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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Als wir den »Weißen Löwen« verließen, schlug uns ein plötzlich losbrechender, eiskalter Platzregen ins Gesicht.

Donnerwetter! rief ich aus. Doch vielleicht ist es nur besser so; die Polizisten werden sich alle ins Trockene flüchten. – Ich schlug meinen Mantelkragen hinauf und fügte hinzu: Macht es dir was aus, Dick?

Mir nicht. Ich habe gesehen, daß das Barometer plötzlich gefallen ist, und so habe ich meinen Wasserdichten angezogen. Aber die alte Dame?

Heiliger Gott! Das hatte ich ganz vergessen. Nun, ich denke, die Pelze und Decken sind immer noch da; wir können sie in diese Sachen einhüllen, und außerdem wird sie so glücklich sein, loszukommen, daß ihr ein bißchen Regen nichts ausmacht.

Ich bewundere deinen Optimismus. Wohin schlägst du vor, sie zu führen?

Zu mir nach Hause natürlich. Wohin denn sonst? Ich habe bereits drei Billette erster Klasse für die Rückfahrt in der Tasche. Diese und ein Trinkgeld für den Schaffner werden schon genügen, uns ein reserviertes Abteil zu sichern.

Wär's nicht besser, uns für einen oder zwei Sovereigns eine Droschke zur Erledigung des Falles zu sichern? Und wie machen wir's mit der Bahn?

Wieso denn?

Der Bahnsteig ist für jedermann zugänglich, erwiderte Dick. Wir müssen jedenfalls auf einen Zug warten, und sie könnte die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Erinnerst du dich, unter welchen Umständen sie entführt wurde? Erstens wird sie keinen Hut haben. –

Das tut nichts. Sie kann sich ja in ihre Pelze einhüllen. Der Regen bietet eine gute Erklärung dafür.

Sie wird barfuß sein.

Nein, das wird sie nicht – ich habe dafür gesorgt. Ich habe ein Paar Schuhe in der Tasche und ebenso ein Fläschchen feinen, alten Kognak, um ihre Lebensgeister aufzufrischen.

Famos, bemerkte Dick. Du hast den Vogel abgeschossen. Ich bin zum Schweigen gebracht. Du hast an alles gedacht! Vorwärts!

Wir hatten im Hoteleingang, vor dem Regen geschützt, gesprochen. Im nächsten Augenblick ergoß sich der Regen auf uns herab, und die folgenden zwanzig Minuten, die wir bis zu unserem Ziele brauchten, fiel kaum ein Wort zwischen uns beiden. Der Regen war nunmehr mit Graupeln vermischt und bombardierte uns den ganzen Weg über mit unausgesetzter Heftigkeit das Gesicht. In der Holly Tree Lane herrschte stockfinstere Nacht; nicht eine einzige Laterne brannte. Es war wie in einem Tunnel. Dick blieb stehen und sagte in deprimiertem Tone:

Wir können unser Vorhaben nicht ausführen. Wollen wir es nicht lieber morgen nacht versuchen?

Als Antwort lachte ich, zog meine Blendlaterne aus der Tasche und zündete sie im Schutze meines Ueberrocks an. Dann lachte ich wieder, als ein Lichtkegel durch Graupeln und Regen blitzte und wie ein lebendes Wesen durch die von hohen Mauern eingehegte enge Straße schoß.

Wir können es nicht ausführen, wie? sagte ich. Warum? Ich sehe jetzt die Mauer. – Damit richtete ich das Licht auf den Ort, wo Dick am Nachmittag seine Turnkünste versucht hatte. Kommst du oder nicht?

Ich bin von neuem zum Schweigen gebracht, meinte Dick. Du läßt dich nicht so leicht einschüchtern. Aber, wenn wir zwei nicht heute nacht noch als Einbrecher eingesteckt werden, will ich meinen Hut zum Nachtessen verzehren. Ich würde mich nicht im geringsten verwundern, wenn du auch noch ein Brecheisen in der Tasche hättest.

