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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Ich wußte nicht, wie ich mir das Telegramm auslegen sollte, vielleicht wollte mir die Gräfin einen wertvollen Wink für die Verfolgung meiner Aufgabe in Rom geben. Zweifellos würde mit der nächsten Post ein Brief nachfolgen, und da mir ein Aufschub von ein paar Stunden nicht den geringsten Unterschied ausmachte, vertrieb ich mir die übrige Zeit des Nachmittags so gut wie möglich. Ich speiste in Davonports Club, ohne die ausgesprochene Absicht, ihn treffen zu wollen, war aber ganz erfreut, ihm dort zu begegnen. Die Freude verwandelte sich bald in das Gegenteil: zuerst langweilte er mich mit seinen Gemeinplätzen und nachher regte er mich mit seinen hartnäckigen Fragen nach der Gräfin auf. Die Sachlage hatte sich seit unserer letzten Zusammenkunft stark verschoben, und nunmehr empfand ich seine ziemlich unverblümten Andeutungen über diese liebliche Frau als Frechheit. Ich ließ ihn schließlich ziemlich unvermittelt sitzen, zündete mir eine Zigarre im Vestibül des Klubs an und schlenderte langsam heimwärts.

Die letzte Post war schon ausgetragen worden. Eine Anzahl von Briefen lag auf meinem Schreibtisch, doch war keiner von der Gräfin darunter.

»Na, er wird sicherlich morgen früh eintreffen,« sagte ich mir und dachte dann nicht weiter darüber nach. Ich ging bald zu Bett und erwachte beizeiten am folgenden Morgen. Ich saß beim Frühstück, als ich den Briefträger durch den Vorgarten kommen hörte. Aber er brachte nur die Zeitung und entfernte sich wieder.

»Seltsam!« sagte ich mir schon, als mir plötzlich ein Gedanke kam. »Teufel noch einmal, sie hat ja in ihrem Telegramm nichts von einem Brief erwähnt. Sie hat mich nur gebeten, heute mit dem Morgenschnellzug zu fahren; sie wird natürlich am Bahnhof sein, um mich zu treffen, was ich doch für ein dummer Esel bin, daß ich nicht früher daran gedacht habe!«

Das Ergebnis dieses tröstlichen Gedankens war, daß ich am Charing Croß-Bahnhof eine halbe Stunde vor Abgang des Zugs eintraf. Ich übergab mein Gepäck einem Träger mit der Anweisung, einen Eckplatz in einem Raucherabteil für mich zu belegen und stellte mich vor dem Bahnhof an einem Punkte auf, wo ich alle Ankommenden beobachten konnte. Die Minuten verflossen, Wagen und Droschken fuhren in rascher Reihenfolge vor, und mein Mut begann mir langsam zu sinken, als meine Gräfin immer noch nicht erschien.

Ich blickte auf die Uhr und schüttelte betrübt mein Haupt. Es fehlten nur noch zehn Minuten bis zur Abfahrt des Zuges.

In diesem Augenblick fuhr ein Wagen vor, dem ein mit zahlreichem Gepäck beladener Privatomnibus folgte, in dessen Inneren einige Bediente saßen. Ehe ich mir der Tatsache recht bewußt wurde, war der Lakai vom Bock gesprungen und riß den Wagenschlag auf, und heraus stiegen der Marquis de Brinvilliers und seine Schwägerin, letztere von Kopf bis zu Fuß in kostbare Zobelpelze gehüllt. Ein halb Dutzend Gepäckträger stürmten auf den Omnibus zu, eine Zofe eilte zur jungen Gräfin und befreite sie von einer Handtasche. Die Gräfin selber, ohne nach rechts oder links zu blicken, eilte rasch an der Seite des Marquis in den Bahnhof.

