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Zwölftes Kapitel

Ich entließ den Kutscher und betrat den Hof des großen Gebäudekomplexes der Formosa Mansions. An der Türe von Nummer 1 läutete ich. Sofort erschien ein Diener.

Mein Name ist Doktor Perigord, sagte ich; ich komme auf Ersuchen der Gräfin Frangipani.

Aus des Mannes Verbeugung konnte ich ersehen, daß er mit diesem Sachverhalt bereits bekannt war. Er führte mich, ohne zu zögern, in ein luxuriös ausgestattetes Gemach, bot mir einen Sitz an und zog sich schweigend zurück.

Es war kaum eine Minute vergangen, als auf der anderen Seite des Zimmers plötzlich eine Tür aufging und eine liebliche, glänzende Erscheinung auf der Schwelle erschien.

Dicks Entzücken war mir jetzt völlig verständlich. Ich hatte niemals zuvor ein schöneres Weib gesehen. Sie war noch bei weitem keine dreißig Jahre alt, groß und stattlich gewachsen, blond, und trotzdem ich als Mann niemals versuchen möchte, eine weibliche Toilette zu beschreiben, so hatte ich doch den allgemeinen Eindruck, daß sie mit ausgesuchtem Geschmack gekleidet war. Insbesondere fielen mir die zahlreichen Juwelen auf, die sie trug.

Sie kam, während ich mich erhob, auf mich zu, indem sie mich mit einem einzigen und, wie mir schien, beifälligen Blick musterte.

Sie sind der Herr Doktor Perigord? sagte sie mit liebenswürdigem Lächeln.

Zu Ihren Diensten, Madame, erwiderte ich.

Nehmen Sie bitte Platz, Herr Doktor. Ich fürchte, ich habe Ihnen viel Unannehmlichkeit bereitet, indem ich Sie bitten ließ, sich hieher zu bemühen, aber ich habe heute in Ihrer Berufs- wie in Ihrer Privatwohnung vorgesprochen, und da ich in beiden Fällen kein Glück hatte, griff ich zum einzigen Mittel, Sie zu sprechen, wie ich es sehr lebhaft wünschte.

In meiner Eigenschaft als Arzt? fragte ich.

Daraufhin zog sie fast unmerklich die Augenbrauen in die Höhe und erwiderte nach einer kurzen Pause:

Fürs erste nicht. Aber ich möchte gern die Gelegenheit benützen, Sie zu konsultieren. Ich habe – und damit begann sie, aufs Geratewohl unbestimmte Symptome einer unmöglichen Krankheit herzuzählen.

Treu den Instinkten meines Berufes hörte ich ihren Bericht an. Am Schlusse versicherte ich, daß ihr Unwohlsein bedeutungslos sei, zog Feder und Notizblock aus der Tasche, schrieb ein Rezept nieder und übergab es ihr. Ich danke Ihnen bestens, sagte sie und legte es auf den Tisch neben sich. Und nun, Herr Doktor, fuhr sie fort, will ich mich gleich dem Hauptbeweggrund meines heutigen Besuches bei Ihnen zuwenden. Ich habe zufällig – wie, tut nichts zur Sache; es geschah durch einen reinen Zufall – erfahren, daß sich unter Ihren Patienten aus der letzten Zeit eine Dame befindet, für die ich mich sehr lebhaft interessiere und die ich gerne kennen lernen möchte. Sie nennt sich Frangipani. Ist das richtig?

Ich blickte sie einen Moment scharf an, bevor ich antwortete, aber sie hielt den Blick fest und furchtlos aus.

Warum zögern Sie? fragte sie. Ist diese Frage ungehörig?

Nun, Madame, antwortete ich, wenn ich ehrlich sein soll, muß ich zugeben, daß diese Frage in unserem Berufe etwas ungewöhnlich ist. Aerzte, genau wie Rechtsanwälte, sind durch einen ungeschriebenen Ehrenkodex verpflichtet, die Angelegenheiten ihrer Kundschaft nicht mit Fremden zu besprechen, und Sie sind, wie ich in aller Ergebenheit betonen möchte, mir völlig fremd.

