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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Eine halbe Stunde später waren wir wieder auf dem Bahnhof und eilten eben den Bahnsteig auf der Suche nach einem Raucherabteil in einem gerade eingefahrenen Zug entlang, als ich ein paar Schritte vor mir eine Gestalt erblickte, die mir merkwürdig bekannt vorkam. Sofort hielt ich Dick zurück.

Halt mal, flüsterte ich ihm zu. Ich glaube, ich kenne den Menschen da im hellen Ueberzieher, gerade vor uns.

Während ich dies sagte, kehrte sich der Herr halb um, ohne mich, wie es schien, zu beachten und stieg in den Zug ein.

Ganz gut, Dick. Mir wollen hier einsteigen! – Und als der Zug sich in Bewegung setzte, fügte ich hinzu: Ich habe mich wirklich nicht geirrt.

Worin geirrt? fragte Dick.

Betreffs der Persönlichkeit jenes Burschen. Es war der Erbgraf Frangipani; und wenn er nichts von der alten Dame weiß, wie er der Gräfin feierlich erklärte, was zum Teufel führt ihn nach Putney? Kann das bloß ein Zufall sein?

Mir kommt es schon verdächtig vor – so viel ist sicher, meinte Dick. Bist du ganz sicher, daß es der Erbgraf ist?

So sicher, als daß du der Herr Richard Molyneux bist. Und ich halte es für einen sehr verdächtigen Umstand, daß er heute gerade hier in Putney ist.

Es hat den Anschein, als ob er der Gräfin etwas vorgeflunkert habe.

Allerdings scheint dem so zu sein, erwiderte ich. Um so besser, wenn der Anschein sich bestätigen würde. Gerade mit diesem Manne möchte ich abrechnen. Der geheimnisvolle Salviati interessiert mich nicht, aber ich habe den sehnlichen Wunsch, mit dieser Kreatur, die meinen Vater getötet hat – ich könnte ihr kaltlächelnd das Lebenslicht ausblasen, Dick! – ein Wörtchen zu reden. Die alte Dame hat gesagt, er habe ihn ermordet, und sie sollte es doch wissen. Wie wollen wir diese Geschichte weiterführen? Der Rauch aus dem Kamin hat uns einen entscheidenden Fingerzeig gegeben – sie ist dort, die arme Seele, und vor allem müssen wir sie befreien. Sollen wir das selber bewerkstelligen, oder uns zum Beispiel Simpkins' Beistand sichern?

Laß Simpkins aus dem Spiel! riet Dick. Am besten helfen wir uns selber; du weißt ja nicht, was hinter der Geschichte alles noch stecken kann, ehe sie zu Ende geführt ist. Es ist eine Privatangelegenheit von dir, und Dick Molyneux steht hinter dir – was willst du noch mehr? Wir zwei zusammen haben zwei paar hübsch harter Fäuste zu unserer Verfügung, und wenn sie nicht fähig sind, solch ein leichtes Geschäft zu erledigen, dann können wir uns gleich begraben lassen.

Allerdings, stimmte ich ihm bei. Wir wollen es selber durchführen, aber wann?

Je früher, desto besser – was meinst du zu heute nacht?

Ich will sehen, ob ich Zeit habe, erwiderte ich. Ich möchte meine Praxis verkaufen und habe die Angelegenheit einem Agenten übergeben. Heute morgen erhielt ich eine Karte von ihm, ich solle um vier Uhr bei ihm vorsprechen, um einen Käufer zu treffen. Daher bin ich gebunden. Aber wenn es mir irgend möglich ist, will ich zu dir hinunterfahren, oder, noch besser, wir machen gar nichts ab. Ich werde dich auf alle Fälle benachrichtigen.

Mit dieser Abmachung verabschiedeten wir uns in Clapham Junction.

Am Waterloobahnhof erblickte ich noch einmal rasch den Erbgrafen, wie er eine Droschke bestieg und davonfuhr. Ich war fest überzeugt davon, daß er mich nicht beachtet hatte.

Rechtzeitig traf ich bei meinem Agenten in der Adamstraße ein.

Sofort wurde ich einem jungen Mann vorgestellt, der mir merkwürdig bekannt vorkam.

Sie erinnern sich meiner wohl nicht mehr, sagte er. Ich ließ mich während Ihres letzten Semesters in Edinburgh immatrikulieren, und begegnete Ihnen zum ersten Male nachts im Café Royal. Ein großer Australier hatte mich damals überfallen, und Sie verabreichten ihm eine tüchtige Tracht Prügel. Serkins ist mein Name – erinnern Sie sich vielleicht?

Ich erinnerte mich dunkel an ein derartiges Ereignis und ergriff sofort die Gelegenheit beim Schopfe.

