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Siebzehntes Kapitel

Mein erster Impuls war, wie ich offen gestehe: Flugs Hut und Ueberzieher geholt, in den Wagen gesprungen und fort, nach Queens Gate! Aber meine Vorsicht hatte sich während der letzten paar Tage tüchtig verschärft. Ich war schon einmal hereingefallen, und trotzdem keine ernsten Folgen daraus entstanden waren, hatte mich das Erlebnis doch mißtrauisch gegen alle angenehmen Aussichten gemacht.

Haben Sie einen Brief von der Gräfin bei sich? fragte ich.

Der Lakai schien erstaunt.

Nein, Herr Doktor!

So. Nun, es tut mir leid, aber es ist mir heute nacht ganz unmöglich, die Gräfin noch aufzusuchen. Teilen Sie ihr mit, daß ich jeden Augenblick erwarte, zu einer wichtigen Konsultation geholt zu werden, bei der es sich um Leben und Tod handelt. Ich kann nicht – ich wage es nicht, wegzugehen, aber sagen Sie Ihrer Herrin, daß ich bestimmt morgen früh um zehn Uhr bei ihr vorsprechen werde.

Der Lakai zog den Hut und eilte die Treppe hinab. Ich bemerkte, wie er, bevor er den Bock bestieg, sich flüsternd mit dem Kutscher unterhielt. Hierauf rollte der Wagen wieder leer von dannen.

Als das Gerassel in der Ferne erstorben war, schlüpfte ich in meinen Ueberzieher, drückte meinen Hut fest auf den Kopf und eilte zur nächsten Durchfahrt. Im gleichen Augenblick fuhr eine leere Droschke vorbei. Ich hielt sie an und stieg ein.

Charing-Croß-Telegraphenbureau! rief ich dem Kutscher zu.

Ein Peitschenknall war die Antwort, und bevor ich mir's noch recht bequem gemacht, hielt das dampfende Roß gegenüber der Martinskirche.

Ein gutes Pferd habt Ihr da, Kutscher, bemerkte ich beim Aussteigen.

Rein besseres gibt's auf dem ganzen Londoner Pflaster nich, stimmte der Kutscher schmunzelnd bei.

Das glaub' ich, sagte ich. Einen Moment! – Damit eilte ich in das Bureau und setzte in aller Eile das folgende Telegramm auf:

»Gräfin Frangipani, Formosa Mansions 1, Queens Gate. Zweispänner mit Lakai eben bei mir vorgefahren. Lakai sagte, Sie wünschten mich sofort zu sehen. Wenn richtig, bedaure ich lebhaft, aber habe Gründe zu Vorsicht, daher nicht gekommen. Sehr verbunden, wenn Sie mir durch letzte Post ein Wort zukommen lassen. Perigord.«

Ich gab das Telegramm ab, zahlte und eilte wieder zu der Droschke hinaus.

Lassen Sie das Pferd laufen, was es kann, sagte ich zu dem Kutscher, – Queens Gate – ich sage Ihnen dann, wo Sie halten sollen.

Sogleich hörte ich den Kutscher etwas sagen – wohl eine kleine Ermunterung, die er seinem Tier zuteil werden ließ – und los fuhren wir, daß die Hufe des Pferdes auf dem Pflaster wie Trommelschlegel klapperten, volle zehn Minuten hielt es die Spitze vor einem Automobil. Der Chauffeur lachte. Es war offenbar ein gutmütiger Bursche, der seinen Spaß an dem flinken Pferdchen hatte und es gewinnen ließ, worauf Kutscher und Chauffeur, zum ersten Male in meiner Erfahrung, sehr höfliche Zurufe tauschten, als wir uns oben an Queens Gate trennten.

Als wir diese zur Hälfte entlang gefahren waren, ließ ich halten und ging langsam in der Richtung auf Formosa Mansions zu Fuß weiter. Ich war überzeugt davon, daß wir den Wagen überholt hatten, für den Fall, daß dies wirklich sein Bestimmungsort war. Er würde, wie ich mir sagte, gemütlich wieder nach Hause zurückfahren, nicht ohne – wie ich mit fast unbedingter Sicherheit annehmen konnte – einen Aufenthalt für die Vertilgung von vier Glas Bier zu nehmen. Daher stellte ich mich voller Zuversicht nahe bei der Einfahrt zu den Mansions auf, in der festen Zuversicht, daß sich die Sache in wenigen Minuten entscheiden mußte.

Ich brauchte nicht lange zu warten. Kaum war eine Minute verflossen, als eine Equipage in sehr gemütlichem Tempo in den Hof einfuhr. Ich konnte nur einen flüchtigen Blick auf ihre Insassen werfen, aber dieser Blick genügte. Ich erblickte den melierten Bart des Marquis und ein liebliches, von Spitzen umrahmtes Gesicht; ich wußte, woran ich war.

Als ich zu meiner Droschke zurückkehrte, war Julius Perigord in meiner Achtung beträchtlich gestiegen.

