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Elftes Kapitel

Das war allerdings verblüffend. Doch bemühte ich mich, in Gegenwart meines kleinen Dieners Billy nicht die Fassung zu verlieren und sagte, mit einem zweiten Blick auf die Karte, leichthin:

Ach so, ja. Hat sie dir irgend etwas aufgetragen?

Ob Sie so freundlich sein und sie heute abend aufsuchen wollten, Herr Doktor, hat sie gesagt. Bis um elf Uhr sei ihr jede Stunde recht. Die Adresse steht hinten auf der Karte.

Ich wandte die Karte um und sah, daß auf der Rückseite, mit einem Bleistift hingekritzelt, die Worte standen:

Formosa Mansions 1, Queens Gate.

So! sagte ich. Das genügt. Wie sah die Dame aus?

Fesch, Herr Doktor. Ich kann es Ihnen ja sagen: sie hat mir eine halbe Krone gegeben.

So! War es eine alte Dame?

Billy grinste.

Bewahre, Herr Doktor. So schön, wie man sich's nur wünschen kann!

Danke, das genügt. Sag' der Köchin, ich möchte so früh als tunlich speisen!

Billy verschwand, während ich meine Bude betrat und mich in meinen Lieblingslehnstuhl warf.

»Was zum Teufel bedeutet das?« sagte ich mir. »Es beginnt Gräfinnen zu hageln und dazu alles Frangipanis. Ein wenig seltsam ist das; und ich bin plötzlich zu einer solch wichtigen Persönlichkeit vorgerückt in diesem Bezirk, wo die bessere Ehehälfte des Hauptkapitalisten – eines Flaschenbierverkäufers a. D. – von mir nicht anders als von dem »Quacksalber« spricht. Es ist wunderbar, alter Junge – geht noch über das Bohnenlied, wie Mimms sagt. Es handelt sich da um eine neue und gefährliche Erscheinungsform von Gräfin, wie ich fürchte, die nicht allein meinem Billy den Kopf verdreht hat, sondern – tausend gegen eins zu wetten – mit dem Weib identisch ist, von dem Dick heute mittag geschwärmt hat. Und jetzt wünscht sie mich zu sehen – nicht später als elf Uhr! Gerade spät genug um – weiß Gott! – ein Unheil anzurichten in ihrer Wohnung zu Queens Gate. Uebrigens: Formosa Mansions – das habe ich irgendwo schon nennen hören. Aber in welchem Zusammenhang? Wohnt ein Bekannter von mir in jenem Viertel? Nicht, daß ich mich erinnerte. Offengestanden scheint mir die Geschichte nicht ganz sauber zu sein. Die Situation ist nicht gewöhnlich, um nicht zu sagen ein wenig regelwidrig, und verspricht Aufregung, aber wohin treibe ich eigentlich? An welchen Klippen soll mein Schifflein schließlich zerschellen? Vorsicht muß dein Motto sein, junger Mann! Schöne Gräfinnen sind nicht dir zulieb hinter dir her, wenn sie auch nicht so schlimm sein mögen; und ich glaube nicht, daß du es unter gewöhnlichen Umständen nicht mit einem wohlgezählten Dutzend von ihnen aufnehmen würdest; aber –«

Bei diesem Punkte angelangt, wurden meine Ueberlegungen durch den Eintritt Billys unterbrochen, der mir mitteilte, daß das Essen auf dem Tische stehe.

Diese Arbeit erledigte ich im Handumdrehen und betrat mein Sprechzimmer auf den Glockenschlag.

An diesem Abend hatte ich, wie ich mich deutlich erinnere, ungewöhnlich viel zu tun, und es war bereits halb zehn Uhr vorüber, als ich das Gas ausdrehte, die Glastür abschloß und mich auf die Suche nach einer Droschke machte, die mich nach Queens Gate bringen sollte. Da hörte ich hinter mir meinen Namen rufen. Ich wandte mich um und sah mich Mimms gegenüber.

Freut mich, daß ich Sie noch getroffen habe, sagte er. Bin den größten Teil des Weges gerannt. Muß Ihnen was mitteilen, Herr Doktor. Es hat heute abend wieder jemand vorgesprochen, vor einer halben Stunde etwa.

Jemand? Was für ein Jemand? fragte ich.

Na ja, Herr Doktor, wegen den Sachen von der Gräfin.

So, wirklich? Ich denke, Sie haben nichts hergegeben?

Hergegeben! Werd' mich hüten!

Natürlich. Aber was hat der Mann gesagt?

