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Drittes Kapitel

Ein zweiter Blick indes belehrte mich, daß der Besucher nur ein großer, plumper Mann mit rotem Gesicht, in Hemdsärmeln war, der seine Mütze berührte und sagte:

Entschuldigen Sie, Herr Doktor. Ich bin's bloß – der Hauswirt – Mimms is mein Name. Ich dachte, es sei besser, wenn ich selber heraufkomme; es is nämlich ein Mensch unten, der schon eher ein wenig windig aussieht und darauf besteht, unsere Zimmermieterin, Frau Latimer, zu sehen. Nein, Sie gehen nich hinauf, sag' ich, bis ich herausbringe, ob's ihr paßt oder nich, Sie zu sehen, sag' ich.

Sie haben sehr weise gesprochen, Herr Mimms, erwiderte ich. Treten Sie ein, bitte!

Als er das getan, schloß ich die Tür und fuhr fort: Frau Latimer ist leider nicht gesund genug, um heute abend noch jemand zu empfangen. Ich habe ihr sogar eben vorgeschrieben, zu Bett zu gehen. Man hätte mich schon vorher konsultieren sollen. Es handelt sich darum! und dabei klopfte ich auf meine linke Brustseite.

Herz, Herr Doktor?

Jawohl, erwiderte ich und senkte meine Stimme zum Flüstern, ich möchte aber nicht, daß sie es hört; es steht indes recht schlimm um sie, und ein wenig Aufregung, wissen Sie –

Ich kapiere, Herr Doktor.

Wenn es sich indes um etwas Wichtiges handelt –

Er sagt, das sei es, Herr Doktor.

Wie heißt er?

Mimms warf einen Blick auf einen Zettel, an den er sich plötzlich wieder zu erinnern schien.

Da steht der Name, Herr Doktor. Ich ließ ihn den Namen schwarz auf weiß niederschreiben.

Ich blickte auf den Zettel, auf dem der Name Frangipani stand. Ich nehme an, daß ich erstaunt zusammengefahren bin, denn Mimms fragte plötzlich:

Kennen Sie den, Herr Doktor?

Nicht entfernt, Herr Mimms. Ich werde den Zettel der Frau Latimer hineinbringen, aber unter gar keinen Umständen werde ich ihr erlauben, heute abend noch aufzustehen. Nehmen Sie einen Augenblick Platz, Herr Mimms!

Nein, danke, Herr Doktor – ich bleibe lieber stehen, wenn Sie nichts dagegen haben.

Wie Sie wollen, sagte ich mit einem freundlichen Lächeln; dann betrat ich das Schlafzimmer.

Die Gräfin hatte eine Kerze angezündet und saß auf dem Bettrand; ihre schreckerfüllten Augen hielt sie auf die meinigen geheftet. Die zwei brennendroten Flecke auf ihren Wangen bildeten einen unheimlichen Gegensatz zu ihrem bleichen Gesichte.

Er heißt Frangipani, sagte ich. Wünschen Sie ihn zu sehen? Antworten Sie leise, wenn ich bitten darf.

Nein, nein, tausendmal nein, flüsterte sie, ich sterbe fast vor Entsetzen und Furcht. Was soll ich beginnen – o! was soll ich tun?

Vor allem sich fassen und ruhig verhalten, antwortete ich; das Uebrige aber mir überlassen. Ihnen soll kein Leids geschehen – seien Sie dessen versichert! Ich werde im Augenblick zurück sein.

Ich kehrte zu Mimms zurück und sagte: Frau Latimer glaubt, daß es sich um einen Irrtum handle, da sie niemand dieses Namens kenne.

Damit händigte ich ihm den Zettel wieder ein.

