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Siebtes Kapitel

Mimms zog den Vertikow so weit hervor, daß er mit der Wand einen rechten Winkel bildete.

Da, sehen Sie her, Herr Doktor, und dann sagen Sie mir aufrichtig, was Sie davon halten!

Was sollte ich denn auch davon denken? Es blieb mir nichts übrig, als auf eine Oeffnung zu starren, die etwa einen Meter im Quadrat maß und geradenwegs ins Nebenhaus führte. In jeder Beziehung kam mir das Loch wie eine offene Tür vor, und alles, was bisher so geheimnisvoll geschienen hatte, war mit einem Male klar. Die seltsamen Geräusche, die ich am Abend zuvor im Zimmer gehört hatte, waren jetzt leicht verständlich. Der Weg, auf dem die Gräfin entführt worden war, bot jetzt dem Verständnis keine Schwierigkeiten mehr, und der von Anna gemachte Fund, die Busennadel, die wahrscheinlich im Kampfe mit der erschreckten, widerstrebenden Gräfin zu Boden gefallen war, bildete nur noch eine Episode in einer sehr kühnen, ganz außergewöhnlichen Entführung. Außer allem Zweifel war unsere Unterhaltung ihrem ganzen Umfang nach belauscht, waren unsere Bewegungen beobachtet worden. Aber dank der Geschicklichkeit der Gräfin war es der Wachsamkeit ihrer Feinde entgangen, daß sie mir den versiegelten Umschlag übergeben hatte, und ich tröstete mich einigermaßen mit dem Gedanken, daß wenigstens diese Papiere vor räuberischen Händen in Sicherheit waren.

Alle diese Gedanken durchkreuzten in einem Augenblick mein Gehirn.

Na, das Loch da erklärt alles, Herr Mimms, erwiderte ich.

Nein, so 'was hab' ich mein' Lebtag' noch nich gesehen, bemerkte Mimms' Freundin in Freud und Leid, mit vor Ueberraschung weitaufgerissenen Augen. Gott im Himmel! Wir hätten in unseren Betten ermordet werden können, Anna und wir alle, und hätten nich 'mal gewußt, was geschehen is. Was nützen da noch Schlösser und Riegel? Es is dasselbe, als wenn wir alle Nacht die Haustür sperrangelweit hätten offenstehen lassen.

Toll, bemerkte Mimms, toll, sag' ich. Es is niemand ermordet worden, und die Räuber wollten nichts von dir, noch von Anna, noch von mir. Die Gräfin wollten sie haben – und die haben sie nun auch – wenigstens sieht es so aus, nich? Aber was ich nich verstehe, is folgendes, setzte der Maurer hinzu. Ich kenn' mich aus mit Backsteinen und Zement und Gips und derlei Dingen – zum wenigsten sollt' ich mich darin auskennen – und was ich, wie gesagt, nich verstehe, ist das: wie haben sie dieses Loch machen können, ohne daß es jemand gehört hat? Die Mauer ist hier nur zehn Zentimeter dick, das weiß ich, und der Mörtel von derselben Art, wie man ihn in diesen billigen Häusern benützt. Aber sie haben die Latten durchhauen oder durchsägen müssen, und zehn gegen eins is zu wetten, daß ein Backstein oder ein Stück Gips herunterfallen mußte. Das kapier' ich nich – nein. Das is schon ein famoses Stück Arbeit – ich selber hätte es nich besser fertigbringen können. Das hat sicher ein Kollege von mir gemacht. Ein anderer hätte es nich gekonnt. Und trotzdem müßte er doch reichlich Lärm gemacht haben. Backsteine und Gips sind keine Butter, Herr Doktor. Aber ich glaube, daß die Gräfin einen festen Schlaf gehabt hat.

Nunmehr erklärte ich, daß sie in der letzten Zeit öfters seltsame, völlig unerklärliche Laute mitten in der Nacht gehört hatte und fügte hinzu:

Was das anlangt, wie kommt es denn, daß weder Sie noch Ihre Frau letzte Nacht im Schlaf gestört worden sind? Diese Geschichte kann doch nicht in aller Stille vor sich gegangen sein!

Schon recht, Herr Doktor, aber, wie ich Ihnen schon gesagt habe: ich und meine Alte haben einen schrecklich schweren Schlaf. Das is der Witz!

Gewiß, erwiderte ich, aber die Leute im Nebenhaus? wenn Sie so nahe dabei wohnen, müssen Sie von Ihren Nachbarn doch sicher Näheres wissen?

Das hab' ich nie herausgebracht! erklärte Frau Mimms. Ich hab' noch keine Seele hineingehen oder herauskommen sehen. Ich hab' auch den Verwalter gefragt, und der sagte mir, der Hauszins sei dem Hausherrn direkt im voraus ausbezahlt worden, und auch er habe nie jemand im Nebenhaus gesehen, nur glaube er, die Mieter seien Ausländer und hätten das Haus etwa vor drei Wochen gemietet. Vorher hat es ein Jahr lang leer gestanden!

