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Neuntes Kapitel

An diesem Abend schrieb ich an einen meiner Freunde, der stets bereit war, mich zu vertreten, wenn die Pflicht oder das Vergnügen mich zu einer Reise veranlaßten. Ich bat ihn um seine Dienste für morgen. Um vier Uhr am folgenden Tag klingelte ich an der Tür der kleinen Villa, die meine Mutter in Tunbridge Wells bewohnte.

Ich wurde sofort zu ihr geführt. Sie lag auf einem Diwan im Wohnzimmer. Auf den ersten Blick gewann ich den Eindruck, daß sie sehr unwohl sein mußte. Ich hatte sie mehrere Monate nicht gesehen, und es entging mir nicht, daß sie in der Zwischenzeit sehr gealtert war. Als ich mich ihr näherte, streckte sie mir die Hand – eine sehr weiße, leidende Hand – entgegen; ich nahm sie in die meinige und zog einen Stuhl an ihre Seite.

Du fühlst dich nicht wohl, liebe Mutter? sagte ich.

Nicht sehr, Julius, erwiderte sie, aber das tut nichts. Es freut mich, daß du gekommen bist, trotzdem mich dein Brief ein wenig erschreckt hat. Was ist denn vorgefallen?

Bei diesen Worten schaute sie mich mit einem ängstlichen, gedankenvollen Blicke an, der mich mit Erstaunen erfüllte. Denn, wie ich bereits gesagt habe, war mir meine Mutter bei Gelegenheit unserer seltenen Begegnungen mürrisch und verschlossen vorgekommen, und so schien mir ihr plötzliches Interesse für meine bevorstehende Mitteilung, deren Natur sie bis jetzt noch nicht kannte, sehr auffallend. Daher konnte ich mich nicht entschließen, mit der Tür ins Haus zu fallen.

Es ist allerdings etwas Sonderbares vorgefallen, sagte ich, aber in meinem Berufe ist das keine Seltenheit, und bisweilen wird die Leichtgläubigkeit stark auf die Probe gestellt. Man weiß nicht recht, was man glauben soll.

Sie richtete sich nunmehr auf dem Diwan in sitzende Stellung auf und sagte:

Keine Ausflüchte, mein Junge! worum handelt es sich?

Ich dachte einen Augenblick nach, bevor ich antwortete, und erwiderte sodann:

Seit langen, langen Jahren, ja, seit den Tagen meiner Kindheit, hast du nie von Vater gesprochen.

Als ich schwieg, bemerkte ich, wie sie ihre Lippen zusammenpreßte. Einen Augenblick herrschte Schweigen im Zimmer, dann sagte sie:

Das ist richtig; aber warum lenkst du heute das Gespräch auf ihn?

Weil Gründe dazu vorhanden sind, antwortete ich.

Welche Gründe?

Ich werde sofort darauf zu sprechen kommen, wie alt war ich, als mein Vater starb?

Acht Jahre.

Ich dachte mir's. Ich habe mich in meiner Annahme nicht geirrt. Und damals lebten wir in Italien?

Jawohl. In Rom.

Er war dort Arzt, wie ich es jetzt in London bin?

Gewiß. Du weißt es ja.

Und eines Tages wurde er schwer verwundet nach Hause gebracht – und starb –

Er starb. Auch das habe ich dir erzählt.

Er wurde bei einem Duell verwundet?

Das hab' ich dir nie gesagt.

Aber, Mutter, – denk doch nach! Du hast es freilich erzählt – ganz gewiß. Deine Worte sind mir allerdings nur noch dunkel in Erinnerung, aber ich erinnere mich nur zu gut daran.

Warum, aus welchem Grunde aber kommst du jetzt auf meine Worte zurück? fragte sie mit einer Heftigkeit, die mich ganz beunruhigte. Ich schaute sie bestürzt an. Sie schien sich plötzlich verwandelt zu haben. Ihre Stimme war in ein Zischen ausgeartet. Ihre Haltung war beinahe befehlend. Rede – rede! wiederholte sie, warum kommst du hieher, um die Vergangenheit und die Erinnerungen an den Toten aufzurühren?

Ich war zu einem festbestimmten Zwecke nach Tunbridge Wells gefahren. Nur das erstaunliche Benehmen meiner Mutter machte mich schwach in meinem Entschlusse, die Geschichte jetzt und hier zu Ende zu führen.

Weil, sagte ich nach einer schicklichen Pause, weil ich es für meine Pflicht halte, genau in Erfahrung zu bringen, unter welchen Umständen mein Vater seinen Tod fand. Es ist jetzt nicht mehr an der Zeit, mir etwas verborgen halten zu wollen, und ich gestehe, daß ich keinen Grund zu weiterer Zurückhaltung sehen kann, wenn mein Vater ein Ehrenmann gewesen ist, wie ich zu glauben gute Gründe habe, kann nichts Unehrenhaftes an seinem Tode gewesen sein. Ich möchte einfach die Tatsachen kennen lernen. Ich bin sein Sohn – noch mehr: sein einziges Kind – und habe ein Anrecht darauf, eingeweiht zu werden. Keine Mutter hat das Recht, diesen ganz natürlichen Anspruch abzuweisen. Das ist meine Antwort.

