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Erstes Kapitel

Es ist eine sehr seltsame Geschichte, die ich im Begriffe bin, zu erzählen. Als sie begann, war ich gerade achtundzwanzig Jahre alt. Ich hatte auf der Universität Edinburgh promoviert. Nach ein paar Seereisen als Schiffsarzt auf einem P.- und O.-Dampfer P.- und O.-Dampferlinie = Peninsular- und Oriental-Linie. erwarb ich mir mit der kleinen Summe, die mir von meinem väterlichen Erbteil noch übriggeblieben war, eine kleine Praxis in einer der südlichen Vorstädte Londons.

Meine Patienten waren alles arme Leute, die für eine Konsultation einschließlich einer Flasche Medizin oder einer Schachtel Pillen oder einem Büchschen Salbe, wie es sich gerade schickte, im ganzen einen Schilling bezahlten.

Für Entbindungen brachte ich die mäßige Summe von fünfzehn Schilling in Anschlag und ich verschmähte es sogar nicht, Zähne zu ziehen – Vorder- oder Backenzähne, das war mir einerlei –, mit Hilfe einer alten Zange, die ich in dem von mir übernommenen Inventar vorgefunden hatte; diese Operation kostete die bescheidene Summe von einem Schilling. Die Maschen am Netz meines Berufes waren um jene Zeit nicht sehr enge, und selbst Elritzen verachtete mein Gaumen nicht.

Das hatte seine guten Gründe. Bald brachte ich nämlich in Erfahrung, daß mein Vorgänger, dem ich ein hübsches Sümmchen für die Praxis in bar ausbezahlt hatte, eine gewisse Neigung zum Trunk gehabt und die einstmals ansehnliche Praxis so sehr vernachlässigt hatte, daß sie nunmehr sehr zurückgegangen war.

Ich warf mich mit aller Energie und einem guten Teil Gewissenhaftigkeit auf meine Beschäftigung, und mit Hilfe einiger glücklicher Zufälle verbreitete sich mein Ruf als tüchtiger Arzt in der ganzen Nachbarschaft. Daraufhin wuchs meine Kundschaft in der überraschendsten Weise an. Oefters kam es vor, daß zwanzig Personen beiderlei Geschlechtes und aller Altersstufen sich in meinem kleinen Wartezimmer drängten, und dieser Umstand brachte es natürlich mit sich, daß ich einen Gehilfen anstellen mußte. Kurzum, ich begann einzusehen, daß meine Lage anfing, sich zu verbessern.

Was meine Einrichtung anlangt, so muß ich zugeben, daß sie wohl ein wenig schäbig war, wenn sie vielleicht auch für ihre Zwecke genügte. Eine Ecke des Wartezimmers diente als Apotheke; durch den Schalter an einem mit Regalen ausgestatteten Verschlag verabreichte mein Assistent die Medizinflaschen. Rings an den Wänden standen Bänke und darüber hingen in leuchtenden Farben Erinnerungen an manch vergangenes Weihnachtsfest, farbige Bilder, wie sie die »Illustrierte Presse« bei dieser Gelegenheit in die Welt hinauszusenden pflegt. Das wichtigste von all den Dingen, die das Auge in diesem Zimmer erblickte, war ein großes Messingschild an einer Türe, das die Inschrift trug:

 

Julius Perigord
Dr. med.
Sprechzimmer.

 

Hinter dieser Türe nämlich saß ich zu bestimmten Tages- und Abendstunden an einem Tisch in würdiger Haltung und empfing meine Patienten.

Wenn ich nun auch so gesetzt auftrat, wie es einem Arzte ziemt, der Erfolg zu haben wünscht, so hatte ich doch – damals wenigstens – jene Art von Liebenswürdigkeit an mir, wie sie den Frauen angenehm ist, und ich bemühte mich vor allem, mich bei den Müttern kleiner Kinder und sogar bei den Kindern selbst einzuschmeicheln, eine Methode übrigens, die ich allen jungen Aerzten zur Nachahmung ans Herz lege.

Binnen kurzem steigerte sich auch die Zahl meiner Fünfzehnschillingfälle sprungweise in gleichem Maße, wie sich meine Praxis im allgemeinen verbesserte, und bald konnte ich mir mit gutem Gewissen in einer besseren Straße der Nachbarschaft eine Privatwohnung mieten. Dort befestigte ich ein weiteres Messingschild an der Türe, richtete mich etwas behaglicher als bisher ein und konnte in Bälde recht annehmbare Erfolge aufweisen.