So! sagte ich, jetzt wird mir's allmählich verständlich. Und nun, Herr Mimms, was sagen Sie dazu? Sollen wir einen Blick ins Nebenhaus werfen?

Ich denke schon, sagte er, kommen Sie nur mit, Herr Doktor!

Dabei schlüpfte er in die gähnende Oeffnung in der Wand. Ich folgte ihm auf dem Fuß und stand im nächsten Augenblick in einem Raum, der das genaue Gegenstück zu dem Wohnzimmer der Gräfin bildete, nur keinerlei Möbel oder sonstige Einrichtungsgegenstände aufwies. Ein Haufen Schutt – Backsteine, Gips, Lattenstücke, Tapetenstreifen – war in einer Ecke aufgetürmt, sonst waren nur nackte Wände und ein schmutziger Bretterboden zu sehen. Wir warfen einen Blick ins Nebenzimmer und fanden daselbst dieselbe trostlose Leere vor.

So steht es mit dieser verteufelten Räuberei, bemerkte Mimms. Mathilde und Anna, kommt herüber und seht euch die Zimmer an! Obacht auf die Köpfe!

O Gott, o Gott! Wer hätte auch das gedacht, sagte Frau Mimms, die, weiß wie eine Kalkwand, ihre Blicke durch die leeren Zimmer wandern ließ. Kein einziges Möbel in der ganzen Wohnung. Ich möchte wissen, wie es drunten aussieht. Geh' du voran, Wilhelm – du und der Herr Doktor. Ich und Anna wollen oben auf der Treppe warten.

Mimms lachte.

Wovor fürchtest du dich denn, Alte? fragte er.

Ich fürchte mich nich, nein wahrlich; nur bin ich ein wenig nervös und von all dem Kummer und der Aufregung angegriffen.

Na, Mathilde, ich setze eine Million gegen eins, daß außer uns nich 'ne Seele in dem Hause steckt.

Gut; geh zu!

Mimms eröffnete den Zug über die knarrende Stiege hinab, und wir folgten ihm in das untere Stockwerk.

Wie ich im voraus angenommen hatte, fanden wir nichts Aufregendes vor und nur wenig, das unsere Aufmerksamkeit hätte erregen können. Das Zimmer, das auf die Straße ging, war bewohnt gewesen. Es enthielt eine geringe Anzahl Einrichtungsgegenstände, darunter eine eiserne Bettstatt mit unordentlich aufgehäuftem Bettzeug, einen Tisch, worauf eine Lampe und eine Anzahl leerer Gläser standen, zwei einfache Holzstühle und einen Waschtisch mit der üblichen Ausstattung. Auf dem Aufsatz stand in einer Reihe aufgestellt eine ganze Batterie leerer Branntweinflaschen. Das war alles. Selbst die Werkzeuge, die zum Durchbruch der Wand benützt worden waren, konnten wir nicht mehr vorfinden, und trotz der peinlichsten Untersuchung gelang es uns nicht, auch nur die unscheinbarste Spur von der verschwundenen Gräfin zu entdecken.

Nun, was halten Sie jetzt davon, Herr Mimms? fragte ich.

Daß das noch über das Bohnenlied geht.

Und die arme Frau Gräfin is dazu noch im Nachtkleid weggeschafft worden, jammerte Frau Mimms. Das genügte schon, sie vor Scham sterben zu lassen.

Ueber diesen Punkt hatte ich meine eigene Ansicht. – Ich glaube eher, sagte ich, daß sie recht warm in Pelze eingehüllt und so höflich behandelt worden ist, als es die Umstände erlaubten.

Frau Mimms starrte mich überrascht an.

Wie? Was meinen Sie damit, Herr Doktor? Sie glauben doch nich, daß ihr kein Leid geschehen is?

Doch gewiß, wenigstens bis jetzt nicht. Kein Haar wird ihr gekrümmt werden, und auch keine Behaglichkeit, die man mit Geld erkaufen kann, wird ihr abgehen. Das weiß ich ganz bestimmt.

Dann, sagte Mimms, wissen Sie mehr von der Geschichte als wir. Vielleicht verheimlichen Sie uns etwas. Is das recht, wo in mein eigenes Haus eingebrochen und das ganze Gebäude sozusagen auf den Kopf gestellt worden is? Is das recht an uns gehandelt, Herr Doktor?