Aber warum, warum, warum – nach so langen Jahren, kommst du, Julius, mit diesen eigentümlichen Fragen zu mir? fragte sie mit bebender Stimme. – In ihrem Benehmen verrieten sich deutlich die Zeichen eines bevorstehenden körperlichen Zusammenbruchs. – Es muß etwas vorgefallen sein – etwas mußt du erfahren haben. Sag' mir das erst, und dann, vielleicht – aber erzähl' es mir erst, Julius, sag' es mir!

Sie hatte sich nun aufs Bitten verlegt. Ich wußte nicht, wie ich mir das erklären sollte, aber ich fühlte, daß ich, ganz ohne es zu wissen, nunmehr auf der Schwelle einer überraschenden Entdeckung stand. Noch zögerte ich. Ich wußte nicht recht, wie ich meine Antwort einkleiden sollte. Ich wollte von meiner Mutter etwas Bestimmtes erfahren, ehe ich von meinen Erlebnissen in Nummer 19 des Pontifex Squares erzählte. Ihre ungewöhnliche Erregung hatte einen großen Eindruck auf mich gemacht. Es steckte mehr hinter dieser Angelegenheit, als ich mir zuvor auch nur hätte träumen lassen, und so sagte ich:

Gut, Mutter, bevor ich irgend welche Erklärungen oder Aussagen über das Vorgefallene mache, wie du es, und zwar ganz richtig, genannt hast – denn es hat sich in der Tat etwas sehr Auffälliges ereignet –, möchte ich, daß du mich genau über die Beziehungen aufklärst, die zwischen meinem Vater und der Gräfin Frangipani bestanden haben.

Die Wirkung dieser unerwarteten Worte auf meine Mutter war außerordentlich. Sie starrte mich für einen Augenblick mit offenem Munde an, wobei sie krampfhaft nach Luft schnappte.

Die Gräfin Frangipani! stammelte sie schließlich.

Jawohl, die Gräfin Frangipani, erwiderte ich.

Was in aller Welt kannst du von dieser Frau wissen?

Bis jetzt noch sehr wenig. Ich habe aber meine Gründe, von ihr viel mehr in Erfahrung zu bringen.

Du hast deine Gründe dafür?

Jawohl.

Aber du setzest mich in Erstaunen, wie kannst du von der bloßen Existenz einer solchen Frau gehört haben?

Eine gewisse verächtliche Betonung dieser Bezeichnung fiel mir auf.

Einer solchen Frau?! wiederholte ich.

Gewiß – einer solchen Frau.

Ist sie denn so schlecht?

Ist sie? Du willst wohl sagen: war sie? Sie ist schon vor vielen Jahren gestorben.

Ich glaube, darin irrst du dich.

Wie kann ich mich irren, wenn ich es weiß?

Es tut mir leid, dir widersprechen zu müssen, Mutter, aber ich habe aus sicherster Quelle erfahren, daß sie noch am Leben ist, in der allerbesten Verfassung.

Unmöglich. Wer hat dir das gesagt?

Die Gräfin selbst.

Ich sagte dies im wirkungsvollsten Ton, der mir zur Verfügung stand, aber statt des erwarteten Blickes sprachlosen Erstaunens gewahrte ich auf dem Antlitz meiner Mutter nur die Spuren erwachenden Interesses und gesteigerter Neugier.

Dann, sagte sie, bin ich grob getäuscht worden, und jetzt kann ich auch verstehen, warum du all diese unverständlichen Fragen an mich richtest, wenn du sie gesehen hast, so beschreibe sie mir.

Das tat ich, so gut es mir möglich war. Sie schien die beschriebene Person wieder zu erkennen und nickte beistimmend, als ich im Verlauf meiner Beschreibung gewisse Punkte erwähnte.

Jawohl, sagte sie, als ich damit zu Ende war, die Beschreibung scheint, wenn man die inzwischen verflossenen Jahre in Anrechnung bringt, ziemlich genau zu sein. Aber sage mir doch, unter welchen Umständen du mit ihr zusammengetroffen bist!

Nun war es mir ganz klar gewesen, daß meine Mutter mir nicht die volle Wahrheit verraten hatte; auch empfand ich die Gewißheit, daß sie keine rachsüchtigen Gefühle gegen die Gräfin hegte; so beschloß ich meinerseits, ihr auch nicht alles zu verraten.