Es war gar kein Mann, Herr Doktor, sondern 'ne Dame, und gerade das kommt mir merkwürdig vor.

Ich spitzte meine Ohren.

Kam sie gefahren? fragte ich.

Das glaub' ich, im Zweispänner sogar. Sie war ganz verbissen darauf, die Sachen geradenwegs mitzuschleppen. »Nee, Madam,« sag' ich, »daraus wird nichts. Der Brief da nützt Ihnen wenig bei mir.«

Was für ein Brief? Ich verstehe Sie nicht ganz.

Na ja, der Brief, den sie mitbrachte und der an »Herrn Wilhelm Mimms, hochwohlgeboren« adressiert war. Da is er, Herr Doktor, lesen Sie ihn selber!

Ich näherte mich einer Straßenlaterne und las auf einem schmutzigen halben Briefbögchen das Folgende:

 

Geehrter Herr!

Sobald ich das Vergnügen haben werde, Sie wieder zu sehen, werde ich Ihnen erklären, warum ich Ihr Haus so rasch verlassen habe. Dann werden Sie sich nicht mehr darüber wundern. Seien Sie so freundlich und geben Sie der Ueberbringerin – meiner Kammerfrau – die Kleider und übrigen Sachen, die ich bei Ihnen zurückgelassen habe, da ich sie sehr notwendig brauche.

Hochachtend

Frau Latimer.

 

Ich schaute zu Mimms auf und lächelte. Er lachte seinerseits recht vernehmlich.

Wofür hat sie mich eigentlich gehalten? sagte er. Die muß sich denken, ich sei ein verflucht grüner Junge, der noch nich trocken hinter den Ohren ist. »Mit Wilhelm Mimms treiben Sie nich Schindluder, Madam,« sag ich ihr; »machen Sie sich auf die Socken, Madam, und zwar etwas plötzlich! Sonst versetzen Sie mich in die schmerzhafte Notwendigkeit, die Polizei zu benachrichtigen, unter deren Anordnung ich jetzt zu handeln die Ehre habe.« Daraufhin wirft sie mir eine freche Bemerkung an den Kopf und sagt, ich werde recht bald wieder von ihr hören, sagt sie. »Nur nich zu bald, Madam,« sag ich in ganz ernstem Ton, »in Ihrem eigenen Interesse.« Also steigt sie wieder in ihren Wagen, und der fährt eben weg, da kommt zufällig mein Freund mit seinem Wagen angefahren – ich hab' Ihnen von ihm erzählt –, um eine Tasse Tee bei mir zu trinken. »Tommy,« sag ich, »Tommy, alter Junge! Folg dem Wagen da! Wenn du mir sagen kannst, wo er hinfährt, sind dir fünf Schilling sicher.« »Is recht, Wilhelm,« sagt er, »der Tee kann warten,« und los fährt er, hinter dem anderen Wagen her. Das is erst vor ein paar Minuten passiert, und so hab' ich mir gedacht, ich sollte rasch mal herunterrennen, Herr Doktor, und es Ihnen sagen. Freut mich, wie gesagt, daß ich Sie noch erwischt habe.

Mich auch, Herr Mimms. Sie haben sehr klug gehandelt, denn der Brief da ist gar nicht von der Gräfin geschrieben. Es ist nicht ihre Handschrift.

Freilich is er's nich. Das hab' ich schnell wie der Blitz gesehen. Meine Alte is bei weitem keine Gräfin; aber 's is gerade, wie wenn sie einen Brief mit Madame Mimms unterschreiben wollte, statt Mathilde Mimms, wie sie's gewöhnlich tut. »Nein, machen Sie sich auf die Socken!« sagt ich, »treiben Sie nicht Schindluder mit mir!«

Der ehrliche Maurer schien vor Stolz über seinen Scharfsinn ganz aufgeblasen zu sein, womit er den plumpen Schlachtenplan durchschaut hatte, durch den man ihm Besitztümer hatte abschwindeln wollen, die doch einen gewissen nicht unbedeutenden Wert für ihn besaßen.

Nun, Herr Mimms, sagte ich mit einem Blick auf meine Uhr, ich bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet und beglückwünsche Sie zu Ihrem Scharfsinn. Aber jetzt muß ich fort. Ich muß zu einem wichtigen Rendezvous. Meine freundliche Empfehlung an Ihre Frau! Adieu!

