie ihm, ich persönlich sei sehr begierig, ihn zu sehen. Er wird sehr wohl verstehen, was das bedeutet, und nun, Gräfin, verzeihen Sie mir, bin ich völlig bereit.

Die Gräfin ging voraus. Ich folgte ihr mit der Wärterin die enge Stiege zum ersten Stockwerk hinab. Dann durchschritten wir lange Gänge, welche durch Fenster erhellt waren, die auf die den großen Hof umgebenden Galerien gingen. Schließlich stiegen wir eine zweite breite Treppe zum zweiten Stockwerk empor. Dort blieb die Gräfin stehen.

Wärterin, gehen Sie lieber voran! flüsterte sie. Sagen Sie ihr, daß zwei Freunde aus London sie zu sprechen wünschen. Wir werden augenblicklich folgen.

Die Wärterin öffnete die nächste Türe und ließ sie offen stehen, als sie das Zimmer betrat. Einen Augenblick später schlüpften wir leise in ein wunderbar ausgestattetes Boudoir, an das sich außen eine Loggia mit dem Blick auf den Tiber anschloß.

Nunmehr erschien die Wärterin wieder an einer inneren Türe des Boudoirs und bat uns durch ein Zeichen, näherzutreten.

Gehen Sie voraus! flüsterte die Gräfin, vielleicht hat sie mich vergessen.

Nicht ohne ein gewisses Gefühl der Rührung betrat ich das Gemach und erblickte eine Gestalt mit blassem Antlitz und großen Augen, die in ihrem Bett aufsaß und uns furchtsam entgegensah. Als sie mich indes erkannte, wie ich mich ihrem Bette näherte, fuhr sie auf und mit einem halbunterdrückten Ausruf des Entzückens streckte sie mir ihre beiden Hände entgegen und rief:

Endlich, Doktor! Gott hat sich doch endlich meiner angenommen. Oh, jetzt werde ich wieder gesund werden. Nicht wahr, Doktor, Sie werden mich mitnehmen und schützen und schirmen, wie Sie mir's versprochen haben?

Als sie hierauf die Gräfin erblickte, setzte sie in verändertem Tone hinzu: Wer ist diese schöne Dame da?

Erinnern Sie sich meiner nicht, Gräfin? fragte meine Begleiterin und näherte sich ebenfalls dem Bette. Ich bin verwandt mit Ihnen, die Gräfin Maria, die Witwe Enricos.

Immer noch schien die alte Dame sich nicht fassen zu können.

Ich erinnere mich an Sie, meine Liebe, sagte sie. Sie waren mit Enrico verheiratet. Ich habe Sie ein oder zwei Mal gesehen und dachte mir, wie schön Sie seien, aber ich verstehe nicht ganz, warum Sie mit dem Doktor gekommen sind.

Oh, sagte ich, die Gräfin und ich haben uns in der letzten Zeit kennen gelernt und wir sind ausgezeichnete Freunde geworden – alles Ihretwegen! Seit unserer ersten Zusammenkunft haben wir mit vereinten Kräften gearbeitet, um Sie aufzufinden und aus den Händen Ihres Verfolgers zu befreien.

Wieder streckte die alte Dame lächelnd ihre Hand aus und sagte:

Küssen Sie mich, meine Liebe! Oh, wie wohl es tut, endlich Freunde gefunden zu haben. Nunmehr möchte ich noch weiterleben.

Weiterleben? Selbstverständlich! rief meine Gräfin aus und küßte sie, noch viele Jahre voll Glückes sollen Sie erleben! Wir beabsichtigen, Sie geradenwegs aus diesem schrecklichen Gebäude – kenne ich es als solches denn nicht auch aus eigener Erfahrung? – herauszunehmen, und nie mehr soll eine böse und grausame Hand an Ihrer Freiheit rütteln!

Sie sind sehr gut. Sie haben ein liebes, freundliches Gesicht, Maria, und ist der Doktor da nicht ein feiner Mensch? Also Freunde sind Sie? Wie mich das freut! Wissen Sie, daß Vittorio seinen Vater getötet hat?

