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Vierzehntes Kapitel

Ich saß noch nicht lange in der Droschke, die mich nach Hause bringen sollte, da reuten mich bereits diese übereilten Worte, und ich ärgerte mich vor allem weidlich darüber, daß ich Davenport überhaupt von der Angelegenheit Mitteilung gemacht hatte. Ich kannte ihn ja schon lange als unverbesserlichen Schwätzer, und wer weiß, ob er nicht, durch meine heftigen Reden nur angestachelt, noch weiteres Unheil anstiften würde. Denn daß er bereits Unheil angestellt hatte, davon war ich fest überzeugt: Das war mir klar, daß der Mann, mit dem er, in seiner unüberlegten Art zu reden, Vertraulichkeiten ausgetauscht hatte, irgendwie im Dienste des Grafen stand und wahrscheinlich an der Entführung der alten Gräfin in eigener Person teilgenommen hatte. Daß mein Besuch in Formosa Mansions unter diesen Umständen dem Grafen unverzüglich gemeldet werden würde, konnte sich jedes Kind denken. Vielleicht würde daraus keine Unannehmlichkeit für mich entspringen, aber über eine Reihe von Umständen war ich noch im unklaren, und so war ich sehr besorgt, ob nicht meine Erlebnisse an diesem Abend einem Menschen, der mit ziemlicher Sicherheit mein Feind war, gemeldet worden seien.

Die kühle Themseluft beruhigte, als ich über die Westminsterbrücke fuhr, mein heißes, aufgeregtes Blut einigermaßen, und als ich zu Hause anlangte, war ich in der Lage, über das Vorgefallene etwas nüchterner nachzudenken.

Zu meinem Erstaunen fand ich, daß mein Diener noch auf war und mich erwartete. Ich blickte auf die Uhr und sah, daß es gerade Mitternacht war.

Na, Billy, rief ich, was bedeutet denn das? Warum bist du noch nicht schlafen gegangen?

Weil ein Mann dagewesen ist – so etwa vor zwei Stunden –, der Sie zu sprechen wünschte, Herr Doktor. Er heißt Mimms und wartet jetzt im »Roten Löwen« an der Ecke. Er sagte, ich solle ihn sofort nach Ihrer Rückkehr benachrichtigen. Soll ich ihn holen?

Gewiß, Billy, sagte ich. Lauf rasch hinüber, er möchte sogleich herkommen!

Der Bursche verließ eiligst das Haus, und ich blieb nachdenklich stehen. Was war denn wieder vorgefallen? Offenbar entwickelte sich die Geschichte jetzt rasch. Aber jetzt war ich auf alles gerüstet.

Schon kehrte Billy mit Mimms zurück. Ich führte den Maurer sogleich in mein kleines Studierzimmer und schloß die Türe hinter uns sorgfältig ab.

Nehmen Sie Platz, Herr Mimms! sagte ich. Tut mir leid, daß ich Sie so lange warten ließ, aber ich bin im Westend aufgehalten worden. Wohl eine neue Entwickelung der Geschichte, wie?

Mimms hatte sein gehöriges Maß Bier im Leibe und fühlte sich mächtig.

Jawohl, Herr Doktor, antwortete er. Ich hielt es für meine Pflicht, zu Ihnen zu kommen, und wenn nötig eher die ganze Nacht vor Ihrer Tür zuzubringen, als Sie nich zu treffen.

So etwas Wichtiges?

Jawohl, Herr Doktor; mir kommt es wenigstens so vor. Erinnern Sie sich daran, was ich Ihnen von meinem Freund Tommy erzählt habe, der wo Kutscher is, und daß ich ihm fünf Schilling versprach, wenn er das Weib da verfolgen würde, das die Sachen der Gräfin aushängen wollte.

Natürlich. Und?

Und Tommy hat's getan und die fünf Schilling von mir gekriegt.

Die werde ich Ihnen natürlich wieder ersetzen, bemerkte ich, aber was für eine Entdeckung hat er denn gemacht?

Je nun, wo die Gräfin wohnt. Is das nich genügend?

Freilich, Herr Mimms. Aber ereifern Sie sich nur nicht unnötig! Sagen Sie mir genau, was geschehen ist! Lassen Sie sich Zeit, ich habe keine besondere Eile!

