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Zweites Kapitel

Es war der reinste Käfig von einem Zimmer, aber sehr niedlich und freundlich ausgestattet. Im Kamin brannte ein Feuer, auf dem Teppich davor schnurrte behaglich eine große Angorakatze, und auf dem Tische stand eine Lampe mit einem roten Lichtschirm.

Mit einem Male erhob sich aus den Tiefen eines umfangreichen Lehnstuhls, der ans Feuer gezogen war, eine der niedlichsten kleinen alten Damen, die mir je vor Augen gekommen sind.

Ihr ungewöhnlich reiches Haar war in eine ganze Sammlung einzelner Locken von auffallend blonder Farbe abgeteilt; es bildete einen ungewöhnlichen Hintergrund zu ihrem glitzernden, kohlrabenschwarzen Augenpaar, das sich augenblicklich auf das meinige richtete. Ihre Wangen waren lebhaft gefärbt. Auf ihrer Oberlippe konnte ich die Andeutung eines Schnurrbärtchens erhaschen, und mein erster Eindruck verriet mir, daß sie keine Engländerin sei. Sie trug ein altes Brokatgewand, steif wie Schätterleinen, darüber ein Spitzenumschlagtuch; an ihren Fingern bemerkte ich eine Reihe wertvoller Ringe.

Sie begrüßte mich mit einer sehr vornehmen Verbeugung und bot mir einen Stuhl an.

Sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Doktor, begann sie, daß sie gekommen sind. Die Aerzte in der Nachbarschaft sind solche Hanswurste und solche Lügner. Der eine meint, es fehle an der Lunge, der andere an der Leber, ein dritter findet Herzgeschichten; alles Lügen – Lügen – nichts als Lügen.

So, glauben Sie? sagte ich. Darf ich fragen, gnädige Frau, worüber Sie zu klagen haben?

Ich weiß es nicht, aber ich möchte es wissen, erwiderte sie. Das ist der eine Grund, warum ich heute abend nach Ihnen geschickt habe.

Der eine Grund, dachte ich bei mir; was zum Henker kann denn der andere Grund sein? – Ich stellte mich indes, als habe ich die seltsame Bemerkung nicht gehört und begann sofort mit dem üblichen Schema. Ich stellte ihr eine Reihe von Fragen und nahm schließlich auf ihre Aufforderung hin meine Zuflucht zum Stethoskop. Das Ergebnis setzte mich in Erstaunen.

Nun, Herr Doktor, sagte sie, was halten Sie von meinem Falle?

Nichts, gar nichts, gnädige Frau. Sie sind kerngesund.

Da lachte sie so recht von Herzen.

Natürlich bin ich's. Ich sagte Ihnen ja, daß die andern Aerzte Lügner sind. Ich habe nun gefunden, daß Sie ein ehrlicher Mensch sind, und brauche mich nicht zu fürchten, Ihnen klaren Wein einzuschenken.

Wenn ich nun auf meinen Eid über meine ersten Eindrücke und Einfälle befragt worden wäre, so hätte ich gestehen müssen, daß es folgende waren: »Ich habe da eine eingebildete Kranke vor mir. Ich will ihr ein kleines Uebel angeben und werde so einen kleinen Gewinn aus ihr herausschlagen!« Aber glücklicherweise sah ich ein unbestimmbares Etwas im Auge der alten Dame, das mich veranlaßte, auf meiner Hut zu sein und die Wahrheit zu sagen. Davon zog ich sofort Nutzen.

Es mag sein, daß es andere Leute für angebracht halten, zu schwindeln, gab ich zur Antwort, aber meine Methode ist das nicht. Arzt und Patient sollten keine Heimlichkeiten voreinander haben, gnädige Frau. Das ist ein Grundprinzip, woran ich stets festgehalten habe. Es kommt schließlich beiden zu gut.

Freilich, sagte sie, gewiß.

Und nun, fuhr ich fort, – durch den vorteilhaften Eindruck, den ich bei ihr hervorgerufen, kühn gemacht, – da wir uns beide über diesen Punkt im klaren sind, was war, wenn ich fragen darf, der zweite Beweggrund, der Sie veranlaßte, heute abend nach mir zu schicken?

Rücken Sie Ihren Stuhl ein wenig näher heran! erwiderte sie.

Ich folgte ihrer Aufforderung.