Ja, ich weiß es.

Und hat Ihnen der Doktor erzählt, wie grausam ich behandelt worden bin? Erinnern Sie sich, Doktor, des Pontifex Squares? Es ist eine Schande, meine Liebe, oh, eine Schmach! Von rohen Männern wurde ich im Nachtgewand weggeschleppt, wie kann ich das je vergessen!

Sie hielt einen Augenblick inne, dann fügte sie mit einem Lachen, das peinlich anzuhören war, hinzu: Aber Vittorio hat schließlich doch nicht gesiegt, oder? Haben Sie es noch in Ihrem Gewahrsam, Doktor? Was ich Ihnen übergab, ist es in Sicherheit?

Jawohl, gewiß, Gott sei Dank! Aber man hat verzweifelte Versuche unternommen, es mir zu entreißen, als sich herausstellte, daß es nicht in Ihrem Besitze war. Einbrecher haben meine Wohnung darnach durchsucht. Und sie haben sogar den Versuch gemacht, es auf meiner Bank zu holen, wo es jetzt liegt.

Oh, Gott sei Dank! Es fehlte nicht viel, daß er meinen Widerstand gebrochen hätte – es ist ihm fast gelungen – und er würde es immer wieder von neuem versucht haben, aber jetzt, da Sie gekommen sind, hat mein Leiden ein Ende. Ich habe jetzt keine Furcht mehr, und Sie werden mich auch nicht verlassen, nicht wahr, meine Liebe? fügte sie, sich an die Gräfin wendend, hinzu. Nach einer Pause fuhr sie fort:

Fräulein Hyde, die Wärterin, hat mich sehr gut behandelt. Natürlich wußte sie nichts von dem Vorgefallenen. Man sagte ihr, ich sei irrsinnig. Ich kann ihr keinen Vorwurf machen. Aber Sie, Maria, können sich Vittorio gegenüber Ihre Selbständigkeit wahren. Sie sind die Witwe seines Bruders. Gleich mir, waren auch Sie einmal Herrin in diesem Palaste. Sie können ihm trotzen. Ich brauche mich nicht zu fürchten, solange Sie hier sind. Sie werden mich nicht verlassen, meine Liebe, nicht wahr?

Keine Stunde, so lange Sie an diesem verfluchten Orte weilen, sagte die Gräfin. Ich werde ins Hotel senden und meine Zofe beauftragen, das Nötige hieher zu bringen, und werde hier bleiben, bis Sie sich so weit erholt haben, daß man Sie wegführen kann.

Oh, ich fühle mich jetzt schon ganz wohl, rief die alte Dame, zitternd vor fieberhafter Aufregung, aus. Ich werde sofort aufstehen und mich ankleiden, meine Liebe, und mit Ihnen den Palast verlassen. Ich kann mich auf den starken Arm des Doktors stützen, um die Treppe hinabzugehen. Gewiß, ich habe noch viel Kraft übrig. Je früher ich von hier wegkomme, desto besser. Glauben Sie mir das! Kommen Sie, Wärterin, und helfen Sie mir. Ich – ich – oh!

Mit einem plötzlichen Aufschrei fiel sie in das Kissen zurück und griff krampfhaft nach ihrer Brust.

Mein Gott! sagte ich, nach einer hastigen Untersuchung, ein Schlaganfall! Sie hat sich zu sehr aufgeregt. Holen Sie eilends Branntwein, Wärterin! Tun Sie, was Sie für sie tun können, damit sie ja nicht stirbt, bevor ich zurückkehre. Welcher Segen, Gräfin, daß Sie Ihren Wagen nicht weggeschickt haben!

Ich eilte durch die Korridore und die breite Treppe hinab in den Hof, sprang in den dort wartenden Wagen und wies den Kutscher an, so rasch als irgend möglich zur englischen Apotheke an der Piazza di Spagna zu fahren.


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