Und nun, sagte ich, nachdem wir die – für ihn – denkwürdige Geschichte in allen Einzelheiten besprochen hatten, treffen wir uns jetzt hier wieder? Seltsam, nicht wahr? Und Sie haben auch die Absicht, meine Praxis zu übernehmen – ganz merkwürdig! Sie haben sich schon über die näheren Verhältnisse und Bedingungen erkundigt, wie ich annehme?

Oh ja, gewiß.

Die Praxis ist den Preis wohl wert, den ich dafür verlange, sagte ich, aber die Umgebung ist nicht sehr aristokratisch: Ihre Patienten würden in der Regel sehr einfache Leute sein. Auch das ist Ihnen auseinandergesetzt worden?

Gewiß, ich verstehe schon, sagte Herr Perkins. Ich bin nicht in der Lage, gegenwärtig große Ansprüche zu stellen; aber ich hoffe, daß es eine gute Anfangspraxis sein wird, die mich weiterführen kann.

In meinem Falle war es so, bemerkte ich, und wenn Sie sonst nichts zu tun haben, könnten wir ja eine Droschke nehmen und meine Goldmine in Augenschein nehmen. Sie werden sich dann selber ein Urteil bilden können und aus meinen Tage- und Kassenbüchern ersehen, was ich zu tun hatte.

Ihr Vorschlag ist mir sehr angenehm, erwiderte Perkins, und so machten wir uns sogleich auf den Weg.

Eine Stunde später sagte ich zu ihm: Freut mich sehr, daß Sie so befriedigt sind. Wann paßt es Ihnen, die Praxis zu übernehmen?

Sofort, erwiderte er. Morgen, wenn es Ihnen recht ist. Das Geld liegt auf der Bank. Ich brauche nur einen Scheck für Sie auszustellen.

Dann, sagte ich, mit meinen Gedanken fortwährend bei der Putneyer Angelegenheit, können Sie mich vielleicht gleich heute nacht vertreten, um mit den Patienten bekannt zu werden, die Sie hier haben werden. Mein Gehilfe Jenkins wird Ihnen alles Nötige sagen. Er tritt punkt sieben Uhr an. Ich werde einen Brief mit den nötigen Instruktionen für ihn hinterlassen. Ich möchte nämlich – um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Herr Kollege – heute nacht frei haben; ich habe etwas sehr Wichtiges zu erledigen.

Mit dem allergrößten Vergnügen, erwiderte Perkins, der wirklich ganz entzückt zu sein schien. Ich werde, wie ich gestehe, wohl für den Anfang etwas nervös sein, aber ich bin ganz erpicht darauf, loszulegen.

Das verstehe ich, Herr Kollege, sagte ich. Sie haben ganz recht. Sobald der Vertrag unterzeichnet ist, und alle Formalitäten erledigt sind, werde ich Sie als meinen Nachfolger einführen; sind Sie damit einverstanden?

Vollständig. Gut also, punkt sieben werde ich mich hier einfinden?

Damit empfahl er sich, und jeder von uns ging seines Weges.

Ich lenkte sofort meine Schritte heimwärts. Kaum hatte ich das Haus betreten, da überfiel mich das Zimmermädchen mit den Worten:

Oh, Herr Doktor, ich bin so froh, daß Sie heimgekommen sind. Eine Fremde ist hier gewesen und verlangte Sie zu sehen. Sie ist immer wieder gekommen. Ich konnte nicht klug draus werden, was sie sagte, aber es ist etwas sehr Wichtiges, glaube ich, und ich denke, daß sie jede Minute wieder eintreffen kann.

Ganz recht, Marie, sagte ich. Führen Sie sie auf mein Zimmer, sobald sie zurückkommt!

Ich begab mich in mein Studierzimmer, setzte mich an den Schreibtisch und füllte ein Telegrammformular aus. Es war an Dick Molyneux gerichtet und lautete einfach:

»Weißer Löwe, neun Uhr, bewußte Angelegenheit.«

Ich legte eben einen halben Schilling dazu, als ich die Klingel läuten hörte.

Einen Augenblick später führte das Zimmermädchen eine Frau in mittleren Jahren von sehr unfeinem Aussehen herein. Sie dienerte bei ihrem Eintritt unterwürfig.

Tragen Sie dieses Telegramm sofort auf die Post, Marie! sagte ich. Es ist von großer Wichtigkeit. – Und als das erstaunte Zimmermädchen die Türe hinter sich geschlossen, wandte ich mich an die Frau.

Und nun, Frau, was kann ich für Sie tun? fragte ich. Bitte, setzen Sie sich?!

Parla Italiano, signore? lautete ihre unerwartete Antwort.

Si, si, signora, parlo Italiano, antwortete ich lächelnd in ihrer Sprache, was gibt es denn?