Sie zuckte mit ihren prachtvollen Schultern, schien aber nicht im entferntesten in Verlegenheit zu geraten.

Das ist ja richtig, pflichtete sie mir mit zustimmendem Lächeln bei, und gewissermaßen verdiene ich den Tadel. Aber tatsächlich wünsche ich gar nicht über die Angelegenheiten Ihrer Patienten zu reden. Möglicherweise bin ich schlecht unterrichtet worden. Ich möchte nur, daß Sie mir diesen Zweifel durch ein einziges Wort lösen. Ich werde höchstens enttäuscht sein. Das wäre alles.

Fest überzeugt davon, daß sie alles wußte und einen tieferen Grund hatte, mich zu befragen, zögerte ich mit meiner Antwort.

Verzeihen Sie, Madame! sagte ich und setzte mein gewinnendstes Lächeln auf. Aber ich kann nicht umhin, es sehr seltsam zu finden, daß Sie in dieser Angelegenheit gerade mich zurate gezogen haben, von Queens Gate nach Lambeth ist es ein sehr weiter Weg. Meine Patienten sind zuallermeist recht einfache Leute.

Ich bin mir dessen wohl bewußt, sagte sie. Bis gestern war Lambeth für mich nur ein Name, der zugleich mit Armut und Elend verbunden war.

Das ändert nichts an der Sache, sagte ich. Sie können keinen Grund dafür haben, Ihre Ansicht heute zu ändern.

Gewiß nicht. Ich habe mich ungeschickt ausgedrückt. Ich wollte nicht diese Auffassung hervorrufen.

Das wäre auch unverständlich, Madame, erwiderte ich. Es ist mir gleichermaßen unverständlich, wie Sie dazu kamen, meinen Namen und meine Adresse kennen zu lernen.

Aber mir ist das sehr leicht verständlich, entgegnete sie, ohne sich in ihrer guten Stimmung stören zu lassen.

Denn, fuhr ich fort, Gräfinnen sind sehr seltene Gäste in unserem unaussprechlich armseligen Stadtviertel.

Davon bin ich nicht so fest überzeugt, sagte sie anzüglich. Außerdem bin ich nicht immer eine Gräfin gewesen. Man kann doch, wie ich annehme, in erster Linie einfach ein Weib sein. In meinem Vaterlande kommen wir nicht als Gräfinnen zur Welt, wir sind zunächst einmal Frauen, und Gräfinnen erst nachher, wenn wir töricht genug sind, die hart verdienten Millionen unserer Väter gegen ausländische Titel einzutauschen.

Als ich dies hörte, riß ich die Augen weit auf. So, wirklich? sagte ich. Ich habe mir das gedacht.

Ich verstehe Sie nicht, erwiderte sie und bohrte mir einen halberzürnten Blick gerade in die Augen.

Daß Sie eine Amerikanerin sind, beeilte ich mich hinzuzufügen.

Wiederum blitzte sie mich an.

Meine Aussprache, wie ich annehme?

Nein.

Was dann?

Ich kann's Ihnen wirklich nicht sagen – irgend ein unbestimmtes Etwas, das – hm –

Stimmt. Ich muß diesen leisen Tadel wohl annehmen. Gut also, um zu unserem alten Thema zurückzukehren: es ist mir sehr klar, daß Ihnen die Beweggründe verdächtig vorkommen, die mich veranlaßt haben, Sie zu bitten, heute abend noch hieherzukommen. Ich gebe zu, daß mein Vorgehen nicht gerade vertrauen einflößen konnte, vor allem ist es klar, daß es das nicht getan hat. Es soll mir eine Lehre, und zwar eine etwas beschämende Lehre sein. Sie sind ein seltsamer Mann, Herr Doktor!

