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Viertes Kapitel

Nunmehr, sagte ich, erzählen Sie mir, wie der Mann aussah. Können Sie ihn mir beschreiben?

Ich weiß nich, Herr Doktor. Ich kann ihn, glaub' ich, schon beschreiben. Wissen Sie, er hatte so 'n großen Pelzmantel an, wie ihn die Fremden und auch die Musiker meist tragen; den Kragen hatte er über die Ohren hinaufgeschlagen und seinen Filzhut hereingedrückt, so daß ich nur seine Augen und Nase und einen weißlichen Bart und Schnurrbart sehen konnte. Also, seine Augen waren groß und schwarz, ja ich möchte beinahe sagen: feurig – und dann hatte er eine gebogene Nase, und ich sagte bei mir selber: ganz so wie 'n Ausländer, sagt' ich mir, und gleich bei seinen ersten Worten sah ich, daß ich mich nich getäuscht hatte.

Ein Italiener wohl? fragte ich.

Ja, so was in der Art, glaub' ich. Ich fürchte, daß ich ihn ein wenig unsanft berührt habe, als ich ihm den Ausgang zeigte. Er hat seine Beine, glaub' ich, in die Rockschöße verwickelt; na, es war ja nich nötig, daß er ruppig wurde, wo ich mich doch höflich mit ihm unterhielt. Was hat er denn eigentlich vorgehabt, das möcht' ich wissen?

Ich auch, erwiderte ich, aber was mich ebenfalls und vor allem interessiert, ist das: wie in aller Welt hat sie, eine Fremde, den Weg zum Pontifex Square gefunden?

Das is sehr einfach, Herr Doktor, sagte Mimms schmunzelnd. Ich will's Ihnen erklären. Charley Potts, der einen Zweispänner kutschiert, Stand Waterloostation, wohnt zwei Häuser von mir am Square. Schon oft haben wir ein Glas zusammen getrunken, wir zwei. Nun kommt eines Tages die Gräfin, wie wir sie nennen, dort an, redet Charley an und führt ein Gespräch mit ihm. Was sie wünscht, sagt sie, wären zwei Zimmer an einem abgelegenen Platz oder sonst an einem Ort, wo niemand sie auskundschaften und belästigen kann, sagt sie, nur müsse der Ort rein und komfortabel sein und die Leute freundlich. Da denkt Charley, als wackerer Freund, an mich und meine Alte, und fährt sie zu uns.

So, so! erwiderte ich. Jetzt verstehe ich das gut. Und vor heute abend hat sie nie Besuch erhalten?

Von keiner Seele, Herr Doktor.

Nach wem hat der Mann gefragt?

Nach der Gräfin, klipp und klar.

In diesem Augenblick schoß mir ein unbehaglicher Gedanke durch den Kopf. Es fiel mir ein, daß ich vielleicht auf dem Wege zum Pontifex Square heimlich beobachtet und verfolgt worden war, und daß, durch meine eigene Unvorsichtigkeit, mein Verfolger die Auskunft, die mir Anna gegeben, mit angehört und sich zunutze gemacht hatte. Aber sofort sah ich ein, daß dies ganz unmöglich sei. Als ich Anna zum Pontifex Square gefolgt war, hatte sich auf dem Platz kein Mensch sehen oder hören lassen. Auch der leiseste Schritt würde an einem so verlassenen Orte meiner Beobachtung nicht entgangen sein.

Als ich noch schweigend darüber nachdachte, erreichten wir das Ende des Squares. Dort begegneten wir auf seinem Posten einem Schutzmann, mit dem ich zufällig bekannt war. Ich blieb stehen.

Wie geht's, Jarvis? fragte ich. Haben Sie noch lange Dienst?

Bis sechs Uhr, Herr Doktor. Eben angetreten.

So, gut denn, sagte ich und drückte ihm ein Fünfschillingstück in die Hand, ich empfehle den Square und insbesondere Nummer 19 Ihrem wachsamen Auge. Wenn Sie abgelöst werden, so sagen Sie Ihrem Kollegen, dasselbe zu tun, nicht wahr?

Zu Befehl, Herr Doktor. Ist was Verdächtiges vorgefallen?

Gerade genug, junger Mann, bemerkte Mimms. Ihr werdet Eure Augen offenhalten und tun, was Euch der Herr da sagt; das genügt.