Auf jeden Fall werde ich als ihr ärztlicher Beistand nicht zugeben, daß sie heute nacht noch gestört wird. Sagen Sie das dem Manne, und wenn er trotzdem auf seiner Absicht beharrt, nun dann –

Ueberlassen Sie mir das vertrauensvoll, Herr Doktor, unterbrach mich Mimms und verließ unternehmungslustig das Zimmer. Ich bin nich der Mann, der sich etwa genieren wird, sich die Freiheit zu nehmen, nein, nein! Mit diesen Worten verschwand er die Treppe hinab.

Eine lebhafte Auseinandersetzung folgte alsbald im Korridor unten. Zornige, laute Stimmen erhoben sich. Dann blieb es ein paar Sekunden still, worauf die Haustür heftig zugewettert wurde. In diesem Augenblick fiel es mir ein, daß ich eine einzigartige Gelegenheit verpaßt hatte, den Mann zu sehen und sprechen, von dem – wenn ich der Gräfin Glauben schenken konnte – mein Vater seinen Todesstreich empfangen hatte. Wenn ich jedoch die Aufgabe übernahm, ihr ein Beschützer zu sein, war die Wahrscheinlichkeit, daß wir schließlich doch noch einmal zusammentreffen würden, nicht so fernliegend; in diesem Fall hätte ich dann den Vorteil, ihm völlig unbekannt zu sein.

Ich blieb auf dem Vorplatz noch ein oder zwei Minuten stehen, um Mimms zu erwarten, falls er noch einmal zurückkäme, aber als ich hörte, daß er sich wieder in der Richtung nach der Küche entfernte, begab ich mich sofort zur Gräfin zurück. Sie zitterte wie Espenlaub, ihre Augen glühten vor Aufregung, als sie sie mir voll zuwandte.

Wie steht's? fragte sie.

Er ist weg! antwortete ich. Kommen Sie wieder ins Wohnzimmer, damit wir die Sache besprechen können!

Ich führte sie zu ihrem Lehnstuhl und setzte mich neben sie.

Wenn ich Ihnen irgendwelche Hilfe leisten soll, fuhr ich fort, muß ich die volle Wahrheit kennen: Sie dürfen mir nichts verheimlichen, wer ist dieser Mann?

Der Bruder meines Mannes, antwortete sie, der gegenwärtige Erbgraf Frangipani.

Und warum fürchten Sie ihn?

Weil er mein Todfeind ist. Er ist mir seit Jahren auf den Fersen.

Aus welchem Grunde?

Furchtsam ließ sie ihre Blicke durch das Zimmer schweifen.

Das kann ich Ihnen nicht sagen; hier wenigstens nicht. Diese Wände haben Ohren, ich bin überzeugt davon. Sie müssen mich mitnehmen und irgendwo verbergen. Ich werde allmählich alt. Ich kann das nicht mehr länger aushalten. Ich werde Ihnen das alles erzählen, sobald die Zeit dafür gekommen ist; nur um eins bitte ich Sie: führen Sie mich weg! Sie werden es nicht bereuen. Sie werden eine große Belohnung dafür erhalten. Ueberdies haben Sie es mir versprochen. Der Sohn des Doktor Perigord würde nie sein Wort brechen, das weiß ich.

Das entschied den Fall. Der Vertrag mochte sich als unsinnig, ja als unheilvoll für mich erweisen, aber mein Wort war, wie sie sagte, verpfändet, und ich mußte notwendigerweise die Verantwortung für die Sachlage übernehmen.

Ich muß darüber nachdenken, erwiderte ich. Es ist zu spät für Sie, noch heute abend Ihre Wohnung zu wechseln. Ich muß einen Plan ausdenken, und dann müssen wir auch Mimms beruhigen. Er wird nicht damit einverstanden sein, daß seine Mieterin, die ihm bedeutenden Gewinn einbringt, auf eine plötzliche Eingebung hin seine Wohnung verläßt.

O, mit Geld wollen wir dies rasch erreichen, entgegnete sie ungeduldig. Sie erfinden irgend eine Ausrede für meinen Auszug, und das andere werde ich schon in jeder Höhe liefern, die Sie für angebracht halten.

