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Sechzehntes Kapitel

Ich hoffe aus ganzer Seele, daß es heute nacht nicht wieder Alarm und Ausflüge absetzt, sagte ich mir, als ich die Haustür aufschloß und meinen Ueberzieher an dem Kleiderständer des Vorplatzes aufhängte. – Es ist die letzten paar Tage doch ein wenig stürmisch hergegangen. Ich bin nicht einmal dazugekommen, die Zeitungen zu lesen. Ich frage mich, was seither in der Welt passiert ist. Auf alle Fälle will ich es mir heute nacht gemütlich machen und nicht mehr an die verfluchte Geschichte denken.

Aber diese Erholung von der ausgestandenen Aufregung sollte mir nicht zuteil werden; denn als ich meine Bude betrat und das Gas aufdrehte, sah ich einen braunen Umschlag auf dem Tische liegen.

Ein Telegramm, beim Henker, rief ich aus. Was für eine neue Störung erwartet mich da?

Ich brach den Umschlag auf und las die Worte:

»Ihre Mutter schwerkrank. Sehr zweifelhaft, ob Wiederherstellung möglich.
Wünscht, Sie zu sehen. Kommen Sie sofort. Selina Morgan.«

Das Telegramm kam von meiner Tante und war um acht Uhr in Tunbridge Wells aufgegeben. Es war nunmehr beinahe Mitternacht. Wäre ich nach meiner Sprechstunde sogleich nach Hause zurückgekehrt, statt in den Klub zu gehen und Davenport zu treffen, so hätte ich jetzt bei meiner Mutter sein können!

Erschüttert schlug ich im Fahrplan nach und fand, daß der erste Morgenzug die Charing-Croß-Station um 7 Uhr 20 verließ.

Das bereitete mir vielen Kummer, aber ich konnte nichts tun, als Dick Molyneux sofort zu benachrichtigen.

Ich setzte mich daher an meinen Schreibtisch und schrieb ihm Folgendes:

 

Lieber Dick!

Beiliegend ein Telegramm, das ich eben bei meiner Rückkehr vorfand. Ich kann heute abend keinen Zug mehr erwischen, fahre daher morgen früh um 7 Uhr 20. Es tut mir riesig leid, Deine Hilfe so rasch wieder in Anspruch nehmen zu müssen; ich wäre Dir jedoch sehr verpflichtet, wenn Du mich morgen – nur für zwei Stunden – vertreten wolltest. Seit ich Dir schrieb, sind verschiedene weitere Ereignisse in der anderen Sache vorgefallen, auf die ich indes heute abend nicht näher eingehen kann. Wie Du Dir leicht vorstellen kannst, bin ich durch die Nachricht sehr niedergeschlagen, da ich das Schlimmste befürchte.

Mit Gruß

Dein J. Perigord.

 

Sodann trug ich den Brief sogleich in den Kasten und blieb hierauf noch ein Stündchen sitzen, meine Pfeife rauchend und mit trüben Gedanken beschäftigt.

Am folgenden Morgen war ich beizeiten auf und fuhr um 7 Uhr 20 von der Charing-Croß-Station ab. Als ich mich der kleinen Villa in Tunbridge Wells näherte, bemerkte ich zu meinem großen Kummer, daß alle Vorhänge herabgelassen waren: ich ersah daraus, daß das Schlimmste bereits eingetreten war.

Meine Tante Selina empfing mich im Wohnzimmer, wo ich meine Mutter das letzte Mal gesprochen hatte. Es war eine Frau mit harten Gesichtszügen, die, wie ich bereits erwähnte, in ihrem Benehmen mir gegenüber nie sehr freundlich gewesen war. Und nunmehr fragte sie mich nicht nur ernst, sondern mit eisiger Strenge:

Warum bist du nicht schon gestern abend gekommen, wie ich dich in meinem Telegramm anwies?

Weil das für mich unmöglich war, erwiderte ich. Meine Pflicht hielt mich bis nahe um Mitternacht von zu Hause fern. Bei meiner Rückkehr fand ich dein Telegramm vor. Es war aber schon zu spät. Das einzige, was mir zu tun übrig blieb, war, heute morgen den ersten Zug zu benützen. Wann ist meine Mutter gestorben?

Trotzdem ich von ihrem Hinscheiden überzeugt war und mich gestern nacht mit diesem Gedanken vertraut gemacht hatte, wollte mir die Frage fast nicht über die Lippen.

Um zwei Uhr. Daß du es versäumt hast, an ihrem Sterbebett anwesend zu sein, hat ihr ihre letzten Augenblicke verbittert. Es war auch rücksichtslos von dir, nicht zu kommen.

Das Blut stieg mir zu Kopfe.

Habe ich dir nicht eben erklärt, rief ich, daß es für mich völlig unmöglich war, früher zu kommen? Ich habe doch meine Patienten.

Und Gräfinnen, fiel sie ein.

Nunmehr wurde ich zornig.

Was heißt das? fuhr ich sie an.