Im nächsten Augenblick war ich wieder auf der Suche nach einer Droschke. Bald gelang es mir auch, eine zu entdecken; rasch gab ich dem Kutscher mein Ziel: »Formosa Mansions, Queens Gate« an und stieg ein. Als wir über die Westminsterbrücke fuhren, schlug es zehn Uhr. Somit hatte ich noch eine volle Stunde vor mir und konnte nun Betrachtungen über die Ungewöhnlichkeit meines Unternehmens anstellen.

Es lag nun nicht in meiner Natur, irgend einem Weibe gegenüber schüchtern zu sein; je schöner sie war, desto besser. Ich war – und bin es noch – kein Schwächling, sondern ein großer, breitschultriger Bursche; wegen meines Kopfes und meines Gesichtes habe ich mich nie geschämt, wenn ich in den Spiegel sah. Ich bin, das möchte ich betonen, bei weitem kein »schöner« Mann. Aber immerhin auch kein Krüppel.

Trotz all dem machte mich das bevorstehende Rendezvous unerklärlich nervös. Ich war aufgeregt, ungeduldig, das Weib zu treffen, und doch bedrückte mich eine seltsame Vorahnung von Gefahr und Unheil, als wir uns immer mehr dem Ziele näherten.

Queens Gate! Formosa Mansions! Wieder drängte sich mir die unbestimmte Erinnerung an den Namen auf, aber ich wußte ihn nicht unterzubringen, und vergebens zermarterte ich mir das Gehirn über den mir so bekannt klingenden Namen.

Wir fuhren am St. Georgsspital vorüber, und ein paar Augenblicke später las ich mechanisch den Namen Alexandrahotel an einem großen Gebäude, immer noch in mein Nachdenken vertieft. Aber in diesem Augenblick wußte ich auch, woher ich die Formosa Mansions kannte! Wohnte dort nicht ein alter Freund von mir, Davenport, der gleich Dick Molyneux sein Patent in die Tasche gesteckt und von seinen Renten lebte?

Eine einfache Gedankenverbindung hatte mich wieder an diesen alten Kommilitonen erinnert: ich wußte, daß sein Klub im Alexandrahotel residierte.

Rasch ließ ich den Kutscher halten und eilte in die Klubräume hinauf. Um diese Zeit mußte Davenport noch im Klub sein.

Während mich der Diener meldete, schlug ich im Vorzimmer das Adreßbuch nach. Sorgfältig durchsuchte ich die Spalte Queens Gate. Rasch fand ich Formosa Mansions 1.

»Hm,« sagte ich bei mir. »Ich kann da nur den Marquis de Brinvilliers finden. Soll mich gleich der Henker holen, wenn das nicht verflixt seltsam ist.«

In diesem Augenblick kam Davenport herein und eilte auf mich zu. Ich hatte ihn seit mehreren Jahren nicht gesehen.

Grüß dich Gott, Perigord! rief er, und eilte auf mich zu. Das freut mich aber, dich wieder mal zu sehen.

Ich entschuldigte mich: Draußen wartet mein Wagen, sagte ich. Ich muß nämlich zu einer Patientin, die meinem Diener sagte, sie wohne in Formosa Mansions. Da ich sie im Adreßbuch nicht finden konnte, dachte ich, du könntest mir vielleicht Näheres mitteilen, da du ja dort wohnst.

Gewiß, wie heißt die Dame?

Gräfin Frangipani.

Wie?

Ich wiederholte den Namen.

Nie was von ihr gehört.

Und doch hat mein Diener fest und steif behauptet, sie habe ihre Adresse als Formosa Mansions, Queens Gate bezeichnet. Apropos, wer ist denn der Marquis de Brinvilliers?

Ich weiß nicht. Ein geheimnisvoller Kerl, wohnt in Nummer 1, dem feinsten Haus im ganzen Viertel. Ah, da fällt mir eben ein, daß ich in der letzten Zeit ein verflixt strammes Weib in Nummer 1 ein- und ausgehen sah; sie ist mir ganz unbekannt. Es wird doch nicht am Ende –

Doch, sie ist es. Ich bin überzeugt davon. Entschuldige mich, bitte, ich bin spät daran. – Dabei sah ich auf meine Uhr. – Tut mir leid, daß ich dich gestört habe. Hoffentlich habe ich das nächste Mal mehr Zeit.

Bevor er sich von seinem Erstaunen erholt hatte, war ich hinausgeeilt. Im nächsten Augenblick saß ich wieder in meinem Wagen, mit sehr gemischten Gefühlen, und ehe ich mir noch recht klar über die Sachlage war, hielt die Droschke vor Formosa Mansions.


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