Hab ich auch, natürlich, oder wenigstens etwas sehr Aehnliches – einen guten gesunden Meißel. Wie wollten wir denn sonst Tore und Türen und derlei ohne Schlüssel öffnen?

Das setzt wenigstens ein Jährchen Zuchthaus ab, mein Junge! sagte er. Schadet aber nichts. Ich bin mit dir – aber sei so freundlich und blitze mit dem verfluchten Ding nicht so herum, sonst verrätst du uns!

Ich schloß den Schieber an der Laterne, und ohne weiter ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen, trotz Regen und Finsternis, fand ich das gesuchte Gartentor. Es mit meinem Meißel aufzubrechen, war das Werk eines Augenblicks. Beim ersten Druck gab das verfaulte Holz nach, und als ich das Tor vollends aufstieß, entdeckte ich, daß das verrostete alte Schloß an der Innenseite nur noch an einer einzigen Schraube hing.

Ich mußte jetzt wieder meine Laterne gebrauchen, um den zum Hause führenden Pfad zu entdecken. Als ich ihn fand, erkannte ich, daß es mehr eine Andeutung war, wo dieser Pfad einstmals hingeführt hatte, als ein wirklicher Pfad. Und erst nach mühsamem Herumstolpern erreichten wir eine niedere Terrasse, welche der Front des alten Gebäudes entlang ging. Ueber halbzerfallene Stufen stiegen wir hinan und entdeckten den Haupteingang; auf beiden Seiten davon gingen Fenstertüren geradenwegs auf die Terrasse.

Am einfachsten brechen wir eine dieser Fenstertüren auf, flüsterte ich. Eine Minute später waren wir bereits im Inneren des Hauses.

Ich öffnete den Schieber an meiner Laterne und entdeckte, daß wir uns in einem stattlichen Gemach befanden, das aber keinerlei Möbel enthielt. Zur Rechten stand eine Tür offen, die in die Eingangshalle führte.

So weit ist's gelungen, flüsterte ich Dick zu. Aber jetzt heißt es Augen und Ohren offen halten, und auf Ueberraschungen gefaßt sein. Wir müssen zwei Treppen hinauf. Wenn wir angegriffen werden, wird es wohl das beste sein, den Angreifer über das Geländer zu werfen. Was meinst du dazu?

Das klingt sehr einfach, erwiderte Dick; aber ich könnte ihn möglicherweise auch wider Willen hinunterbegleiten, was die Kehrseite der Medaille wäre. Ich bin indes Sportsmann genug, um auch B zu sagen, nunmehr, wo mir das A schon über die Lippen ist.

Wir schlichen in die Halle. Auf der entgegengesetzten Seite öffnete sich ein Zimmer, das in jeder Hinsicht dem eben von uns verlassenen gleich war. Eine breite, eichene Treppe führte über bequeme Stufen zu den oberen Stockwerken.

Ueberall herrschte lautloses Schweigen. Ein Moderduft machte sich unangenehm bemerkbar. Die Trostlosigkeit der ganzen Stimmung, gesteigert durch das Geheul des Sturms, der draußen tobte, und das Geprassel der Graupeln und Regentropfen gegen die Fensterläden, war überwältigend. War es menschenmöglich, daß die alte Gräfin an einem so unaussprechlich elenden Orte gefangen gehalten wurde? War ich schließlich doch genasführt worden? Hatte ich zehn Pfund für die Ehre bezahlt, das Opfer eines bösartigen Scherzes des Grafen geworden zu sein? Oder war es gar eine Falle? Welcher verruchte Halsabschneider würde am Ende meiner Entdeckungsreise auf mich lauern? Ich gestehe offen, daß mich für einen kurzen Augenblick ein unangenehmes, beunruhigendes Gefühl überschlich, als ich wie ein Blinder mich die Stiegen hinauftastete, ungewiß, was mich oben erwartete.