Das heißt einfach, daß sie stundenlang von nichts als Gräfinnen gesprochen hat, daß die Gräfinnen dich verderben würden, und daß sie dich sehen müsse, bevor sie sterbe, um dir etwas sehr wichtiges mitzuteilen. Von dem Augenblick an, wo ich dir das Telegramm geschickt habe, bis zu ihrem Ende hat sie fortwährend nur gefragt, ob du noch nicht da seiest. Alle Viertelstunde hat sie gefragt: »Ist Julius gekommen?« Und dann kam das Ende. Es kam wie ein Blitz: sie schnappte nach Luft, und es war vorüber.

Aber, sagte ich, wieder etwas beruhigt, hat sie nichts für mich hinterlassen?

Nein. Ich habe sie immer wieder gefragt, aber sie schüttelte den Kopf und sagte: »Julius wird sicher kommen, was ich zu sagen habe, ist nur für sein Ohr bestimmt.« Ich tat, was ich konnte. Zu tadeln bist du allein. Und wenn es sich auch nur um dein eigenes Interesse gehandelt haben würde, hättest du dich bemühen sollen, gestern nacht noch zu kommen. Ich sage es immer wieder: es war grausam von dir, nicht zu kommen.

Aber, liebe Tante, erwiderte ich, meinen Groll bezwingend, auf die freundlichste Art, die mir zur Verfügung stand, höre doch auf Vernunftgründe! Es fuhr kein Zug mehr; ein Kutscher würde mich die große Entfernung niemals gefahren haben, und zu Fuß zu gehen, wäre ja absurd gewesen.

Natürlich, entgegnete sie scharf, wer verlangt auch einen solchen Unsinn von dir? Was ich behaupte, ist, daß du hättest zu Hause sein und deinem Berufe nachgehen sollen, statt mit Gräfinnen dich umherzutreiben.

Donnerwetter! rief ich jetzt. Das geht denn doch zu weit!

So? erwiderte sie. Deine Mutter selbst hat es ja gesagt. Ist es vielleicht nicht wahr, daß du dich mit Gräfinnen eingelassen hast. Leugne es, wenn's dir möglich ist!

Als ich zögerte, – denn wie in aller Welt konnte ich in einem einzigen Augenblick eine Antwort auf eine solche unverblümte Frage finden? – fuhr sie fort:

Natürlich kannst du es nicht und du weißt, daß ich recht habe, trotzdem Gott allein weiß, wie es ein armer Teufel wie du anstellt, um mit Gräfinnen verkehren zu können. Uebrigens, da wir gerade davon reden, jetzt bist du nicht mehr so arm.

Erstaunt blickte ich sie an.

Ich verstehe dich nicht recht, sagte ich.

Das ist leicht erklärt, erwiderte sie achselzuckend. Deine Mutter hat gestern ein Testament gemacht. Sie war so freundlich, mir tausend Pfund zu vermachen. Das war sehr gütig von ihr, trotzdem ich – Gott sei dank! – selber genügend besitze, um davon leben zu können. Das meiste – etwa 18+000 Pfund – bekommst du. Ich muß dich wohl dazu beglückwünschen, trotzdem ich fürchte, daß es nicht lange vorhalten wird, da du dich, wie es scheint, in so großartiger Gesellschaft bewegst.

Ich war erstaunt. Ich wußte zwar, daß meine Mutter einige Mittel besaß, aber ich hätte mir niemals träumen lassen, daß es sich um eine derartige Summe handelte. Ich muß gestehen, daß mein erster Gedanke einer glänzenden Praxis im Westend galt, die ich nun würde kaufen können. Gleichzeitig fiel auch ein Licht auf das merkwürdig herbe Benehmen meiner Tante Selina. Die gute Seele hatte zweifellos von meiner Mutter erwartet, daß sie sie in ihrem Testament weit reichlicher bedenken würde, und war daher, mit der ganzen Inkonsequenz ihrer weiblichen Seele, gegen mich aufgebracht.

Ich ließ mir indes nichts von Befriedigung anmerken, sondern sagte einfach, was der Wahrheit völlig entsprach, nämlich:

Ich bin überrascht. Ich habe niemals daran gedacht. Aber nun, wo meine Mutter noch tot im Hause liegt, ist es mir peinlich, darüber zu reden. Ich möchte sie gerne sehen. Willst du so freundlich sein, mich zu ihr zu führen?

Ich benahm mich nunmehr sehr ernst, und mein Blick schien sie einigermaßen einzuschüchtern; ohne ein Wort zu verlieren, erhob sie sich und führte mich hinauf in das schweigende Sterbezimmer.

Es ist unnötig, bei dem Anblick zu verweilen, der sich mir hier bot, oder bei meiner Beschäftigung während der nächsten paar Stunden. All dies erfordert keine Erklärung. Schließlich wurde meine Tante sanfter gegen mich gestimmt, als alle Anordnungen für das Begräbnis getroffen waren, das auf den kommenden Montag festgesetzt wurde.

Nun, leb' wohl, Julius, sagte sie. Ich fürchte, ich bin ein streitsüchtiges, altes Weib.