Ganz recht, stimmte ich bei. Bevor ich weggehe, werde ich mit Mimms reden. Sie überlassen also die ganze Angelegenheit meinem Gutdünken?

Vollständig, erwiderte sie und erhob sich von ihrem Stuhl, ich werde Ihnen sofort das Geld geben.

Mit diesen Worten zog sie sich in ihr Schlafgemach zurück, aus dem sie alsbald mit einem kleinen Handtäschchen aus Gemsleder zurückkehrte, das sie mir übergab.

Da haben Sie fünfundzwanzig Sovereigns, sagte sie. Verwenden Sie sie, wie Sie es für gut halten – aber, um Himmels willen, holen Sie mich morgen ab! Pst! haben Sie den seltsamen Laut im Zimmer nicht wieder vernommen?

Ich hatte ihn genau gehört.

Jawohl, sagte ich. Sehr merkwürdig, aber es ist niemand – es kann niemand außer uns beiden im Zimmer sein.

Sie war indes mächtig aufgeregt. Ich habe immer wieder in der letzten Zeit unerklärliche Laute gehört, besonders nachts, flüsterte sie, indem sie sich nahe zu mir herüberbeugte, und heute abend bin ich fürchterlich nervös und ängstlich, und ich glaube, zur Vorsicht will ich – Hiebei hielt sie inne; mit dem Finger an den Lippen schlich sie wieder auf den Zehen aus dem Zimmer.

Erst nach vollen fünf Minuten kehrte sie wieder. Ich konnte nunmehr sehen, daß sie etwas zwischen den Falten ihres Rocks versteckt hielt. Sie setzte sich wiederum, und dann fühlte ich, daß sie mir unter dem Tisch einen großen Briefumschlag auf den Schoß legte.

Hier, sagte sie und reichte mir mit der anderen Hand einen Zettel, das ist die Adresse eines Freundes von mir, an den Sie sich am besten wenden würden.

Höchlich erstaunt las ich auf dem Zettel die Worte:

›Ich fürchte, daß die Wände sowohl Ohren als Augen haben, verbergen Sie diesen Umschlag auf irgendeine Weise und nehmen Sie ihn mit! Seines Inhalts wegen werde ich verfolgt. Das ganze Geheimnis ist darin verschlossen. Bewahren Sie es, als hinge Ihr Leben davon ab.'

Gewiß, gnädige Frau, sagte ich. Ich werde mich umgehend an ihn wenden, und nun, fügte ich hinzu, indem ich meinen Rock zuknöpfte und dabei das geheimnisvolle Paket versteckte, werde ich zunächst mit Mimms reden und dann alle nötigen Vorbereitungen für morgen treffen. Ich werde ihn auch bitten, mich bis zu meinem Sprechzimmer zu begleiten. Er wird Ihnen dann ein Schlafmittel mitbringen. Vergessen Sie nicht, es einzunehmen, da Sie sonst bei Ihrer Nervenverfassung morgen zu allem unfähig sein würden!

Sie gab mir das Versprechen, und so verabschiedete ich mich. Als ich die enge Stiege hinunterging, steckte ich den Umschlag in meine innere Brusttasche. Unten rief ich Mimms. Der würdige, wenngleich hemdärmelige Mann stieß einen Augenblick später zu mir.

Könnte ich ein paar Minuten mit Ihnen reden, Herr Mimms? fragte ich.

Gewiß, Herr Doktor, erwiderte er. Es wird im Wohnzimmer zwar ein wenig kalt sein, aber wenn Sie sich nichts daraus machen –

Nicht im geringsten, Herr Mimms.

Daraufhin öffnete er die Tür zu einem Zimmer, das auf die Straße ging, strich ein Zündholz an, zündete damit eine Lampe, die auf dem Tisch stand, an und bat mich, Platz zu nehmen.