Dieses Mal ist es nicht gelungen, sagte ich mir. Ich bin gespannt, was sie zu meinem Telegramm sagen wird. Sie wird natürlich schreiben, und daraus kann eine Korrespondenz entstehen, ein Austausch von Vertraulichkeiten und – doch halt! Nicht zuviel Prophezeiungen, mein Junge! Kutscher, haben Sie Zeit?

Soviel Sie wollen, Herr, und das Pferd is auch wieder zu Atem gekommen.

Dieses Mal keine Hetzjagd – fahren Sie mich in aller Ruhe zum »Revellers Nachtschwärmer. Klub«! Wissen Sie, wo er ist?

Gewiß, sagte er, und fünf Minuten später hielten wir vor dem Hotel.

Ich hatte keinen bestimmten Grund, den Klub aufzusuchen, als vielleicht ein Stündchen dort zu verbringen. Möglicherweise hatte ich auch einen unbestimmten Gedanken, daß ich Davenport treffen könnte. Ich traf indes niemand, der mich sonderlich interessierte. Daher fuhr ich bald wieder nach Hause und kam noch vor ein Uhr ins Bett.

Mit der ersten Morgenpost erhielt ich einen Brief folgenden Inhalts:

 

Geehrter Doktor Perigord!

Eben vom Theater zurückgekehrt, finde ich Ihr Telegramm vor. Es setzt mich sehr in Erstaunen. Natürlich habe ich nicht nach Ihnen gesandt, wenn ich es getan hätte, würde ich Ihnen ein paar Worte geschrieben haben. Was kann das bedeuten? Ich könnte mir vielleicht ziemlich genau denken, wer den wagen gesandt hat, aber warum mein Name dazu benützt wurde, ist mir vollständig unklar. Sie haben sich sehr klug benommen, indem Sie die Einladung nicht angenommen haben. Ich sitze auf Nadeln, bis ich Sie sehen und Näheres aus Ihrem Munde hören kann. Daher wäre es mir recht, wenn Sie es einrichten könnten, morgen um fünf Uhr zu mir zu kommen und bei einer Tasse Tee die erstaunliche Begebenheit mit mir zu besprechen.

Mit bestem Gruße

Maria di Frangipani.

 

Immer und immer wieder las ich den Brief durch. Es war nicht ganz der Stil, in dem eine Gräfin zu schreiben pflegt. Ich glaubte ein unbestimmbares Etwas, eine unverkennbar freundschaftliche Note in dem ganzen Tone des Briefes zu erkennen, die mir ein angenehmes prickeln in allen Gliedern verursachte. Der Gedanke an ein ungestörtes tête-à-tête am gemütlichen Teetisch mit ihr war entzückend. Ich erinnere mich, daß ich an jenem Morgen meiner Toilette eine besondere Sorgfalt zuwandte. Es fiel mir auf, daß ich mir die Haare schneiden lassen mußte, daß eine neue Binde kein Luxus wäre und daß noch andere Kleinigkeiten an meinem äußeren Menschen mit Vorteil für meine allgemeine Erscheinung verändert werden könnten. Ich dachte sogar daran, mir einen neuen Hut zu kaufen, aber ich befürchtete doch, ein solcher Umstand könnte in meiner Nachbarschaft zuviel Erklärungsversuche herausfordern. Ich müßte mich schämen, wollte ich hier all die närrischen und kindischen Gedanken anführen, die mir an jenem Morgen durch den Kopf fuhren. Das Zimmermädchen starrte mich mit großen Augen an, als ich pfeifend das Eßzimmer betrat. Selbst die Köchin fand einen Vorwand, um heraufzukommen und mich zu sehen, und als ich mich später am Tag anschickte, mein Sprechzimmer zu verlassen, und Dick Molyneux eben mit einem teilnahmsvollen Gesicht erschien und meine leuchtenden Augen sah, blieb er erstaunt stehen und rief:

Ei, zum Donnerwetter!

Was ist denn los? fragte ich.

Kannst du mich denn fragen? Ich habe gestern nachmittag dein Telegramm erhalten.

Na ja. Und?

Und? Na, natürlich erwartete ich, daß man dir heute deinen Kummer ansehen würde. Statt dessen finde ich dich strahlend und lächelnd vor, mit einer lustigen, grasgrünen Halsbinde geschmückt, keine Spur von einem Trauerband am Hut und Marie Lloyds letztes, sehr weltliches Couplet pfeifend.

Sogleich wurde ich ernst, da mir das Gewissen schlug.

Hör, Dick, sagte ich, laß mich in den nächsten besten Käfig einsperren, ich hab's wahrlich verdient! Gott verzeih' mir's! Ich hatte es wirklich beinahe vergessen. Komm mit – ich will dir's unterwegs erklären! Wo sollen wir denn hin? Ich muß dir soviel erzählen. Das Einsperren kannst du nachher besorgen, wenn du es für angebracht erachtest.

Dick schlug das Café Royal vor. Dorthin fuhren wir, sobald ich meine grüne Halsbinde mit einer zu den Umständen besser passenden vertauscht und meinen Hutlieferanten aufgesucht hatte.