Ich war für einen Augenblick starr vor Erstaunen; dann eilte ich auf den Bahnsteig, wo ich meinen Gepäckträger bereits nach mir Ausguck halten sah. Dort blickte ich scharf um mich und gewahrte sie ein paar Meter von mir, wie sie sich mir rasch näherte. Einen Augenblick später war sie vorüber. Sie unterhielt sich, wie mir schien, ziemlich aufgeregt mit dem Marquis. Sie sah mich wohl – davon war ich überzeugt –, aber in ihren Augen las ich kein Zeichen des Wiedererkennens, und im nächsten Augenblick war sie in dem Abteil neben dem meinigen verschwunden. Eine Zofe und ein Lakai folgten ihr mit ein paar Gepäckstücken, und bevor ich mir recht bewußt war, was sich ereignet hatte, ertönte ein Pfiff, eine grüne Fahne wurde geschwenkt, ich sprang in mein eigenes Abteil, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Es ist nicht nötig, meine Gedanken und Gefühle während der Fahrt nach Folkstone näher zu beschreiben, da leicht zu erraten ist, womit sie beschäftigt waren. Bei unserer Ankunft goß es in Strömen, und ich sah die Gräfin über die Planken huschen und in den Salon verschwinden. Ich selber verfügte mich sofort in den Rauchsalon und bestellte mir einen steifen Grog, den ich, wie ich fühlte, jetzt dringend benötigte.

In Boulogne sah ich sie wiederum und merkte mir den Wagen, den sie bestieg. Ich hätte jetzt Gelegenheit gehabt, sie anzusprechen, da der Marquis mit den Zollbeamten beschäftigt war, aber ich hätte mich ihr um alles in der Welt nicht nähern mögen. In Amiens wiederum kam ich am Fenster ihres Abteils vorüber, als ich mich zum Büfett begab, aber ich wandte den Kopf nicht um eines Haares Breite nach ihrer Richtung.

Während des Restes unserer Reise war ich höchlich gespannt darauf, was sich bei unserer Ankunft am Nordbahnhof in Paris ereignen würde, würde sie mir irgend ein Zeichen geben? Bei unserer Ankunft verließ ich eilends den wagen und wartete stockstill die weitere Entwickelung ab. Aber es kam niemand. Ein Herr und eine Dame auf dem Bahnsteig begrüßten sie und den Marquis sehr lebhaft. Dann verließ die ganze Gesellschaft den Bahnhof. Ich folgte ihr in gebührlicher Entfernung und sah, wie sie eine prachtvoll ausgestattete Equipage bestiegen, die rasch davonrollte.

»Dies geht,« sagte ich mir, indem ich eine Phrase aus dem Wörterschatz des würdigen Herrn Mimms entlieh, »noch über das Bohnenlied!«

Meine Ueberlegungen während der letzten Stunden hatten mich indes zu der Ueberzeugung geführt, daß sie sich ihren eigenen Plan zurechtgelegt hatte und danach handelte und ihn auch zu jedermanns Zufriedenheit durchführen würde. So beschränkte ich mich sorgfältig darauf, die weitere Entwickelung geduldig abzuwarten. Tatsächlich blieb mir auch gar nichts anderes übrig.

Ich bestieg nun sofort eine Droschke, fuhr zum Lyoner Bahnhof und gab daselbst mein Gepäck ab. Der Durchgangszug nach Rom fuhr um halb elf Uhr ab. So blieben mir eine ganze Reihe von Stunden zu meiner Verfügung. Ich speiste etwas zerstreut, aber vorzüglich im Lass Anglais. Da das Wetter sich wieder zum Bessern gewandt hatte, schlenderte ich die Boulevards hinunter, besuchte da und dort ein Café, und um zehn Uhr fünfzehn traf ich wieder auf dem Lyoner Bahnhof ein.

Dort erblickte ich vor meinem Schlafwagen dieselbe Gruppe wieder wie auf dem Nordbahnhof. Absichtlich ging ich langsam vorüber, holte mein Handgepäck ab und ließ es in einen Raucherwagen tragen. Ich habe noch genügend Zeit vor mir, dachte ich, mir einen Schlafplatz zu sichern. So blieb ich auf dem Bahnsteig stehen und schaute zu, wie meine Bekannten sich verabschiedeten; dann bestiegen die Gräfin und ihre Zofe den Zug. Ich wollte schon in mein eigenes Abteil steigen, da näherte sich mir ein Beamter, grüßte und händigte mir ein Briefchen ein. Das Abfahrtssignal ertönte, als ich in den wagen sprang. Dann riß ich mit zitternder Hand den Umschlag auf und las:

 

Cher ami!