Das Haus ist klein, sagte sie, und die Wände sind so dünn wie Pappdeckel. Man weiß nicht, ob nicht jemand horcht. War nicht Ihr Vater auch schon Arzt?

Die Frage überraschte mich.

Gewiß, sagte ich, er war Arzt.

Ihr Name, Herr Doktor Perigord, ist kein alltäglicher – nicht leicht zu vergessen, und als die gute Haut drunten ihn in meiner Gegenwart erwähnte, dachte ich sofort – doch, bevor ich dazu komme, Herr Doktor: Sie sind vielleicht erstaunt, daß ich in einer solchen Umgebung wohne?

Zweifellos macht Ihnen das Spaß, gnädige Frau, erwiderte ich, indem ich mir Mühe gab, mich möglichst diplomatisch auszudrücken.

Es macht mir nicht Spaß, das weiß Gott, bemerkte sie. Es handelt sich um ein Muß. Die Umgebung entspricht keineswegs meinem Geschmack, aber ich bemühe mich, die Notwendigkeit von ihrer besten Seite zu nehmen. Die Leute hier sind ein wenig rauh und gewöhnlich, aber doch ehrlich und freundlich. Sie halten mich für eine harmlose Irrsinnige oder dergleichen. Und gerade das paßt vorzüglich zu meinen Wünschen. Sie nennen mich »die Gräfin«. Ich erlaube es ihnen. Ich muß darüber lächeln. Denn seltsamerweise bin ich zufällig wirklich eine Gräfin.

Als sie bei dieser Wendung bemerkte, daß ich unwillkürlich die Augenbrauen in die Höhe zog, beeilte sie sich hinzuzufügen: Halten Sie mich nicht auch für geistesgestört, wenn ich das gestehe! Ist Ihr Vater noch am Leben?

Nein, antwortete ich. Er ist im Ausland gestorben, als ich noch ein kleiner Junge war.

In Italien?

Jawohl, in Italien –

Fiel im Duell?

Sprachlos starrte ich die Dame an. Dann fand ich Worte und rief aus:

Großer Gott! Was wollen Sie damit sagen, gnädige Frau? waren Sie mit meinem Vater bekannt?

Fragen Sie mich lieber, entgegnete sie, ob ich seinen Sohn erkenne. Ich kann mich aber nicht täuschen, denn niemals habe ich zwei Menschen getroffen, die sich so ähnlich sahen, wie Ihr Vater und Sie. Jawohl, ich kannte den Doktor Perigord sehr gut: ich bin sogar ohne meine Schuld die Ursache zu seinem Tode geworden.

Es konnte keinem Zweifel unterliegen, daß diese Enthüllung der vollen Wahrheit entsprach. Ich selber war unfähig, etwas anderes zu tun, als sie in stummem Staunen anzustarren und zu warten, ob sie ihrer Enthüllung noch etwas hinzufügen würde.

Es war eine traurige, eine schreckliche Geschichte, fuhr sie fort, und ich bin wirklich froh, seinem Sohn zu begegnen und in der Lage zu sein, ihm vielleicht eine Entschädigung für den Verlust eines tapferen und ritterlichen Vaters leisten zu können. Sind Sie nicht in Rom geboren?

Das stimmte freilich. In dem Murrayschen Reiseführer jener Zeit war mein Vater im Verzeichnis der englischen Aerzte aufgeführt, die damals in Rom praktizierten. Acht Jahre nach meiner Geburt ereignete sich der unglückselige Vorfall, worauf sie angespielt hatte. Nach dieser Katastrophe reiste meine Mutter mit mir nach England. Sie lebte zurzeit von einer kleinen Pension in Tunbridge Wells.

Ich zögerte einen Augenblick mit der Antwort, mehr aus Verdutztheit als aus irgendeinem anderen Grunde. Sodann antwortete ich:

Gewiß, gnädige Frau. Ich bin in Rom geboren.

In der Via Babuino, nicht weit von der Piazza di Spagna?

Jawohl. Ganz richtig.

Dann vielleicht erinnern Sie sich der Umstände, unter denen Ihr Vater seinen Tod fand?

Ziemlich klar, erwiderte ich. Ich weiß noch gut, wie er sterbend nach Hause gebracht wurde. Er hatte einen Degenstich durch die Lunge erhalten. Was mir indes am deutlichsten im Gedächtnis haftet, ist der Kummer und Schmerz meiner Mutter: es war fürchterlich! Sie nahm mich ins Sterbezimmer, um mir den Toten zu zeigen und brach dort völlig nieder. So jung ich damals war, die Szene hat einen unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht.