Nun, Herr Doktor, es is schließlich gar nich so viel zu sagen, was das anlangt. Er verfolgte die Droschke, wo die Dame drin saß. Es war eine lange Fahrt, ganz hinaus nach Balham, und schließlich sieht er die Droschke bei einer kleinen Villa in einer ziemlich langen Straße halten; es is gerade eine Gaslaterne vor der Villa, wie Tommy sehen konnte. Er fährt also nach und sieht die Dame ins Haus gehen und den Wagen wieder die Straße hinabfahren. Darauf steigt er ab und geht wie zufällig zum Laternenpfahl hinüber und merkt sich die Nummer. Er hat mir's da aufgeschrieben, Herr Doktor! – Damit zog er ein Stück Papier aus der Tasche und übergab es mir.

Ich las darauf die Worte: »Penelope-Terrasse 37, Balham.«

Gut, sagte ich, und was geschah sonst noch?

Nichts, Herr Doktor. Dann kam Tom zurückgefahren, und ich gab ihm die fünf Schilling, wie versprochen.

Ich händigte Mimms sogleich fünf Schilling ein.

Ihr Vorgehen war ausgezeichnet, Herr Mimms, sagte ich, und diese Adresse wird sich als wertvoll erweisen. Sie ist gewiß fünf Schilling wert, aber bilden Sie sich ja nicht etwa ein, die Gräfin sei in Balham.

Mimms öffnete den Mund und vergaß, ihn wieder zu schließen.

Warum nich, Herr Doktor?

Weil Ihnen eine kurze Ueberlegung sagen wird, daß die Anstifter dieser Geschichte zu scharfsinnig sein werden, ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort durch ein so einfaches Erkennungszeichen zu verraten. Möglicherweise war es nur eine List, um uns von der Spur abzubringen.

Ja, das is möglich.

Aber es ist noch wahrscheinlicher, meiner Ansicht nach wenigstens, daß es das Werk irgendwelcher Leute war, die ihnen behilflich sind, ihren Plan auszuführen. Sie geben ja selber zu, daß der Mann, der den Gang zu Ihrer Wohnung gegraben hat, ein gewandter Bursche gewesen ist.

Das habe ich gesagt, Herr Doktor, erwiderte Mimms gewichtig, und hab' auch wohl gewußt, was ich sagte.

Gut also, fuhr ich fort, ein Mensch, der sich durch eine Steinmauer geräuschlos ein Loch machen kann, das groß genug ist, daß er bequem hindurchschlüpfen kann, hat sich möglicherweise zuvor damit geübt, daß er durch eine Gefängnismauer durchgebrochen ist.

Ja, weiß Gott, das is möglich.

Auf jeden Fall muß es ein mehr oder weniger zweideutiger Geselle sein, der in eine Geschichte wie die unsrige da, verwickelt ist. Wenn dem so ist, würde er vor dem Gedanken nicht zurückschrecken, sich in den Besitz des Eigentums der Gräfin zu setzen. Folgen Sie mir?

Gewiß, Herr Doktor, gewiß. Ich sehe, worauf Sie hinauswollen, sagte er mit dem Benehmen und Blicke eines Mannes, der mehr als einen Grad in seiner Selbstachtung gefallen ist. Dann aber hellte sich sein Gesicht plötzlich auf, und er rief:

Auf jeden Fall is das Plänchen nicht gelungen, oder?

Keine Spur, antwortete ich lächelnd. Sie waren viel zu pfiffig, als daß es gelungen wäre. Denken Sie jetzt ja nicht, daß ich die Mitteilung nicht schätze, die Sie mir heut nacht gütigst gemacht haben. Sie wird sich als sehr wertvoll erweisen.

Dann dachte ich plötzlich an die fünfzehn Pfund von der Gräfin, die ich noch unberührt bei mir trug. Da kam mir ein Gedanke.

Auf jeden Fall reden Sie nichts davon! sagte ich. Ich werde diese Adresse in Balham einem Privatdetektiv mit gewissen Instruktionen übergeben. Wir werden dann sehen, was sich daraus ergibt.

Jawohl, bemerkte Mimms und stand mit erfreuter Miene auf, wir werden sehen, was sich daraus ergibt.