Man muß bisweilen vorsichtig sein. Da Sie meine Hilfe in Rom brauchen werden, fahre ich via Turin, Genua und Pisaa dorthin. Morgen, beim Lunch, werden Sie im Speisewagen Gelegenheit haben, mich zu sprechen.

F.

 

Ein starkes Gefühl der Erleichterung und dann eine freudige Zufriedenheit durchdrangen beim Lesen dieser Worte mit einem Male mein ganzes Sein.

Glücklicherweise benützt sie dieselbe Route wie ich, dachte ich. Und was sie für ein fixes, schneidiges Weib ist! wie sie das klug angezettelt hat! Bei Gott, es gibt kein zweites Weib auf Erden, das ihr gleichkäme!

Eine Stunde oder noch länger beschäftigten sich meine Gedanken in dieser närrischen Richtung. Als ich zwei Zigarren geraucht hatte, begab ich mich durch eine Reihe von wagen zu meinem Schlafplatz, wo ich bald von den schönsten Träumen umgaukelt war.

Am anderen Morgen erwachte ich erst um neun Uhr und erfuhr vom Schaffner, daß wir uns Chambery und dem Mont-Cenis-Tunnel näherten. Daher ließ ich mir eine Tasse Kaffee bringen und kleidete mich nachher in aller Gemütlichkeit an. Dann begab ich mich wieder in den Raucherwagen, zündete mir eine Zigarre an und vertiefte mich in ein Buch, so daß die Zeit ziemlich rasch verstrich, wir hatten eben den scheinbar endlosen Tunnel verlassen, als ich auf die Uhr blickte. Es war gerade zwölf Uhr. Daher klappte ich mein Buch zu, erhob mich und ging in den Speisewagen. Er füllte sich rasch, und zu meiner Freude sah ich, daß die Gräfin keine zwei Meter von mir entfernt an einem Tische saß. Als ich mich ihr näherte, hob sie die bisher gesenkten Augenlider, heuchelte in reizender Weise ein Erstaunen über das Zusammentreffen, erhob sich und sagte mit einer Stimme, die man im ganzen Wagen hören konnte:

Ei, welch unerwartetes Zusammentreffen, Herr Doktor! Sie sehen, daß ich Ihren Rat befolge, ein sonnigeres Klima aufzusuchen. Aber wer hätte sich auch träumen lassen, Sie gerade hier zu treffen!

Ich murmelte etwas von einem wichtigen Patienten, einem sehr reichen Mann, der mich nach Rom berufen habe. Dieses Anerbieten habe ich unmöglich ausschlagen können.

Das wird Ihnen nichts schaden, Herr Doktor, sagte sie fröhlich. Es wird eine angenehme Abwechslung in dem tödlichen Einerlei sein, wie Sie es als Arzt in London tagtäglich erdulden müssen. Vielleicht sind Sie nicht einmal so recht mit mir einverstanden. Haben Sie schon gespeist? wollen Sie sich nicht zu mir setzen? Ich habe zwar Bekannte in dem Zuge, mit denen ich mich schon halb und halb verabredet habe – aber das tut nichts. Bitte, nehmen Sie Platz! Sie müssen mir von der alten Gräfin Pangbourne und ihren Töchtern erzählen, und ob Lady Felicia sich wirklich durch die Kur, die sie befolgt, wieder erholen wird.

Und so plauderte sie weiter, bis sich ihre Stimme in dem allgemeinen Stimmengewirr und Geklapper der Messer und Gabeln des vollgepfropften Speisewagens verlor. Dann beugte sie sich vorsichtig über den Tisch vor und sagte leise:

Verstehen Sie jetzt?

Völlig. Ich war erst ein wenig verblüfft.

Und ärgerlich?

Nicht gerade.

Oh, oh, oh! Sie sollten nur Ihr düsteres Gesicht gesehen haben. Ich hätte nie geglaubt, daß Sie auch nur halbwegs so böse dreinblicken könnten.

Ich dachte mir, Sie hätten mich überhaupt nicht bemerkt.