Und, ergänzte ich, wenn Sie morgen frei haben, so kommen Sie für einen Augenblick zu mir und melden Sie mir alles, was Sie irgendwie Ungewöhnliches beobachten. Gute Nacht, Jarvis.

Gut' Nacht, Herr Doktor.

Mimms und ich legten nun schweigend die kleine Strecke Weges zurück, die uns noch von meiner Berufswohnung trennte. Ich schloß auf, zündete das Gas an und bereitete rasch einen ziemlich starken Schlaftrunk, den ich dann Mimms übergab.

Versichern Sie sich, daß sie ihn einnimmt, sagte ich und schraubte das Gas wieder herunter. Sonst wird sie kein Auge zutun und morgen ganz erschöpft sein. Und da Sie schon hier sind, Herr Mimms, wäre mir's recht, wenn Sie mich bis zu meiner Privatwohnung begleiten wollten; sie ist keine hundert Schritte von hier entfernt und es wird keine fünf Minuten Umweg für Sie ausmachen.

Mit dem größten Vergnügen, Herr Doktor, antwortete er, und wenn 's ein paar Meilen wären!

Sehr liebenswürdig, Herr Mimms, ich glaub' es Ihnen. Es ist nur so eine Liebhaberei von mir. Ich fürchte mich nicht im geringsten, aber ich habe so eine Idee. Das ist alles.

Diese Enthüllung mußte Mimms sehr rätselhaft vorkommen, aber er erwiderte, er glaube, er könne so gut wie andere Leute sich das Seine denken und an meiner Stelle würde er genau dasselbe tun.

Als wir vor meiner Gartentür angelangt waren, schüttelten wir uns in aller Freundschaft die Hand. Ich versprach ihm, ihn am folgenden Morgen aufzusuchen, schloß das Haus auf und begab mich sofort auf meine kleine Bude.

»Jetzt aber will ich mir das verflixte Ding da ansehen,« murmelte ich und holte das geheimnisvolle Paket der Gräfin aus der Tasche hervor. Der Umschlag bestand aus sehr kräftigem Pergament, offenbar ausländischen Fabrikates, und war mit großen Siegeln aus gelbem Lack versehen. Auf der Rückseite des Umschlags erblickte ich einen Kreis mit gewissen unleserlichen Geheimzeichen, aber einen Namen oder eine Adresse konnte ich nicht entdecken. Ich wandte ihn mehrmals um, hielt ihn gegen das Licht, in der vergeblichen Hoffnung, in das Geheimnis seines Inhalts einzudringen und warf ihn dann auf den Tisch.

»Wie mysteriös!« sagte ich mir. »Da ist nichts zu wollen. Ich muß versuchen, mit Hilfe eines ›Buchanan‹ dies Rätsel zu lösen.«

Damit schloß ich ein kleines Schränkchen auf, das ich leicht mit dem Arm erreichen konnte, entkorkte eine Flasche »Black und White« und schenkte mir einen Fingerhut voll des anregenden Getränkes ein. Dann schürte ich kräftig das Kaminfeuer, warf mich in einen behaglichen Sessel, zündete mir meine Pfeife an und, die Füße auf der Kohlenschütte, machte ich mich daran, mir ein klares Bild von dieser ganzen verblüffenden Geschichte zu machen.

Wer zum Henker konnte, um damit zu beginnen, diese niedliche kleine Gräfin Frangipani sein, die da mit einem Schlag mit ihren Geheimnissen in mein einförmiges Dasein eingriff, mit ihren halben Vertraulichkeiten und Andeutungen, daß ich durch sie mein Glück machen könne, und all den angenehm gruseligen Dingen, die drum und dran hingen? Wie in aller Welt hatte mein Vater in ihre Angelegenheiten verwickelt werden können? Und vor allem, wie sollte er, der als gesetzter, ernster Mann in meiner Erinnerung stand, ihr zuliebe ein Duell ausgekämpft haben, und das noch mit einem Menschen aus ihrer Verwandtschaft?

Die ganze Geschichte war so verflucht lächerlich, daß sie keinen weiteren Gedanken mehr wert war. Das Weib mußte eine Irrsinnige sein. Ich schürte wiederum das Feuer und begann nachgerade zu wünschen, daß mir Anna Mimms nie in den Weg gelaufen wäre.