Ich sah sie erstaunt an.

Ich? Keine Spur. Zuweilen etwas zu freimütig vielleicht. Ich gehe gern den Dingen auf den Grund.

Ich auch, lautete die rasche Antwort, ich weiß ganz genau, daß, trotz Ihrer zweifellos wohlgemeinten Ausflüchte, meine Informationen völlig richtig sind. Aus irgendeinem mir unverständlichen Grunde wollen Sie mir die Tatsache zu verbergen suchen, daß Sie in der letzten Zeit unter Ihren Patienten eine Verwandte von mir hatten, an deren Wohlergehen ich ein sehr tiefes und warmes Interesse habe.

Als sie zweifellos in meinem Gesichte unverhohlenes Erstaunen las, fuhr sie fort: Warum sehen Sie so verwundert aus? Seit langem schon suche ich den Aufenthaltsort der lieben alten Dame zu erforschen. Und jetzt, wo mir's endlich zu glücken scheint, springen Sie mit meinen Nachforschungen in eigentümlicher Weise um; ich würde Ihnen das sehr übel nehmen, wenn ich nicht erkannt hätte, daß Sie ein ehrlicher Mensch und nur irgendwie getäuscht worden sind, wenn Sie in dieser Angelegenheit irgend welche Hintergedanken haben, sollten Sie mich, wie ich denke, schon aus bloßer Höflichkeit einweihen. Sie sind doch klug genug, Herr Doktor Perigord, um einzusehen, daß meine Worte der Wahrheit entsprechen.

Ich war verblüfft. In meinem ganzen Leben war ich noch nicht derart aus dem Konzept gebracht worden. Das Weib da vor mir, das ich im Besitze schuldiger Kenntnis vom Aufenthaltsort der »Gräfin« gewähnt hatte, war unschuldig und unverkennbar darauf erpicht, gerade diesen Aufenthaltsort zu entdecken. Plötzlich fiel ein Strahl der Erleuchtung in meine Gedanken. Die ganze Geschichte war nun sonnenklar: der Graf, ihr Gemahl, welcher der armen Gräfin aus irgend einem familiären Grund auf den Fersen war, hatte diesen Umstand absichtlich vor seiner lieblichen jungen Gattin geheimgehalten, vielleicht durch einen Zufall hatte sie von der Geschichte erfahren und mit ihrem impulsiven amerikanischen Temperament hatte sie die alte Dame ans Licht zu ziehen und ihrer Sympathie und Hilfe teilhaftig werden zu lassen gesucht.

Dieser Umstand zwar erklärte alles; gleichzeitig erkannte ich, daß dadurch der Fall noch verwickelter wurde; aber ich war noch nicht ganz befriedigt. Ich hatte es mit einem sehr geschickten Weibe zu tun.

Nun, sagte sie, zaudern Sie immer noch, mir Glauben zu schenken?

Nein – aber –

Ich hörte, wie ihr kleiner Fuß ungeduldig auf dem Parkett trommelte.

Was »aber«?

Nur eins. Ich fürchte, wir haben bis jetzt geredet und geredet, ohne die Hauptsache zu berühren, gnädige Frau.

Jetzt setzen Sie mich in Erstaunen, wieso denn?

Ich werde es Ihnen sagen – wenn Sie mir noch eine Frage beantworten wollen.

Eine Million Fragen, wenn die Anstrengung nicht meiner Geduld ein Ende setzt. –

Seitdem habe ich mich schon hundertmal über meine kecke Hartnäckigkeit und ihre außerordentliche Nachsicht während dieser denkwürdigen Unterhaltung gewundert.

Gut also, platzte ich los, kennen Sie – auf Ihr Ehrenwort, gnädige Frau – in diesem Augenblick den Aufenthalt der alten Gräfin nicht genau?