Ein stechend scharfer Blick kam aus den Augen der alten kleinen Dame, als sie sie in die meinigen bohrte, sich vorwärts beugte und fragte:

Hat sie – Ihre Mutter – von der Ursache des Todes Ihres Vaters gesprochen? Hat sie in Verbindung damit den Namen einer Frau erwähnt?

Ich suchte in meinem Gedächtnis. Das Drama hatte sich vor so vielen Jahren abgespielt.

Jawohl, erwiderte ich schließlich. Sie hat von einer gewissen Gräfin gesprochen; ihr Name war, wenn ich mich nicht irre, Frangipani.

Und hat sie von dieser Gräfin im Haß gesprochen?

Nein, erwiderte ich. Ich habe nichts von Haß oder Mißmut bemerkt, als sie von ihr redete.

Gott sei's gedankt, sagte die Gräfin mit Wärme, Gott sei's gedankt! Ich bin die Gräfin Frangipani.

Kaum waren ihr diese Worte über die Lippen gekommen, da fuhr sie mit einem Angstschrei auf.

Was war das? Haben Sie nichts gehört? – Mit einem erschreckten Blick über ihr Zimmerchen, ergriff sie wie hilfesuchend meinen Arm.

Ich hatte in der Tat ein eigenartiges Geräusch gehört, als ob jemand im Zimmer anwesend gewesen wäre, aber ich konnte es nicht genauer beschreiben, noch konnte ich irgendeine Ursache dafür ausfindig machen. Ich riß die Tür auf, aber entdeckte niemand auf dem Vorplatz. Auf die Bitte der Gräfin durchsuchte ich auch das anstoßende Schlafzimmer, aber auch hier konnte ich nichts Verdächtiges entdecken.

Allerdings habe ich etwas gehört, sagte ich schließlich, aber, fügte ich mit beruhigendem Lächeln hinzu, es war nichts, worüber Sie sich zu beunruhigen brauchen. Im Zimmer ist absolut niemand anwesend außer uns, und dann, warum sollten Sie sich denn fürchten?

Weil die ganze letzte Woche mein Leben hier unausgesetzt von Schrecken erfüllt war. Können Sie nicht mutmaßen, warum ich an einem derartigen Orte lebe, in einer elenden Sackgasse eines der ärmlichsten Stadtteile Londons? Sie waren so liebenswürdig anzunehmen, daß mir das Spaß bereite. Weit gefehlt, Herr Doktor! Es ist eine fürchterliche Notwendigkeit, und ich gäbe Welten darum, wenn ich ihr entfliehen könnte. Apropos, sprechen Sie Italienisch?

Ziemlich gut, antwortete ich. In einem gewissen Sinne ist es ja meine Muttersprache, und ich habe es mir ein wenig angelegen sein lassen, meine Kenntnisse darin nicht zu vergessen.

Gut, fuhr sie nunmehr in dieser Sprache fort. Reden wir vorsichtshalber Italienisch, denn, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich lebe hier, um mich zu verbergen. Seit Jahren verfolgen mich unversöhnliche Feinde, von einem Winkel Europas in den anderen. Bis heute ist es mir noch immer gelungen, sie alle zu überlisten. Aber nunmehr werde ich alt und kann mich nicht länger der Hoffnung hingeben, den Kampf fürderhin allein zu führen.

Ich gestehe, daß ich bei diesen Worten begann, an ihrer Gesundheit zu zweifeln. Was für einen Beweggrund konnte irgend jemand haben, eine sichtlich unschuldige alte Dame wie diese da zu verfolgen? Und, wenn es tatsächlich der Fall war, wie konnte man verstehen, daß sie als alleinstehende Frau erfolgreich die Wachsamkeit so erbitterter Feinde so viele Jahre hindurch getäuscht hatte? Diese Gedanken und andere ähnlicher Art blitzten mir durch den Kopf, als sie fortfuhr:

Hier in dieser – für mich – elenden Wohnung halte ich mich seit beinahe einem halben Jahr versteckt. Ich habe mich noch nicht einen einzigen Augenblick außerhalb der Haustür sehen lassen. Eine lange Zeit hindurch fühlte ich mich völlig sicher, aber nunmehr bin ich sehr beunruhigt. Die Furcht, entdeckt zu werden, verfolgt mich fortwährend. In der letzten Zeit habe ich durch die Vorhänge hindurch auf der anderen Seite der Straße öfters einen Mann stehen sehen, der mein Fenster beobachtete. Ich erkannte in der Gestalt im ersten Augenblick – den – wirklich – den allerunermüdlichsten – meiner Verfolger.