Gerade zu jener Zeit ereignete sich ein Vorfall, der an sich zwar unauffällig und alltäglich genug war, aber zu den weiteren Folgen führen sollte, von denen im Verlauf dieser Geschichte die Rede sein wird.

Es war in einer Spätherbstnacht. Ich hatte gerade nach einem sehr anstrengenden Abend die Türe zu meinem Sprechzimmer abgeschlossen und blieb stehen, um eine Zigarette anzuzünden. Da kam eine armselige kleine Gestalt, bekleidet mit einem mächtigen, aber recht schäbigen Federhut und einem abgetragenen Velvetjacket, das ihr fast bis zu den Knöcheln reichte, auf mich zu und berührte leise meinen Arm.

Sind Sie der Doktor Perigord? fragte sie.

Beim Scheine meines Zündholzes sah ich der Fragerin in das Antlitz, das ängstliche und doch frische Gesichtchen eines etwa sechzehnjährigen Mädchens.

Jawohl, der bin ich, erwiderte ich.

Gut. Wollen Sie dann mitkommen und nach unserer Gräfin sehen?

Die Frage kam mir ein wenig komisch vor. Als ich der Kleinen verblüfft ins Gesicht schaute, fügte sie rasch hinzu:

Ja, ja! Es stimmt schon. Sie is sehr begierig darauf, Sie zu sprechen.

Die Gräfin?

Gewiß, Herr Doktor.

Wo wohnt sie denn?

Drunten bei uns. Pontifex Square 19.

Ich kannte den Pontifex Square recht gut. Es war eine kurze Sackgasse, die an der Mauer einer Brauerei endete und auf beiden Seiten von kleinen zweistöckigen verputzten Häuschen mit winzigen Vorgärtchen flankiert war. Man konnte den Platz nicht gerade schmutzig nennen, aber in London gab es sicherlich keinen armseligeren und schäbigeren »Square«, als dieser es war.

Was ist denn mit eurer Gräfin los? fragte ich.

Weiß nich, Herr Doktor, wenigstens wie ich und meine Mutter glauben, nichts Besonderes. Sie läßt ja immer Doktors zu sich kommen; 's is ihr Steckenpferd, sagt Vater, und Mutter hat ihr von Ihnen erzählt. Sie kennen doch Frau Mulligan, in Nummer 13, nicht?

O gewiß, erwiderte ich. Ich kenne Frau Mulligan sehr gut. Hoffentlich geht's den Zwillingen recht gut, wie?

Weiß nich, Herr Doktor, denk' schon; aber Frau Mulligan hat meiner Mutter erzählt, was für 'n Wunderdoktor Sie sind, und Mutter hat's wieder der Gräfin erzählt. Im gleichen Augenblick, wo sie Ihren Namen hört, sagt sie: »Ich kann nich einschlafen, ehe ich diesen Doktor Perigord gesehen habe.« Das is die ganze Geschichte. Wollen Sie nun kommen oder nich? Ganz wie Sie wollen.

Ich dachte einen Augenblick nach. Ich hatte um diese Stunde keinen wichtigen Besuch zu machen; und da meine Neugier ordentlich erwacht war, antwortete ich ohne weiteres Besinnen:

Ist recht, Kleine, ich komme mit!

Nach zehn Minuten erreichten wir bequem das Haus Pontifex Square 19. Als das Mädchen die Klinke am Gittertor niederdrückte, deutete sie auf ein beleuchtetes rotes Rouleau an einem Fenster im ersten Stock.

Das is ihr Zimmer, Herr Doktor, sagte sie. Sie is aufgeblieben, bis Sie kommen. Ich wußte wohl, daß sie es tun würde.

Hat sie hier gemietet? fragte ich.

Jawohl, Herr Doktor. Sie bewohnt den ganzen Stock, vorn und hinten.

Wie lange schon?

Etwa ein halbes Jahr.

Warum nennt ihr sie die Gräfin?

Weil sie so eine is. Sie nennt sich Frau Latimer, aber Mutter sagt, sie sehe ihr das an ihren Fingerringen an – lauter, lauter Diamanten!

Ei was? Ihr habt Glück, solch eine Mieterin gefunden zu haben, entgegnete ich etwas überrascht. Das wird doch helfen, das Leben leichter zu ertragen.

