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Vierundzwanzigstes Kapitel

Todmüde, enttäuscht und ärgerlich langte ich an jenem Abend zu Hause an. Perkins hatte, wie ich hörte, zwei Stunden lang auf mich gewartet und war eben weggegangen. Ich bedauerte das nicht, da ich in meiner gegenwärtigen seelischen Verfassung niemand zu sehen wünschte. Ich zog meine nassen Schuhe aus und schlüpfte in meine Pantoffeln, die Dank der Fürsorge des Zimmermädchens Marie angenehm durchwärmt waren. Dann übergab ich ihr meinen Ueberzieher, der durch den Regen sein Gewicht verdoppelt hatte, und wies sie an, ihn in der Küche für den Fall, daß ich heute noch ausgehen müßte, zu trocknen.

Hierauf zündete ich meine Pfeife an, machte mir's in meinem Lehnstuhl bequem und schickte mich an, über das Problem nachzudenken, das sich jetzt vor mir aufgetan hatte. Plötzlich kam jemand ins Zimmer. Ich wandte mich um und sah, daß es wiederum Marie war: in den Händen hielt sie einen unheimlich aussehenden Meißel, eine Blendlaterne und ein Paar Damenstiefel.

Die Köchin hat mich beauftragt, Ihnen das da heraufzubringen, Herr Doktor, weil die Sachen Ihre Taschen zu sehr füllten und weiteten, und es ihr unmöglich sei, sie mit diesen Sachen darin in die richtige Form zu bringen.

Wütend über meine Gedankenlosigkeit sprang ich auf, nahm ihr die Aergernis erregenden Gegenstände ab, und daß ich sie auf den Boden schleuderte, so daß sie durch das ganze Zimmer flogen, brauche ich wohl nicht besonders zu betonen. Als ich Maries erstaunten Blick bemerkte, sagte ich:

Halten Sie sich nicht auf, Marie, ich bin heute nacht abgespannt und ärgerlich!

Das hab' ich mir gedacht, Herr Doktor, erwiderte sie. Es geht allen Menschen bisweilen so.

Jawohl. Nichts zu machen. Bleiben Sie noch ein paar Minuten auf, Marie! Es hat aufgehört, zu regnen. Sie sollten noch einen Brief für mich zum Briefkasten tragen. Ich werde läuten, sobald er geschrieben ist.

Dann setzte ich mich an meinen Schreibtisch. Aber schon bei der Anrede stockte ich. Nun ja, wenn sie »Lieber Doktor!« schrieb, durfte ich mir auch die Anrede »Liebe Gräfin!« erlauben. Und so schrieb ich denn:

 

Liebe Gräfin!

Ich habe heute nacht etwas Seltsames erlebt. Ich füge einen Brief bei, den ich heute abend von der alten Gräfin erhielt. Sofort habe ich mich mit einem alten Kommilitonen in Verbindung gesetzt, und so sind wir beide in einem Hause in Putney eingebrochen. Leider kamen wir zu spät. Dieser Erzschuft von einem Erbgrafen, der Sie so niederträchtig angelogen hat, daß Ihr Brief mich halb und halb von seiner Unschuld überzeugte, ist mir zuvorgekommen. Der Kamin war noch warm. Das Zimmer, das nicht mehr als eine Gefängniszelle für sie war, befand sich in der größten Unordnung. Er hat sie wieder fortgeschleppt, Gott weiß wohin dieses Mal. Es war schon eine aufregende Geschichte: mein Freund und ich sind um ein Haar der Polizei in die Hände gefallen. Mit knapper Not sind wir entkommen. Ich möchte Ihnen gerne unsere Erlebnisse persönlich erzählen. Wollen Sie so freundlich sein, mir zu drahten, ob es Ihnen angenehm ist, wenn ich Sie morgen um vier Uhr besuche? Bis dahin habe ich zu tun.

En toute bonne camaraderie

Ihr ergebener Diener

Julius Perigord.

 

Ich klebte den Umschlag zu, frankierte den Brief und sandte ihn sofort zum nächsten Briefkasten. Als meine Pfeife ausgeraucht war, ging ich zu Bett, und, seltsam genug unter den obwaltenden Umständen, schlief ich wie ein Stück Holz, bis um sieben Uhr, wo mir Marie gewohnheitsgemäß meinen Morgentee hereinbrachte. Kurz darauf hörte ich das doppelte Klingelzeichen des Briefträgers, und Marie erschien wieder mit einem Briefe. Er war von Perkins und lautete:

 

Geehrter Herr Kollege!