Na, seien Sie vernünftig, beschwichtigte ich ihn. Sie müssen es nicht so auffassen. Ich vermute das ja nur. Ich weiß nicht mehr als Sie, was aus ihr geworden ist. Sie selber wissen genau, was gestern abend geschehen ist. Die Erklärung, die sie mir gab, habe ich Ihnen ja wiederholt. Sie hat sich vor ihren Verwandten versteckt gehalten – soviel ist ziemlich klar, wie mir scheint. Diese Leute haben sie nun in ihre Gewalt bekommen, das sehen Sie auch ein. Es handelt sich nur um eine Familienangelegenheit, wie ich glaube. Wahrscheinlich eine Geldsache. Daraus folgere ich, daß der alten Dame kein Leid geschieht. Das wollte ich vorhin sagen, weiter nichts.

Mimms rieb sich einen Augenblick in sprachlosem Erstaunen das Kinn. Dann sagte er:

Das verstehe ich schon, Herr Doktor. Sie müssen mich entschuldigen, daß ich so frei von der Leber weg geredet habe. Aber eine derartige Geschichte kommt am Pontifex Square nich alle Tage vor.

Wahrhaftig nich, stimmte Frau Mimms eifrig bei.

Schweig still, Mathilde! bemerkte ihr Mann. Ich und der Herr Doktor besprechen die Sachlage. Die Sachlage – verstehst du? Und was ich sagen wollte, is das: etwas sehr Ungewöhnliches is vorgefallen; und in meinem Haus is eingebrochen worden. Und jetzt, was soll ich tun? Das frage ich Sie, Herr Doktor, und ich bin der Ansicht, um's ehrlich zu sagen, daß etwas geschehen muß. wie zum Beispiel sollen ich und meine Frau uns zu der Sache stellen?

Gerade das möchte ich auch wissen, Wilhelm, setzte sie hinzu.

Sei still, Mathilde! Die Lage, Herr Doktor, is folgende: wir, meine Frau und ich, nehmen uns eine Mieterin, die uns gut bezahlt.

Ja, das is es, gerade das, fügte Frau Mimms spitzig hinzu, ist die Hauptsache.

Jawohl, fuhr Mimms triumphierend fort. Ja, das is das richtige Wort: die Hauptsache – es is die Hauptsache – in einem gewissen Sinne – und in anderer Hinsicht is sie es nich – denn was geschieht? Diese Mieterin is entführt worden, denn das Loch in der Wand kann sie nich selbst gemacht haben – sie is entführt worden, sag' ich – und, wohlgemerkt, wir haben die Verantwortung. Wer hat sie nun entführt? Ich weiß es nich und Sie wissen es nich, und in meinem Hause läßt sie eine Menge Wertsachen liegen und Gold und Kleider und andere Sachen. Wird nun nich jemand nähere Erklärungen darüber haben wollen? Was wird zum Beispiel die Polizei dazu sagen?

Dies hatte ich erwartet; aber ich wußte nur zu erwidern: Ja, was wird sie dazu sagen?

Zu meiner eigenen Sicherheit, fuhr er fort, muß ich den Vorfall, denk' ich, bei der Polizei melden und mich vom Verdacht reinigen. Dann können sie machen, was sie wollen, Hab' ich nich recht, Herr Doktor?

Aus Gründen, die ich dem Maurersehepaar nicht auseinandersetzen mochte, war ich nicht gerade geneigt, die Polizei zu tief in die Geschichte blicken zu lassen, aber von Mimms' Standpunkt aus mußte ich gestehen, daß er völlig recht hatte.

Gewiß, erwiderte ich daher. Zu Ihrer eigenen Sicherheit ist das das beste, was Sie tun können, wie Sie eben sehr richtig bemerkt haben. Gleichzeitig würde ich den Hausbesitzer benachrichtigen und ihn um eine Erklärung angehen. Er muß doch wissen, wer seine Mieter sind. Auf der Polizei würde ich nur die nackten Tatsachen berichten und keinerlei Vermutungen darüber laut werden lassen. Es wäre auch ganz unnötig, zu erwähnen, was gestern abend zwischen uns vorgegangen ist. Wenn man Ihnen irgendwelche Fragen stellt, so können Sie ja sagen, daß Ihnen die Gräfin nichts schuldet. Das genügt vollständig.

Sehr wohl, Herr Doktor. Ueberlassen Sie das nur mir, sagte Mimms. Ich werde der Polizei genau soviel sagen, als nötig is, um meine Haut zu retten. Kommen Sie, wir wollen das Haus da verlassen!

Damit ging er wieder voraus zum Wohnzimmer der Gräfin.

Am besten wird's sein, fügte er bei, wenn wir's gleich erledigen. Anna, lauf rasch zum Hausherrn und sag' ihm, ich möchte ihn dringend sprechen, währenddessen gehe ich schnell auf die Polizei!

Mittlerweile, sagte ich, will ich hier bleiben, und wenn Ihre Frau so freundlich sein will, mir Papier zu bringen, werde ich ein Inventar über diese Sachen da aufstellen.


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