Und wie! Es is eine wahre Rente, sagt Vater, und er, Vater, is ein Maurer, vielleicht kennen Sie ihn?

Wie heißt er?

Mimms. Thomas Mimms, Herr Doktor.

Ja freilich. Ich erinnere mich an seinen Namen. Uebrigens, diese Gräfin, oder richtiger Frau Latimer, ist sie alt oder jung?

O, die is schon sehr alt, das will ich glauben! Ja, sicher sehr alt, aber sie kleidet sich wie 'ne Junge. Sie kennen ja die Art von Leuten, Herr Doktor, Sie haben sicher schon manche von dem Schlag gesehen.

Ich mußte über die altkluge Bemerkung der Kleinen lachen. Jawohl, sagte ich. Gewiß habe ich welche gesehen, und nun, Fräulein Mimms –

Anna heiß ich, Herr Doktor.

Also, Anna, zeig mir den Weg zu dieser prächtigen alten Dame!

Wir hatten uns aus leichtverständlichen Gründen im Flüsterton unterhalten. Sie schloß die Haustür auf und ließ mir den Vortritt durch einen engen, durch eine kleine Petroleumlampe erhellten Gang; das Lämpchen hing an einem Nagel an der Wand.

In diesem Augenblick hörte ich jemand die Küchentreppe heraufrufen:

Bist du's, Anna?

Jawohl, Mutter, und der Doktor is auch da, um die Gräfin zu sehen.

So, is er da? – Im nächsten Augenblick kam eine kräftige Frau von blühender Gesichtsfarbe, in mittleren Jahren, lächelnd durch den Gang auf uns zu. Ich sah, daß sie mich forschend betrachtete und daß das Ergebnis ihrer Untersuchung sie befriedigte.

Das freut mich aber, daß Sie gekommen sind, Herr Doktor, sagte sie, indem sie ihre aufgestülpten Aermel herunterstreifte. Ich hoffe, daß es Ihnen gut geht.

Jawohl, danke für die Nachfrage, Frau Mimms, sehr gut geht mir's, gab ich zur Antwort.

Das is ein Glück! Der Doktorsberuf muß doch sehr anstrengend sein. Tag und Nacht geht's in einem fort. Aber wegen mir sind Sie nich aus Ihrem ersten Schlaf herausgerissen worden, wenn ich auch einmal – da mit der Anna – meine schwere Mühe hatte und – aber ich wollte ja ganz was anderes sagen. Ich hab' nämlich Frau Mulligan – die, welche die Zwillinge gehabt hat, Herr Doktor – also, ich hab sie soviel von der Wunderkur erzählen hören, die Sie an ihr vollbracht haben, daß ich ganz zufällig der Gräfin, d. h. der Frau Latimer davon erzählt habe – gestern war's – und seitdem läßt sie mir keine Ruhe, bis ich nach Ihnen gesandt habe.

So? Ei was! erwiderte ich. Und wo, wenn ich fragen darf, fehlt es denn der Dame? Ist's ein ernster Fall?

Frau Mimms beugte sich vor und flüsterte mir ins Ohr:

Flausen, Herr Doktor, weiter nichts. Aber sagen Sie ihr ums Himmels willen nich, was ich Ihnen verrate. Was ihr fehlt, is ein Arzt, der immer um sie beschäftigt is. Mein Mann sagt, es sei ihr Steckenpferd, und das is es auch. Aber gehen Sie nur hinauf und untersuchen Sie sie … Sie wird Ihnen sicher gefallen. Sie is eine feine Dame vom Kopf bis zur Zehe, oder ich habe nie eine gesehen.

Und in einem Tone, den man auf dem Dachfirst hätte hören können, fügte sie bei:

Was stehst du denn immer noch da herum, Anna? Laß doch die Gräfin nich so lange warten und führ' den Herrn Doktor gleich hinauf!

Nunmehr brannte ich vor Neugier, was für ein Menschenkind diese »Gräfin« war. Ich folgte der kleinen Anna über die knarrende Stiege hinauf und blieb stehen, als sie nach einem vorbereitenden Pochen die Tür öffnete. Dann deutete sie mit dem Finger auf mich und sagte:

Ich hab' 'n gefunden, gnäd'ge Frau, da is er.

Damit betrat ich das Zimmer.


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