Sie fuhr mit einem Male auf und schien sich gleich einer Flamme in die Höhe zu recken.

Mein Herr! Das geht doch ein wenig zu weit. Erinnern Sie sich daran, wo Sie sind und mit wem Sie sprechen! Nach dem, was Sie gesagt haben, frage ich Sie klipp und klar, was glauben Sie eigentlich, wenn Sie mir eine solche Frage stellen?

Ich habe die Antwort, die ich wünschte, sagte ich. Ich bitte Sie um Verzeihung, gnädige Frau. Ich habe nicht die entfernteste Ahnung, wo sich die Gräfin aufhalten mag, aber ich dachte in aller Aufrichtigkeit, daß Sie in der Lage wären, es mir zu sagen.

Aber wieso denn? wieso? fragte sie und nahm augenblicklich einen anderen Ton an. woher könnte mir diese Kenntnis gekommen sein?

Von Ihrem Herrn Gemahl, gnädige Frau.

Sie sah mich ungläubig und verblüfft zugleich an. Von meinem Gemahl? wiederholte sie.

Ja, das dachte ich.

Plötzlich brach sie in ein herzliches Lachen aus.

Allerdings sehe ich jetzt ein, sagte sie, daß wir wie die Katze um den Brei herumlaufen. Ich habe ja gar keinen Gemahl. Seit nahezu vier Jahren bin ich Witwe.

Diese Enthüllung verwirrte mich nicht wenig, und es dauerte eine ganze Minute, bis ich wieder zu mir selbst kam.

Aber, stammelte ich, es muß doch einen Grafen des Namens geben?

Jawohl – Vittorio, meinen Schwager.

Ist er es, der meinen Vater in Rom getötet hat?

Heiliger Gott! Ich habe von der Geschichte gehört. War es Ihr Vater?

Er war es.

Welch' ungewöhnliche Verwickelung!

Merkwürdig!

Nunmehr standen wir auf dem besten Fuße miteinander. Jetzt endlich war ich von ihrer Aufrichtigkeit gänzlich überzeugt, und nunmehr erzählte ich ihr ohne weiteres Zögern, allerdings mit gewissen Vorbehalten alles, was ich von dem auffälligen Verschwinden der alten Gräfin wußte.

Sie war augenscheinlich von der Geschichte tief erregt.

Ich habe so sehr gewünscht, sie zu sehen, sagte sie. Sie hat seit Jahren schon einen Streit mit der Familie. Ich habe Gründe, anzunehmen, daß sie aufs schrecklichste verfolgt worden ist, aber den Grund dafür habe ich nie in Erfahrung bringen können. Mein Gemahl starb wenige Monate nach unserer Hochzeit, aber außer ein paar unbestimmten Andeutungen, wonach sie Papiere oder sonstige Besitztümer von hohem Wert auf die Seite geschafft habe, erfuhr ich nichts. Meine weibliche Neugier und Zuneigung war erregt, ich gestehe es freimütig, und ich war äußerst gespannt, sie wieder zu treffen. Jetzt wissen Sie alles.

Nicht ganz, sagte ich lachend. Ich weiß bis jetzt noch nicht, wie Sie zu meinem Namen und meiner Adresse gekommen sind.

O, das war sehr einfach. Ich habe durch das müßige Geplapper meiner Zofe davon gehört; eine Schwester von ihr ist in Ihrer Nachbarschaft verheiratet – ich glaube Pontifex Square heißt der Ort.

In diesem Augenblick hörte ich draußen schwere Schritte durch die Halle gehen. Der Türknopf drehte sich, und ein sehr distinguiert aussehender Herr erschien ziemlich ungestüm auf der Schwelle. Er blieb augenscheinlich überrascht stehen und starrte mich an. Die Gräfin erhob sich sofort.

Erlauben Sie, Herr Doktor, sagte sie, daß ich Ihnen den Marquis de Brinvilliers vorstelle.


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