Sobald das Essen bestellt war, begann ich die Ereignisse seit unserem letzten Zusammentreffen zu erzählen. Er hörte mir aufmerksam und gespannt zu. Ich überging keine Einzelheit und erst beim Kaffee kam ich dazu, ihm den Brief der Gräfin zum Lesen zu übergeben.

Es folgte eine Pause, während er den Brief zweimal durchlas. Dann schaute er auf.

Das ist seltsam, mein Junge, meinte er.

So kommt mir's auch vor, erwiderte ich. Und jetzt verstehst du vielleicht auch, warum –

Allerdings. Anspielung unnötig, worüber ich mich wundere, ist nur der Umstand, daß du mit all diesen Gedanken im Kopfe nicht aus Versehen ein paar Patienten vergiftet hast. Ich fürchte, mir wäre es passiert.

Nun, sagte ich, ich erinnere mich an das, was du mir neulich sagtest – kannst du mir jetzt irgend einen Rat geben?

Nein. In dieser Geschichte mußt du, wie ich fürchte, dein Schifflein selber steuern.

Nach der Richtung Queens Gate, um fünf Uhr?

Freilich – gewiß, auf jeden Fall, es sei denn, du wollest einen Stellvertreter schicken. Ich würde mir nichts daraus machen, das Geschäft für dich zu besorgen.

Das glaub' ich gern, verehrter Herr Molyneux, selbst auf die Gefahr häuslicher Verwickelungen hin. Nein, mein Lieber, ich bin wirklich alt genug –

Und groß genug! fiel Dick ein.

Jawohl, auch groß genug, um das Ruder selbst führen zu können.

Der Besuch ist voll romantischer Möglichkeiten, sagte Dick.

Um so besser, erwiderte ich, derselbe Gedanke ist mir auch schon gekommen. Meine Gedanken an die Frau bringe ich keine fünf Minuten lang aus dem Kopfe.

Das willst du auch gar nicht, oder?

Nein. Es ist schon eine verdammt nette Beschäftigung. Eine solche Gestalt wie dieses Weib habe ich nie –

Hoohoho! lachte Dick.

Na ja, natürlich, fuhr ich fort und mußte auch lachen. Aber – um auf ein anderes Thema zu kommen –

Für einen Augenblick oder zwei?

O, mehr als das. Ich habe einen Plan. Ich muß die alte Gräfin aufspüren.

Die vom Pontifex Square?

Gewiß, und ich glaube, du könntest mir dabei behilflich sein.

Recht gerne. Aber wie?

Nun, heute mittag, als ich ein Rezept aufschrieb, ist mir ein Gedanke gekommen. Willst du morgen mit mir nach Balham kommen?

Gerne. Leg' nur los mit deinem Schlachtenplan!

Dort wohnt nämlich eine junge Frau, die den Aufenthaltsort der alten Dame kennt – zehn gegen eins zu wetten –, und ich glaube, wir könnten sie ohne große Mühe soweit einschüchtern, daß sie uns das Geheimnis verrät.

Gut. Und wer soll sie einschüchtern?

Du natürlich. Ohne dich allzusehr anzustrengen, könntest du so ziemlich jedermann einschüchtern.

Danke, werter Medikus, aber in welcher Eigenschaft – im vorliegenden Falle?

Als Detektiv natürlich. Ich bin der Kläger. Bei mir ist eingebrochen worden. Ich habe gewisse Gründe für die Annahme, daß sie Helfershelferin bei dem Diebstahl war. Eine alte Dame ist aus einem gewissen Haus am Pontifex Square entführt worden – mit Anwendung von Gewalt. In diesem Falle habe ich sehr gewichtige Gründe, dieses selbe junge Weib mit besagter Entführung in Verbindung zu bringen, sowie daß sie mit Hilfe eines gefälschten Briefes versucht hat, gewisse Wertsachen, die vorgenannter alter Dame gehören, an sich zu bringen. Ich, Kläger, habe mich der Dienste des gewandtesten Detektivs in ganz London, – das bist du, mein Junge, bedanke dich für die ehrenvolle Rolle! – versichert, und dieser beabsichtigt nun, der Sache auf den Grund zu gehen. Die Folgen sind unabsehbar, aber unvermeidlich. Ich indes bin von Natur aus ein gutmütiger Mensch und will die Sache nicht bis zum Aeußersten kommen lassen, falls sie – unter Zusicherung der Geheimhaltung – den Aufenthaltsort der alten Gräfin zu verraten gewillt ist. Das die Grundzüge – auf Einzelheiten brauche ich wohl nicht einzugehen, wie gefällt dir dieser Gedanke?

Famos. Ich bin dabei. Morgen also, aber um wieviel Uhr?

Komm um ein Uhr auf mein Sprechzimmer! Dann fahren wir in einer Droschke nach Balham.

Auf diese weise schlossen wir unsern Pakt, drückten uns die Hand und verabschiedeten uns von einander.


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