Sofort zog sie einen Brief aus ihrem Busen und händigte ihn mir ein.

Sie werden mir zehn Pfund in Gold dafür geben? fragte sie und richtete ihre Augen scharf auf die meinigen.

Ich zuckte mit den Achseln, als ich den Umschlag aufbrach. Was zum Henker konnte denn das Weib meinen, indem sie mir zehn Pfund für einen Brief abverlangte? Handelte es sich um einen Erpressungsversuch? Ich faltete den Brief auseinander und sah nach der Unterschrift. Es war eine Mitteilung von der alten Gräfin.

Die Ueberbringerin grinste, als sie den Ausdruck der Verwunderung auf meinem Gesicht entdeckte.

Sind Sie befriedigt? fragte sie.

Ich nickte kräftig zur Antwort und wies ihr einen Stuhl an. Der Brief war in italienischer Sprache abgefaßt und wies keine Adresse auf. Es fiel mir nicht leicht, ihn zu lesen, da er mit einem stumpfen Bleistift auf ein Stück Packpapier geschrieben war. Ich konnte indes das Folgende entziffern, oder eher aus einzelnen Stücken zusammensetzen:

 

Lieber Doktor Perigord!

Ich bin jetzt doch meinem Feinde – Vittorio – in die Hände gefallen, dem Manne, der Ihren Vater getötet hat. Man hat mich weggeschleppt. Ich bin sehr schwach und krank, und es fehlt mir an den nötigsten Kleidern. Ich möchte noch nicht sterben. Ich werde ihm niemals nachgeben. Ich hab's Ihnen ja erzählt, und Sie sind im Besitze der Papiere, Gott sei Dank! Kommen Sie, mich zu retten, wenn es Ihnen möglich ist. Ich weiß nicht, wo ich gefangen gehalten werde. Das Weib, das für mich sorgt und einwilligte, Ihnen diesen Brief zu überbringen, weiß es, nur verlangt sie zehn Pfund in Gold. Geben Sie ihr das, ich habe kein Geld. Kommen Sie rasch zu mir, koste es, was es wolle! Sie werden es nicht bereuen.

Elena di Frangipani.

 

An der Echtheit dieses Briefes war kein Zweifel und Mißtrauen möglich. Ich hatte augenblicklich die Handschrift erkannt. Zu allererst war mein Herz von Mitleid für die arme, verlassene alte Dame in ihrer elenden Höhle, dann aber von Unwillen gegen den gottlosen Urheber der ganzen Geschichte erfüllt. Das Blut stieg mir zu Kopf. Ich schlug mit der Faust donnernd auf den Tisch, und es entfuhr mir ein Ausdruck, der nicht Italienisch war, und den ich hier nicht wiederholen möchte. Dann fiel mein Blick wieder auf das Weib, das den Brief überbracht hatte.

Nun, sagte ich, Sie wollen mir gegen zehn Sovereigns den Aufenthaltsort dieser Dame mitteilen?

Jawohl, Signore, sagte sie und verbeugte sich wieder.

Ich legte ihr Tinte, Feder und Papier vor, öffnete meinen Schrank, entnahm ihm zehn von den Sovereigns, die noch vom Geld der alten Dame übriggeblieben waren und legte sie in Gestalt einer kleinen Säule neben mich auf den Tisch.

Erst als sie dies gesehen, begann sie zu schreiben. Ich stand auf und blickte ihr über die Schulter, während sie mühsam ihre Buchstaben auf das Papier malte. Ich sah, wie allmählich das Wort Montpelier sich entwickelte, und Holly Tree Lane sich zu bilden begann. Dann hielt ich sie an.

Das genügt, sagte ich, in Putney natürlich.

Sie schaute erstaunt auf.

Jawohl, stimmt, Putney.

Und wo liegt das Zimmer der alten Dame?

Im zweiten Stock, rechts von der Straße aus gesehen.

Besten Dank, sagte ich und schob ihr die kleine Goldsäule hin, das ist für Sie. Gehen Sie jetzt wieder nach Putney zurück?

Sie ließ all ihre schlechten Zähne sehen, sagte etwas auf Italienisch, das unserem »Bewahre« entspricht, strich die Goldstücke ein und ging ihres Weges.

*

Punkt neun Uhr traf ich Dick Molyneux im »Weißen Löwen«. Ich hatte mir in der Stadt eine Blendlaterne und einige andere, vielleicht nützliche Ausrüstungsgegenstände verschafft; und als Dick überzeugt davon war, die Geschichte von Grund aus zu verstehen, sagte ich:

Komm jetzt! Wir wollen die alte Dame in weniger als einer halben Stunde ausgraben. Sonst wären wir ein paar Dummköpfe, und das, glaube ich, sind wir denn doch nicht!


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