Keine Spur, Tante, erwiderte ich. Deine Nerven sind ein wenig zu stark angegriffen worden. Das ist alles. Die Krankheit meiner Mutter hat dir viel Kummer bereitet.

Gewiß, Julius, sagte sie. Und ich bitte dich, vergiß nicht ihre letzten Andeutungen! Ich kann mir wirklich nicht denken, was sie bedeuten. Ich kann nicht verstehen, was sie mit den Gräfinnen meinte; und du mußt mir auch verzeihen, was ich darüber gesagt habe. Du wirst es ja wissen.

Gewiß weiß ich es, erwiderte ich, und sei überzeugt, daß ich den Rat meiner Mutter nicht mißachten werde. Adieu also, auf Wiedersehen am Montag.

Zehn Minuten später fuhr ich wieder London zu, eine Beute mannigfacher, sich widerstreitender Gemütsbewegungen. Mein ganzes Leben hatte mit einem Schlage einen neuen, einladenderen Anblick für mich angenommen; und die ganze Reise über malte ich mir angenehme und heitere Zukunftspläne aus. Eins war gewiß: meine gegenwärtige Praxis würde ich aufgeben. Sie warf nunmehr einen hübschen Ertrag ab, und würde einen anständigen Preis auf dem Markt erzielen; aber ich fühlte, daß sie nicht mehr viel weiter entwickelt werden könnte, und außerdem war mein Ehrgeiz auf Höheres gerichtet. Ich war mir bewußt, meine Pflicht gegenüber meiner einfachen Kundschaft in jeder Weise erfüllt zu haben, und wußte, daß sie mir ein gutes Andenken bewahren würde, aber die Umgebung war mir zu trostlos, um nicht zu sagen abstoßend. Die Sonne schien nie wirklich bis auf diese stockenden, stinkenden Nebenflüsse des breiten Lebensstroms herabzuleuchten. Die verpestete Atmosphäre erstickte mich. Die unausgesetzte Eintönigkeit meiner Beschäftigung stumpfte meinen Geist ab. Allerdings gab es gelegentlich einmal ein gefälliges Zwischenspiel, und bisweilen wurde die düstere Gegend durch einen Funken Humors erhellt, der, wenn er auch ein grimmiges Lachen erzeugte, doch wenigstens befreiend wirkte. Aber jahraus jahrein war es zum allergrößten Teil eine trübe, gemeine und vor allem unsagbar traurige und armselige Existenz in diesem Stadtviertel.

Ich hatte mich nach einer reineren und freieren Atmosphäre gesehnt, in der ich meine Tätigkeit entfalten und Höheres erreichen könnte, und nunmehr tat sich dieses neue Leben unerwartet vor mir auf. Meine Arbeitskraft war, wenn nur mein Ehrgeiz ein weites Feld zu seiner Betätigung vorfand, wenigstens noch ungebrochen; meine Fähigkeiten konnten sich nunmehr ungehindert entwickeln. Ich konnte mich jetzt über mein Schicksal nicht mehr beklagen.

Bei meiner Ankunft in Charing-Croß begab ich mich sofort auf mein Sprechzimmer. Nie zuvor war es mir so elend vorgekommen, so völlig übereinstimmend mit seiner Umgebung, als ein Teil der alles durchdringenden Fäulnis der Umgebung. Und ich wunderte mich immer wieder, wie es mir möglich gewesen, drei Jahre hindurch ein derartiges Leben zu führen.

Dick war bereits weggegangen. Er hatte mir ein paar Worte hinterlassen. Sie lauteten:

 

Lieber alter Perigord!

Bin sehr betrübt über die traurigen Nachrichten von Deiner Mutter. Ich hoffe, daß sie übertrieben sind und daß sich alles wieder zum Besseren wenden wird. Ich rechne darauf, bei Deiner Rückkehr von Dir zu hören oder Dich zu sehen. Kingston ist von der »Waterloo-Station« aus leicht zu erreichen. Ich glaube, Dir dies schon öfters gesagt zu haben. Nichts Besonderes zu vermelden, als daß ich heute sehr beschäftigt war. In der Kasse wirst Du eine hübsche Sammlung von kleinem Silbergeld vorfinden.

Gruß

Dick.

 

Alsbald begab ich mich zum nächsten Postamt und setzte Dick telegraphisch vom Tod meiner Mutter in Kenntnis.

Bis zehn Uhr an diesem Abend ereignete sich nichts Besonderes. Ich saß in meiner Bude, die Pfeife im Mund, und dachte über die Vorkommnisse dieses Tages und meine seltsam veränderten Vermögensumstände nach, als ich einen Zweispänner vor meiner Gartentür halten hörte. Es folgte ein Glockenzeichen, dem ich in eigener Person Folge leistete.

Ein in einfacher Livree zog den Hut.

Herr Doktor Perigord? fragte er.

Jawohl.

Die Gräfin Frangipani in Formosa Mansions, Queens Gate, wünscht Sie sofort zu sprechen, Herr Doktor!


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