Unter rein beruflichen Umständen, lautete meine Antwort. Es war ein seltsamer Zufall – von A bis Z. Ich wollte eines Abends gerade mein Sprechzimmer verlassen, als ich zu einer Dame geholt wurde, die mir völlig fremd war. Es war an diesem Vorfall rein nichts Ungewöhnliches, so etwas kommt in meinem Berufe alle Tage vor. Ich ging also hin und besuchte die Dame. Durch die zufällige Erwähnung meines Namens kam die Sache ans Licht. Ich kann noch hinzufügen, daß sie behauptete, ich sehe meinem Vater außerordentlich ähnlich. Stimmt das?

Jawohl – und dann?

Dann fragte sie mich über meine Erinnerungen von meinem römischen Aufenthalt aus und erkundigte sich, ob ich mich an die näheren Umstände beim Tode meines Vaters erinnere.

Und du sagtest? – Meiner Mutter Augen glänzten setzt vor innerer Erregung.

Nun, ich erzählte ihr nur, was ich wußte und was ich gesehen hatte. Ich erklärte ihr, daß ich damals noch ein Kind, erst acht Jahre alt, gewesen und mich keiner weiteren Tatsache mehr entsinnen könne, als daß mein Vater getötet worden, und du, Mutter, vom Kummer überwältigt gewesen seiest.

Die Züge meiner Mutter wurden mit einem Male hart.

Und was sagte die Frau dazu? fragte sie.

Ich besann mich einen Augenblick, ehe ich antwortete. War es weise, dachte ich, ihre Neugierde zu befriedigen, die bis zum höchsten Grade gestiegen war?

Nicht viel, antwortete ich dann. Sie sagte, was ich gerne hörte – daß mein Vater ein tapferer und ritterlicher Mann gewesen sei, dessen Andenken sie verehre.

Es zuckte meiner Mutter um die Lippen.

So, wirklich? Und hat sie dich auch darüber aufgeklärt, was deinen Vater ins Grab gebracht hat?

Nur in unbestimmter Weise. Es sei ein Duell vorgefallen, deutete sie an; die Gründe dafür verschwieg sie; und er – Vater – sei tödlich verwundet worden. Ich bin nun zu dir gekommen, um Näheres darüber zu erfahren. Ich habe meine guten Gründe dafür, das wissen zu wollen. Ich bestehe darauf, es zu erfahren. Du weichst meinen direkten Fragen aus, fügte ich mit erhobener Stimme hinzu. Ich frage noch einmal: welche Beziehungen haben zwischen meinem Vater und dieser Gräfin Frangipani bestanden? Die Frage ist klar gestellt. Du bist meines Vaters Frau gewesen. Ich bin dein Sohn und –

Um Gottes willen, Julius, unterbrach sie mich mit weinerlich flehender Stimme, quäle mich nicht länger! Siehst du nicht, daß ich unwohl bin? Mein Herz ist nicht in Ordnung, und du hast mich wieder so stark aufgeregt. Das ist nicht freundlich von dir. Warum kommst du und plagst mich mit dieser Frau? Ich dachte, ich hätte längst mit ihr abgeschlossen.

Nein, beharrte ich, das ist nicht der Fall, warum gibst du mir keine Antwort auf meine Fragen?

Du bist grausam, Julius. Diese Szene werde ich nicht eine Woche überleben. Was willst du wissen – von den Beziehungen deines Vaters zu diesem Weibe? Gut also: sie waren nicht unmoralischer Art – nein – nein! Dein Vater war ein liebevoller, treuer Ehegatte bis an sein Ende. Aber er war gutmütig und ein Don Quichote und hatte ein zu williges Ohr für fremde Angelegenheiten und ließ sich unüberlegterweise in die Kümmernisse und Sorgen anderer Leute verwickeln. Dies passierte ihm auch in diesem Falle, mit der Gräfin Frangipani. Ich warnte ihn, aber er hatte kein Ohr für meine Warnungen. Er verfolgte blind und ungestüm seinen eigenen Weg und mußte dafür büßen, und seither bin ich ein armes, gebrochenes Weib. Und jetzt kommst du, sein Sohn, mir mit dieser Frau! Um des Himmels willen, Junge, sei du nicht auch taub für meine Warnungen! Laß dich nicht in die Angelegenheiten und Geheimnisse dieses Weibes verwickeln! Ich habe nichts gegen ihre Person einzuwenden, aber aus jeder Art von Verbindung mit ihr entsprießt nur Unheil. Denk' daran! Meine letzten Worte an dich lauten: flieh dieses Weib wie die Pest! Und jetzt, Julius, geh' und laß mich allein! Ich bin sehr krank. Es ging mir schon besser, aber diese Unterredung – Bei diesen Worten ließ sie sich mit sehr blassem Gesicht wieder in die Kissen zurückgleiten. Dann fügte sie mit schwacher Stimme hinzu: Jawohl, ich fürchte, es wird unsere letzte sein. Leb' wohl, mein Sohn! Die Welt hat mir nichts mehr zu bieten, aber mit dir ist das eine ganz andere Sache. Noch einmal, denk an meine Worte, und nun leb' wohl!


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