Es handelt sich um etwas, begann ich, worüber sich Frau Latimer unmäßig aufgeregt hat. Der Grund, warum sie sich in einer solch abgelegenen Gegend eingemietet hat, war, um diesem Menschen zu entkommen. Nunmehr hat er ihr Versteck ausfindig gemacht; daher muß sie es sobald als möglich verlassen und einen anderen Zufluchtsort aufsuchen. Ich habe die Aufgabe übernommen, ein Versteck für sie zu suchen. Sie bedauert indes diese Zwangslage lebhaft; sie hat mir versichert, daß sie von Frau Mimms und Ihnen selber aufs freundlichste und zuvorkommendste behandelt worden ist.

Dank schön für Ihr Kompliment, Herr Doktor. Wir beide wußten, daß sie eine feine Dame is und daß uns ihre Gründe, warum sie den Pontifex Square mit ihrer Anwesenheit beehrt hat, nichts angehen. Und so haben wir uns bemüht, ihr den Aufenthalt so angenehm zu gestalten, als in unseren schwachen Kräften lag.

Wie ich gesagt habe, bemerkte ich, erkennt sie das dankbar an und beauftragt mich, zu fragen, ob Sie in Anbetracht ihrer plötzlichen Abreise ohne vorhergehende Kündigung so freundlich sein wollen, an Stelle dieser Kündigung zehn Pfund in Empfang zu nehmen.

Was? Zehn Pfund! Was denken Sie denn? rief er aus und starrte mich in namenlosem Erstaunen an. So was hab' ich noch nie gehört. Sie meinen doch wohl ein Pfund!

Nein, ich meine zehn Pfund, entgegnete ich, entnahm der kleinen Handtasche zehn Sovereigns und händigte sie ihm ein; nein, sie wünscht, Sie möchten das da annehmen; aber sie denkt sich das so, daß Sie für den Fall weiterer Anfragen nichts wissen, verstehen Sie? Ihre Frau weiß nichts, Anna weiß nichts von ihrer Person. Sie verstehen mich doch, nicht wahr?

Ob ich Sie verstehe! erwiderte er, indem sich sein Gesicht von einem Ohr zum anderen mit einem Grinsen überzog. Ich glaub's schon, daß ich Sie verstehe. Sie können die Hand ins Feuer legen, Herr Doktor, daß niemals jemand aus mir oder aus meiner Alten oder Anna ein Sterbenswörtchen herausziehen wird. Wenn wir wüßten, daß die Gräfin in Verlegenheit wäre und daß wir ihr in unserer armseligen Art von Nutzen sein oder einen Gefallen erweisen könnten – hol mich der Kuckuck, wenn wir nich zehn Meilen weit laufen, um es zu tun. Darauf können Sie Gift nehmen, Herr Doktor!

Ich habe volles Vertrauen zu Ihnen, Herr Mimms, gab ich zur Antwort. Stecken Sie also das Geld ein – Quittung brauche ich keine – und bis morgen früh werde ich mir einen Plan ausdenken, wie ich sie an einen absolut sicheren Ort bringen kann. Es steht sehr schlimm mit ihrem Herz, und ich könnte keine Bürgschaft für die Folgen übernehmen, wenn sie noch ein zweiter Schlag träfe, wie der von heute abend. Uebrigens erinnert mich das an etwas anderes: würden Sie vielleicht Ihren Rock anziehen und mich bis zu meinem Sprechzimmer begleiten? Sie soll heute abend ein Schlafmittel einnehmen, und ich wäre Ihrer Frau sehr verbunden, wenn sie dafür sorgen würde, daß sie es nimmt.

Selbstverständlich, erwiderte er, in einer Minute stehe ich Ihnen zu Diensten.

Mit diesen Worten eilte er aus dem Zimmer, und noch in der gleichen Minute machten wir uns auf den Weg, den Pontifex Square hinunter.


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