Dick indes war mir dicht auf den Fersen, und ich wußte, daß er im Notfalle wie ein wahrer Teufel kämpfen konnte. Im ersten Stock angelangt, wagte ich es, den Schieber meiner Laterne wieder zu öffnen. Aber das Licht enthüllte mir nichts als einen kahlen Treppenabsatz, und eine weitere Treppenflucht. Daraufhin tastete ich mich wieder weiter, und schließlich war ich mir bewußt, daß in dem Zimmer zu meiner Linken meine quälenden Fragen eine Antwort finden würden, ob sie nun gut oder schlecht ausfiel. Ich ließ das Licht meiner Laterne voll auf die Tür fallen und pochte. Zwei oder drei Sekunden wartete ich auf Antwort, und als eine solche nicht erfolgte, drückte ich auf die Klinke und riß die Tür auf. Kein Laut ließ sich im Innern vernehmen, außer dem heftigen Aufklatschen des Regens an den Fensterläden. Dann trat ich kühn ein, dicht gefolgt von Dick.

Was ich erblickte, erfüllte mich sofort mit schlimmen Vorahnungen. Die Fenster waren dicht verhängt, offenbar, um zu vermeiden, daß man von außen Licht sehen könnte. Das Zimmer war elend ausgestattet. Mit einem einzigen, ärgerlichen und enttäuschten Blick erfaßte ich die ganze Sachlage. Von den zwei Betten, die ich erblickte, war eines von der Gräfin benützt worden, das andere von der Wächterin, dem Weib, das mir an dem gleichen Nachmittag ihre Treue für zehn Pfund verkauft hatte.

Der Graf hatte den Verrat offenbar gerade noch rechtzeitig in der letzten Minute entdeckt. Vielleicht hatte er uns am Nachmittage auch beobachtet. Jedenfalls stand eines fest: wir waren zu spät gekommen. Die alte Dame war von neuem weggeschleppt worden und befand sich wahrscheinlich sicherer als je in der Gewalt ihres Verfolgers.

Wütend knirschte ich mit den Zähnen und fluchte wie ein Fuhrknecht.

Zu spät, Dick, rief ich aus, wir sind zu spät gekommen. Dieser Schuft hat sie von neuem weggeschleppt. Sieh nur diese Unordnung in dem ganzen Zimmer! Herrgott, die Leuchter da auf dem Tisch sind noch warm, sie haben die Kerzen herunterbrennen lassen. Der Ofen ist noch nicht erkaltet. Das ist doch zu ärgerlich, zu ärgerlich. Eine Stunde früher vielleicht –

Aber dann hätte es einen Kampf gesetzt! fiel Dick grimmig ein. Das ist ein schöner Reinfall. Halt! was ist das?

Auch ich hatte den schrillen Pfiff der Pfeife eines Polizisten vernommen. Dick eilte ans Fenster, riß den Vorhang zur Seite und blickte durch den Fensterladen hinunter.

Donnerwetter, rief er, wir sind ertappt! Dort blitzt eine zweite Blendlaterne durch den Garten, und am Anfang des Strahls steht ein Polizist. Durch das Tor kommen eben noch zwei weitere. Sie werden drunten die verfluchte Fenstertür offen finden und in weniger als drei Minuten hier oben sein. Was ums Himmelswillen sollen wir tun? Was in Dreiteufelsnamen sollen wir ihnen sagen?

Die Lage war kritisch. Aber ich war durch meinen Beruf an kritische Lagen gewöhnt. Sofort kam mir ein rettender Gedanke.

Verlier den Kopf nicht, Dick! flüsterte ich. Auf dem Kaminbrett steht ein Kerzenstumpf. Zünd' ihn rasch an, wenn du Zündhölzer hast!

Damit eilte ich auf den Treppenabsatz hinaus. Ich hatte dort die Türe zu einem Wandschrank oben an der Treppe gesehen. Diese Tür schloß ich auf und fand, daß der Schrank geräumig genug war, uns zu bergen. Wenn wir hier entdeckt wurden, war es eine höchst unangenehme Sache, aber ich sah doch wenigstens eine Möglichkeit, der Polizei zu entgehen, und sofort entschloß ich mich, das Wagnis auf mich zu nehmen. Ich eilte wiederum in das Zimmer, wo Dick bereits das Licht angezündet hatte, und riß das Bettzeug in wildester Unordnung heraus auf den Boden.