Aber es hatte keinen Sinn zu versuchen, mir die Sache so leichthin aus dem Kopf zu schlagen. Die Dame hatte gewisse Tatsachen mit aller Bestimmtheit vorgebracht; plötzlich sagte ich mir, daß meine Mutter, die ja noch am Leben war, sie entweder bestätigen oder widerlegen konnte. Ich war zu der Zeit von meines Vaters Tod zu jung gewesen, um viel davon zu verstehen oder mich darum zu kümmern. Wir reisten damals sogleich nach England. Ich besuchte eine Schule, später die Universität Edinburgh, und so kam es, daß ich nur wenig bei meiner Mutter zu Hause gewesen. Das Ergebnis davon war denn auch, daß wir nie tiefer auf den Gegenstand eingingen. Außerdem war meine Mutter seit unserer Rückkehr nach England krank geworden, mürrisch, verschlossen, abweisend in ihrem Betragen, und sie ließ sich bei Gelegenheit meiner ziemlich seltenen Besuche nie große Freude anmerken. Sie lebte, wie ich bereits erwähnt habe, zu Tunbridge Wells, zusammen mit ihrer älteren Schwester, einem unverheirateten Fräulein, zwischen der und mir nie ein tieferes Verhältnis bestanden hatte, als es gemeinhin zwischen Verwandten der Fall ist. Der Grund dafür ist mir nie eingefallen, auch habe ich nie darüber nachgedacht.

Als ich mich in meinem Stuhle umwandte, um meine Pfeife von neuem zu stopfen, fiel mein Auge wieder auf die großen gelben Siegellacktupfen des geheimnisvollen Umschlags. Als ich sie näher betrachtete, bemerkte ich, daß sie alle den Eindruck eines ganz kleinen Siegels trugen, mit einer winzigen Inschrift; ich vermochte diese indes nicht zu entziffern.

Ich fragte mich, ob der Inhalt dieses Umschlags überhaupt ein Interesse für mich haben könnte. Und doch hatte sie gesagt: Bewahren Sie es, als hinge Ihr Leben davon ab! Ging es mich wirklich etwas an oder war es nur eine heimtückische Art und Weise, mich in einen – der Himmel weiß was für einen – Plan oder ein Unternehmen zu verwickeln? Ich versuchte, ihre ein wenig unzusammenhängenden Eröffnungen zu ordnen, so wie ich sie jetzt niedergeschrieben habe, und meine Schlüsse daraus zu ziehen.

Ihre Bemühungen, sich zu verstecken, und die geheimen Machenschaften ihrer Feinde – wenn sie dies wirklich waren – konnte ich mir aus den Daten, die sie mir gegeben, nicht im geringsten erklären.

Wenn sie von einem Verwandten verfolgt wurde, wie sie ausgesagt hatte, warum hatte sie dann nicht den Schutz des Gesetzes angerufen? Wenn sie auf der anderen Seite irgend etwas besaß, was ihr nicht von Rechts wegen angehörte, warum wurde nicht die Hilfe des Gesetzes gegen sie in Anspruch genommen? Das ging über meinen schlichten Menschenverstand.

»Nein,« sagte ich mir wieder, »für ein so auffälliges und ungewöhnliches Vorgehen muß ein tieferer und vielleicht ein dunklerer Beweggrund vorhanden sein. Ein Familiengeheimnis möglicherweise, auf das unter keiner Bedingung das Licht der Oeffentlichkeit fallen darf.«

Wenn dies indes der Fall war, und das Geheimnis tatsächlich in jenem Umschlag mit den gelben Siegeln verschlossen lag, warum gelangte es auf diese ungewöhnliche Weise in meinen Besitz? Warum hatte sie, statt es an irgendeinem sicheren Orte, bei ihrem Bankier zum Beispiel, zu verwahren, auf ihren gefahrvollen Wanderungen einen so leicht verlierbaren oder verlegbaren Gegenstand wie dieser es war, mit sich geführt?