Es tut mir leid, gnädige Frau, sagte ich lächelnd, daß meine Diagnose nicht ganz vollständig gewesen ist. Ich muß Ihnen doch, wie ich nun ergänzen möchte, etwas für Ihre Nerven herschicken.

So, ja wirklich, gab sie zurück. Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür. Meine Nerven befinden sich, ich weiß es, gerade jetzt in einem schrecklichen Zustand, was kein Wunder ist, da diese Furcht unausgesetzt auf mir lastet. Ich kann nicht einmal mehr Schlaf finden.

Um aufrichtig zu sein, gnädige Frau, bemerkte ich, ich verstehe diese Geschichte ganz und gar nicht.

Bis jetzt nicht. Natürlich nicht. Aber später werden Sie sie verstehen. Es wird in Ihrem Interesse liegen, sie zu verstehen.

Ich schüttelte den Kopf.

Sie geht über meinen schlichten Verstand, warf ich ein.

Natürlich, aber ich habe die Absicht, Sie in mein Vertrauen zu ziehen. Ich möchte einen Freund haben, in den ich unbedingtes Zutrauen setzen kann, und diesen Freund habe ich im Sohne Ihres Vaters zu finden gehofft. Ich möchte, daß Sie mich vor der drohenden Gefahr für heut und alle Zukunft schützen. Sie sind jung und stark und zweifellos auch gescheit. Die Belohnung für diese Dienste wird Ihre kühnsten Vorstellungen übersteigen.

Wieder fragte ich mich, ob diese Worte nicht aus dem Mund einer Geistesgestörten kämen. Ihr Benehmen war nun ruhig, gesammelt und liebenswürdig. Warum sollte ich schließlich an ihrer Gesundheit zweifeln, wenn ich keine weiteren unzweifelhaften Beweise für das Gegenteil hätte? Plötzlich fuhr mir ein Gedanke durch den Kopf.

Sagen Sie mir, gnädige Frau, fragte ich, würde mein Vater ein solches Abkommen gutgeheißen haben?

Zweifellos und mit Freuden. Wollte Gott, ich könnte seinen Geist in diesem Augenblick anrufen und mit meinen Ohren hören, was, wie ich bestimmt weiß, die prompte Antwort auf Ihre Frage sein würde!

Ihre Worte machten einen großen Eindruck auf mich, mit unverkünstelter Wärme waren sie geäußert worden.

Haben Sie nach mir geschickt, um mich darüber zu befragen? fuhr ich fort.

Jawohl. Für den Fall, daß es sich herausstellen würde, daß Sie wirklich der rechte sind, wie ich mir dachte und hoffte. Ich hatte keinen anderen Beweggrund, Sie kommen zu lassen.

Während ich noch immer zögerte, welche Antwort ich geben sollte, klopfte es plötzlich laut an der Haustür unten. Einen Augenblick später ließ sich ein lauter Wortwechsel im Korridor des Parterres hören.

Die Gräfin stieß einen halb unterdrückten Schreckensschrei aus, schwankte und wäre zu Boden gesunken, hätte ich sie nicht in meinen Armen aufgefangen.

Dio mio! keuchte sie. Es ist seine Stimme. Er hat mein Versteck aufgespürt. Mein Leben ist nun in Ihrer Hand, Ihre ganze Zukunft steht auf dem Spiel. Was sollen wir tun?

Aber, flüsterte ich, wer ist er – dieser schreckliche Kerl?

Der Mann, der Ihren Vater getötet oder richtiger ermordet hat! lautete die verblüffende Erwiderung.

Daraufhin biß ich die Zähne zusammen und führte die Gräfin in ihr Schlafgemach.

Gehen Sie hier hinein! sagte ich. Drehen Sie den Schlüssel von innen ab und überlassen Sie alles andere mir!

Nunmehr hörte ich schwere Fußtritte die Treppe heraufkommen. Dann ertönte ein gebieterisches Pochen an der Türe. Nach einer angemessenen Pause öffnete ich sie und stand, wie ich glaubte, Auge in Auge dem Manne gegenüber, der meinen Vater umgebracht hatte.


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