Und nun, Dick, folge mir! flüsterte ich ihm ins Ohr, und sage kein Wort! Es ist unsere einzige Rettung. Die Polizei ist schon im Haus. Ich höre sie unten.

Ich ließ die Tür zum Schlafzimmer weit offen stehen, zog Dick in den Wandschrank und schloß die Tür hinter uns zu. Bald hörten wir schwere Fußtritte auf der Treppe. Sie kamen immer näher; dicht bei unserem Versteck blieben die Leute stehen.

Dann erhob sich eine laute Stimme und sagte in ärgerlichem Tone: Ich bin reingefallen, Herr Sergeant, sie sind durchgebrannt. Aber hab' ich nich recht gehabt? Ist das nich gerade der Ort, wo solche Falschmünzer sich gewöhnlich aufhalten? Sehen Sie nur, was sie für dicke Vorhänge da vor den Fenstern haben, um das Licht nich 'rauszulassen. Was soll das anders bedeuten? Ich wußte, daß aus dem Kamin da nich umsonst Rauch rauskomme. Aber sie haben Lunte gerochen!

Weil sie euch haben herumschnuppern sehen, sagte ein anderer, der wohl der Sergeant war, ihr habt euch wieder mal zu ungeniert sehen lassen. Ihr müßt doch immer in den gleichen Fehler verfallen, sobald ihr 'was ausfindig macht, was euch die Schnüre verschaffen könnte.

Möglich, Herr Sergeant. Niemand kann betrübter sein, als ich. Aber wir waren ihnen doch auf den Fersen! Sehen Sie nur, wie es hier aussieht; das Licht brennt noch. Sie haben ihre Sachen eingepackt und sind damit durchgebrannt, aber ich wette, wir sind kaum ein paar Minuten zu spät gekommen. Vielleicht fassen wir sie doch noch!

Führt noch eine andere Tür aus dem Haus? fragte der Sergeant.

Jawohl, Herr Sergeant, nach hinten hinaus, die Tür für Dienerschaft und Lieferanten. Ich kannte früher hier ein Dienstmädchen und kenne das Haus genau. Das wäre bei weitem der kürzeste Ausweg.

Gut also. Hat keinen Sinn, hier noch mehr Zeit zu vertrödeln. Führen Sie uns, und wenn Sie sie fangen, werden Sie vielleicht die Schnüre doch noch erhalten!

Abermals hörten wir Fußtritte auf der Treppe. Aber dieses Mal mit sehr veränderten Gefühlen.

Wir öffneten die Schranktür leise und lauschten, bis das Haus wieder in tiefster Ruhe dalag. Dann schlichen wir die Treppe hinab, eilten durch das immer noch offenstehende Fenster ins Freie und tappten, so gut es ging, durch den Garten zum Tor. Dort blieben wir einen Augenblick stehen, um zu lauschen, und schließlich befanden wir uns wieder heil und gesund in der Holly Tree Lane.

Puh! meinte Dick, dieses Mal sind wir mit knapper Not entkommen.

Jawohl, es ging uns schon nahe an den Hals, erwiderte ich, aber ich bin trotzdem mit der Polizei höchst unzufrieden.

Weil sie uns nicht gefunden und 'reingehängt hat?

Nein, sondern weil sie nicht eine Stunde früher erschienen ist. In diesem Falle hätte sie die ganze Bande abgefaßt, und die Gräfin wäre jetzt in Freiheit. Jetzt tappe ich mehr als je im Dunkeln. Die Spur ist verloren und eine Menge wertvoller Zeit völlig vergeudet. Es ist einfach scheußlich.

Jawohl, und ich bin niederträchtig durchnäßt und durchfroren und durstig, fügte Dick hinzu. Eine solche Nacht jeden Monat würde mir völlig genügen. Laß uns etwas Warmes genießen, in Gottes Namen, und mit dem nächsten Zug nach Hause fahren!


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