Sie lachte.

Welch ein unschuldiger Mensch Sie sind, oder verstellen Sie sich wirklich dabei?

Wobei?

Indem Sie uns – nous autres – nicht besser zu kennen vorgeben? Ich habe Sie schon in dem Augenblicke, wo wir in der Charing Croß-Station einfuhren, gesehen, und mit Ausnahme der kurzen Zeit, wo ich mit dem Bruder des Marquis und seiner Frau speisen mußte, die uns am Nordbahnhof in Paris abholten, habe ich Sie nicht aus den Augen gelassen. Das hätten Sie übrigens wissen sollen.

Ich sehe das jetzt völlig ein, erwiderte ich, meinerseits lachend, aber als Ihr Briefchen mir überreicht wurde –

Nun?

Ja, da war ich glücklich wie ein Kind.

Dabei lachte ich so laut, daß sie einen Finger warnend auf ihre Lippen legte und in verändertem Tone sagte:

Was veranlaßt Sie, zu glauben, daß sich die alte Gräfin in Rom befindet? Sie haben mir das noch nicht erklärt. Ihr Telegramm war sehr kurz gehalten.

Das geschah nicht absichtlich, sagte ich etwas reuig. Mein Glaube beruht einfach auf einem anonymen Brief – vielleicht lachen Sie mich deshalb aus. Nachdem ich schon einmal hereingefallen bin, kann ich mit einem solchen Anhaltspunkt nicht auf viel Beifall rechnen, oder? Er wäre Ihnen vielleicht lächerlich erschienen, deshalb sagte ich nichts und hatte auch die Absicht, nichts zu sagen – bis –

Sie ließ mich nicht weiterreden.

Sie konnten auf jeden Fall nichts ohne mich unternehmen, sagte sie. Deshalb bin ich hier. Der Palazzo Frangipani ist die reinste Festung und wäre für Sie verschlossen gewesen. Ich war ja einmal dort Herrin, und wie Sie sehen werden, wird sich mir dort auf meinen Wunsch jede Türe auftun. Aber jetzt kommen meine Freunde, um nach mir zu sehen. Ich sehe im Spiegel, wie sie den Gang heraufkommen. Ich werde Sie vorstellen müssen; doch – beugen Sie sich herüber und hören Sie! –

Ich folgte ihrem Wunsch.

Wo steigen Sie in Rom ab?

Im Hotel »Minerva« – gerade hinter dem Pantheon.

Gut, wenn ich Sie vorher nicht mehr sehen sollte, werde ich Sie morgen mittag dort aufsuchen. Ich habe mir Zimmer im »Russie« bestellt; heute nacht holt mich ein Wagen am Bahnhof ab. Haben Sie alles verstanden?

Gewiß, erwiderte ich.

In diesem Augenblick blieben verschiedene Leute an unserem Tische stehen, und eine Stimme – eine weibliche – rief:

Ah, Gräfin, endlich haben wir Sie entdeckt!

Ah, da sind Sie! erwiderte sie und erhob sich. Es ist so seltsam; denken Sie nur, ich habe gerade meinen Londoner Arzt hier getroffen! Er muß nach Rom, zu einem sehr reichen Patienten. Erlauben Sie mir!

Ich wurde in aller Form vorgestellt, hierauf ermahnte ich die Gräfin nochmals, meine ärztlichen Anordnungen genau zu befolgen, und empfahl mich mit einer höflichen Verbeugung.

In Turin sah ich die Gräfin wieder, ebenso in Genua und Pisa, wo ein kleiner Aufenthalt war. Aber sie war stets in Begleitung ihrer Freunde, und kein Zeichen des Erkennens ward zwischen uns gewechselt.

Es war schon sehr spät, als wir in Rom anlangten. Ich sah sie mit ihrer Zofe in einem Wagen davonfahren. Dann rief ich eine Droschke herbei.

Albergo della Minerva, rief ich dem Kutscher zu, und binnen kurzem verließen wir die glatten Straßen des modernen Roms, um über die kleinen spitzen Pflastersteine jenes älteren Roms dahinzurasseln, das außer mir Tausende so sehr lieben.


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