Die einfachste Erklärung war die, daß die »Gräfin« trotz allem und allem, eine liebenswerte alte Dame sei, der aber leider eine Schraube im Gehirn losgegangen war, und daß das wertvolle »Geheimnis« eine lediglich imaginäre Bedeutung besaß. In diesem Falle war es verständlich, daß der Mann, der so unsanft aus dem Hause 19 des Pontifex Square hinausbefördert worden war, begründete Beschwerden gegen den energischen Mimms hatte. Doch ihr Schreck beim bloßen Klang der Stimme jenes Mannes und ihr leidenschaftliches Hilfeflehen klang so echt, daß ich eine solche Theorie fallen ließ.

»Jetzt steck' ich's auf,« sagte ich mir schließlich. »Ich denke doch, daß ich ihre Aussage wörtlich aufnehmen und die weitere Entwicklung abwarten muß. Entwickeln wird sich die Geschichte, und zwar bald, wenn sie auf Wahrheit beruht. Aber was soll ich mittlerweile mit diesem verfluchten Ding da anfangen? Es ist mir einigermaßen unangenehm, daß es hier im Haus ist. Ei, Donnerwetter, das paßt ja vorzüglich!«

Eine glänzende Idee war mir gekommen. Ich erinnerte mich daran, daß ich einige große Umschläge irgendwo in meinem Schreibtisch hatte. Sofort grub ich einen derselben aus und fand meine Annahme bestätigt, daß das geheimnisvolle Schriftstück mit Leichtigkeit hineinging. Dieses Paket adressierte ich an meinen Bankier und fügte einen Brief bei, worin ich ihn ersuchte, mir die beiliegenden »Familienpapiere« aufzubewahren. Sodann klebte ich die erforderliche Anzahl Briefmarken darauf und machte mich auf den Weg zum nächsten Briefkasten.

Die paar Stufen zum Gartentor eilte ich so schnell hinab, daß ich einen Mann überraschte, der auf der entgegengesetzten Straßenseite unter einer Gaslaterne stand und offenbar mein Haus sorgfältig betrachtete. Er war in einen langen Pelzmantel gehüllt; seinen Filzhut hatte er tief in die Stirne gedrückt, und auch ganz im allgemeinen war ich nach Mimms' Beschreibung überzeugt, daß der Mann kein anderer war, als derjenige, welchen er aus Pontifex Square 19 hinausgeworfen hatte.

Augenscheinlich überrascht durch mein plötzliches Erscheinen, entfernte er sich eilig, zu meiner Erleichterung in der dem Briefkasten entgegengesetzten Richtung. Als ich diesen erreichte, war eben ein Postbeamter damit beschäftigt, den Inhalt des Kastens in seine Ledertasche zu entleeren. Daher händigte ich ihm das wertvolle Schriftstück ein und kehrte eilends wieder nach Hause zurück. Auf diesem Wege begegnete ich keiner Seele.

Ich muß gestehen, daß mich der Zwischenfall einigermaßen beunruhigte. Alle meine Zweifel an der Wichtigkeit des Schriftstücks, dessen ich mich eben glücklich entledigt hatte, waren mit einem Schlage verflogen. Auf jeden Fall steckte etwas Wichtiges darin, und ich begann, mir Gedanken darüber zu machen, ob ich nicht selber in die Geschichte verwickelt sei.

In gewissem Sinne war ich ganz froh, in dieser Nacht nicht zu einem Kranken geholt zu werden. Die Vorfälle des vorhergehenden Abends hatten auf meine Nerven einen größeren Eindruck gemacht, als ich für möglich gehalten hätte. Ich mußte, um einschlafen zu können, zur Lektüre greifen, und dann noch verfolgten mich aufregende Träume.

Meine Haushälterin weckte mich um halb acht Uhr am folgenden Morgen.

Es wartet ein Mädchen unten auf Sie, Herr Doktor, sagte sie. Sie ist sehr aufgeregt und sagt, sie müsse Sie sofort sprechen. Mimms heißt sie, Herr Doktor.

In einer Minute komme ich, gab ich zur Antwort.

Anna war, wie ich fand, wirklich aufgeregt. »O, bitte, Herr Doktor,« stammelte sie, »die Gräfin ist verschwunden – auf ganz seltsame Art verschwunden – und all ihre Koffer und Sachen sind durchwühlt worden, und ihr ganzes Zimmer is in der größten Unordnung, und Vater läßt fragen, ob Sie nich sogleich hinüberkommen möchten?«


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