Ich habe mir heute nacht zwei Stunden lang die Füße in Ihrer behaglichen Wohnung gewärmt. Ein entzückendes Plätzchen! Wenn Sie nunmehr geneigt wären, einen weiteren Handel mit mir abzuschließen, würde ich das Haus, wie es steht, mit der ganzen Einrichtung nebst dem Dienstpersonal übernehmen. Ueberlegen Sie sich die Sache! Ich werde morgen punkt elf im Sprechzimmer sein. Es tut mir leid, daß ich fort mußte, da ich Ihnen gerne erzählt hätte, wie ich mich heute als Ihr Vertreter zurecht gefunden habe. Es ist nämlich alles nach Wunsch verlaufen. Ihr Assistent ist ein angenehmer Mensch, und die Patienten mögen ja arm sein, schlecht gekleidet und alles mögliche, aber sie haben mir trotzdem gefallen und mich mit großer Hochachtung behandelt. Ich bin nun zufriedengestellt und mit Eifer an der Arbeit.

Hochachtungsvoll

Ihr

Dr. James Perkins.

 

Ich mußte von Herzen lachen. Armer Perkins, dachte ich bei mir selber, du stehst erst am Anfang, mein Lieber! Jetzt platzt er noch vor Stolz, »mit großer Hochachtung behandelt« worden zu sein. Na, er ist ja bei Jenkins (so hieß mein Gehilfe) gut aufgehoben. Und wenn er für einen armen Teufel ein Todesurteil in Form eines Rezeptes unterschreiben sollte, wird Jenkins lächeln, die Dosis um das Nötige verringern und im übrigen den Schnabel halten.

So kam es, daß Perkins Schlag elf Uhr in meiner Berufswohnung vorsprach. Ich stellte ihn allen Patienten als meinen Nachfolger vor. Zufällig war an diesem Vormittag ungewöhnlich viel zu tun. Perkins sprach sich hochbefriedigt aus, als alles erledigt war.

Und wenn Sie jetzt, sagte er, mit mir zur Adamstraße hinüberkommen wollen, können wir die ganze Angelegenheit ins reine bringen. Ich übernehme die Praxis mit allem Drum und Dran und stelle Ihnen einen Scheck aus, der heute schon fällig ist. Wie stimmt das mit Ihren Wünschen überein, die Geschichte ins reine zu bringen?

Vollständig, Perkins, erwiderte ich und hielt eine vorüberfahrende Droschke an.

Als ich etwa eine Stunde später mit einem Scheck über eine ansehnliche Summe in der Tasche nach Hause zurückkehrte, fand ich dort ein Telegramm vor. Es enthielt nur drei Worte:

Kommen Sie. Frangipani.

Daher stand ich punkt vier Uhr der Gräfin gegenüber. Sie empfing mich mit einer Wärme, die meinem Selbstbewußtsein nicht wenig schmeichelte: mit ausgestreckten Händen eilte sie mir entgegen.

Es war sehr liebenswürdig von Ihnen, begann sie, mich so prompt zu benachrichtigen. Ich vergehe vor Neugierde. Nehmen Sie jetzt Platz und erzählen Sie mir!

Und als ich mich setzte, fuhr sie ganz atemlos fort: Also hat mich der Erbgraf doch belogen, dieser Schurke! Und ich habe ihm mein Vertrauen geschenkt! Das schmerzt und kränkt mich, Sie wissen gar nicht wie! Ich bin eine Schande für Boston, von Rechts wegen kann ich mich dort nicht mehr sehen lassen. Aber diese gute, gequälte, bedauernswerte arme Seele, die Gräfin! Welch unerhörte Gewalttat! Welche Schande! Wir zwei müssen sie aus den Krallen dieses fürchterlichen Menschen befreien!

Das ist auch meine feste Absicht, sagte ich, und wenn ich sie barfuß suchen müßte!

Ein solch unmenschliches Opfer wird nicht nötig sein, meinte sie lachend. Davor sind Sie behütet; aber jetzt plaudere ich und plaudere weiter, wo ich doch seit Stunden darauf brenne, das Abenteuer aus Ihrem Munde zu hören. Erzählen Sie es mir ausführlich!

Ich lächelte meinerseits und nahm die Geschichte auf. Ich begann mit meinem Besuch in Balham in Dicks Begleitung und verweilte ein oder zwei Minuten bei den guten Eigenschaften dieses ehrenwerten jungen Mannes.

Ich würde Ihren Freund sehr gerne kennen lernen, bemerkte sie, dann aber schlug sie sich auf den Mund und warf mir einen Blick zu, womit sie mich sehr hübsch für ihre Unterbrechung um Verzeihung bat. Ich lächelte ihr wieder Generalabsolution zu, und die Geschichte wickelte sich ungestört ab, bis die fünfzig Pfund erwähnt wurden, die ich Simpkins versprochen hatte; hier platzte sie mit den Worten los:

Das werde ich natürlich –

Sofort brachte ich sie durch meinen warnenden Zeigefinger wieder zum Schweigen und fuhr in meinem Berichte fort. Ich ersparte ihr nicht eine Einzelheit von unseren Abenteuern in Putney. Sie lachte recht herzlich, als ich ihr unsere Turnerkunststückchen in der Holly Tree Lane erzählte, und wie Dick auf meinen Schultern stehend das feindliche Gebiet ausgekundschaftet hatte, und hörte mit der regsten Teilnahme dem letzten Kapitel meiner Erzählung zu, so weit es sich auf die bedauernswerte Lage der armen alten Gräfin bezog, wenn ich auch als ehrlicher Mensch gestehen muß, daß sie laut auflachte, als ich zu der traurigen Episode kam, wie zwei baumstarke und kerngesunde Männer sich in einem Wandschrank versteckten, und durch die Fußtritte der Polizisten, die doch sicherlich nicht von übermächtigen Eltern abstammten, in den höchsten Schrecken versetzt wurden.

Meine liebe Gräfin, erklärte ich, es handelte sich wirklich nicht um einen Ulk. Die Männer, als Männer betrachtet, erschreckten uns kein bißchen. Dick und ich hätten das ganze Aufgebot die Treppe rascher hinabbefördern können, als ein Pfarrer »Amen« sagt. Lachen Sie nicht! Oder doch, bitte, lachen Sie noch einmal!

Diese letztere Bemerkung war mir unwillkürlich entschlüpft. Entzückt betrachtete ich der Gräfin glänzendweiße Zahnreihen, die bei ihrem Lachen sichtbar waren.

Einen Augenblick schaute sie mir fest ins Gesicht. Dann legte sie mir die Hand leicht auf den Arm.

Bitte, fahren Sie fort, sagte sie, nachdem Sie mir vergeben haben, das heißt, wenn Sie es können.

Wiederum lachten mich die milchweißen Zähne zwischen ihren halbgeöffneten roten Lippen köstlich an.

Warum soll ich länger dabei verweilen? Es war einer jener blitzartigen Augenblicke im Leben, wie ihn jeder einmal erlebt, wo ein Mann den Kopf verliert und entweder seine Arme der Gelegenheit gegenüber ausbreitet und, wenn er sie schließt, das Glück an seinem Herz hält, oder – ein keineswegs seltener Fall – entdeckt, daß er sich unsterblich blamiert hat und alle Mächte anruft, ihn und seine Dummheit vor den Blicken einer unsympathischen Welt zu verbergen.

Ich war mir indes nicht bewußt, schon bei einer solchen Gelegenheit angelangt zu sein, als das Blut in meinem Inneren einen Anlauf nahm und mir durch die Adern galoppierte; sie bemerkte es, denn es entging mir nicht, wie ihr Busen sich stürmisch hob und senkte. Die Gelegenheit wäre also wohl dagewesen. Aber mit einer übermächtigen Anstrengung raffte ich mich zusammen und blickte auf meine Uhr.

Was! So spät schon! rief ich aus. Ich muß jetzt wirklich fort. Gut also, wie Sie sagen, wir müssen die alte Dame den Krallen Ihres verehrlichen Schwagers entreißen. Ein hübscher Erbgraf das!

Reden Sie mir nicht mehr von Grafen und Gräfinnen! rief sie ihrerseits aus. Mir ist all das herzlich zuwider. Früher hieß ich May Roberts. Ich wollte, mich würde jetzt noch jemand so nennen.

Ich zögerte einen Moment, dann schaute ich ihr voll ins Auge. Was ich dort erblickte, ermutigte mich, und ich streckte die Hand aus.

Wohlan denn, Gute Nacht, May Roberts! sagte ich kühn.

Sie brach daraufhin in ein fröhliches Gelächter aus, und ihre kleine, weiße Hand stahl sich in meine große Tatze.

Guten Abend, Doktor, sagte sie. Es ist mir, als atme ich wieder die gesunde Luft Neuenglands. Es ist so hübsch, einen Freund zu besitzen, der es gut mit einem meint.

Bin ich das? fragte ich gespannt.

Natürlich sind Sie es. Nochmals Gute Nacht!

*

Als ich an jenem Abend zu Hause anlangte, war ich nicht genügend gesammelt, um gleich etwas lesen, sehen oder beurteilen zu können. Allmählich aber wurde mir der Sinn und die Bedeutung eines Zettels klar, der in meinen Briefkasten geworfen worden war. Er trug weder Auf- noch Unterschrift, und war in italienischer Sprache abgefaßt. Ich entzifferte darauf die einfache Mitteilung:

»Die alte Dame wird nach Rom gebracht. Palazzo Frangipani.«


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