Ich begleitete ihn zum Haustor. Als ich dieses für die Nacht abschloß, bemerkte ich im Briefkasten einen Brief. Offenbar war Billy zu beschäftigt gewesen, um ihn zu bemerken und auf meinen Schreibtisch zu legen, wie es seine Pflicht gewesen wäre. Ich ging auf mein Zimmer zurück und machte den Brief auf. Es war eine flüchtige Mitteilung, die Dick Molyneux für mich niedergekritzelt hatte. Sie lautete:

 

Lieber Perigord!

Ich werde dieses verflixte Weib nicht aus meinen Gedanken los, noch die ungewöhnliche Geschichte, die Du mir heute mittag erzählt hast, wenn sich irgend etwas Weiteres regt, so schreib' mir ein Wort – oder was besser ist, fahre herunter und teile mir alles persönlich mit. Es stehen Dir, wie ich fürchte, unangenehme Geschichten bevor. Ich weiß zwar, daß es nichts auf Gottes Erdboden gibt, wodurch Du in Harnisch gerätst. Aber ich rate Dir: sei auf dem Posten und für jeden Fall gerüstet.

Mit Gruß

Dein Dick.

 

Ich lachte über Dicks Besorgtheit, so gut sie auch gemeint sein mochte.

Soll ich ihm wohl von meiner Unterredung mit der Gräfin schreiben? fragte ich mich. Na, warum nicht gerade eine Andeutung, um seine Neugier aufzustacheln? – Ich stopfte mir gemächlich meine Pfeife, setzte sie in Brand und schrieb das folgende:

 

Lieber Dick!

Ich habe heute abend eine halbe Stunde bei ihr verbracht. Sie ließ mich holen. Sie ist nicht bloß prächtig, sondern geradezu anbetungswürdig. Ich kann mich nicht entschließen, zu glauben, daß sie im entferntesten in die Sache verwickelt ist. Wenn wir uns wieder sehen, alle Einzelheiten! Es paßt mir ganz gut, morgen oder übermorgen zu Dir hinauszufahren.

Besten Gruß

Dein Julius Perigord.

Nachschrift: Laß Dir keine grauen Haare wegen mir wachsen, ich halte – gerade gegenwärtig – die Augen gut offen.

 

Nach dieser Verrichtung überließ ich mich den Genüssen meiner Pfeife und genehmigte noch einen kleinen »Buchanan«. Schlag ein Uhr drehte ich das Gas bis auf ein kleines Flämmchen herunter, für den Fall, daß ich während der Nacht herausgeläutet werden würde, und begab mich hinauf ins Bett. Aber ich war noch nicht lange eingeschlafen, da wurde ich durch ein scharfes Läuten meiner Nachtglocke wieder geweckt. Ich sprang aus dem Bett und blickte durchs Fenster auf die Straße: vor meinem Tor hielt ein Einspänner. Ich schaute auf die Uhr: es war zwei Uhr. Eilends kleidete ich mich an, stieg die Treppe hinunter, drehte in meinem Zimmer das Gas auf und riegelte die Haustür auf. Ein junger Mann stand draußen.

Können Sie mit mir kommen, Herr Doktor? fragte er. Es ist ein dringender Fall.

Wo fehlt's?

Herzkrankheit.

Mann oder Frau?

Frau.

Weit von da?

Nicht sehr weit. Der Wagen bringt Sie rasch hin und zurück.

Gut, sagte ich, einen Augenblick. Ich setzte den Hut auf, zog den Ueberrock an, steckte die Arznei ein, die ich für den Fall für nötig hielt, kehrte dann zurück, schloß die Tür hinter mir ab und bestieg die Droschke, die im Eiltempo davonfuhr.

Es war eine sehr neblige Nacht, und ich konnte kaum die Umrisse der Häuser auf beiden Straßenseiten unterscheiden, als wir rasch daran vorbeifuhren.

Ich wechselte einige Alltagsphrasen mit meinem Gefährten. Dann folgte ein langes Schweigen. Die Fahrt wollte kein Ende nehmen.

Es ist ein verteufelt langer Weg, sagte ich endlich. Wo sind wir denn?

Wir kommen eben nach Balham, antwortete er.

Ich fuhr bei dieser Eröffnung vor Ueberraschung zusammen, aber sagte dann einfach:

So! Sind wir bald an Ort und Stelle?

Gewiß, Herr Doktor; die dritte Kreuzung ist es.

Nach weiteren fünf Minuten hielt die Droschke vor einer kleinen Villa. Eine Gaslaterne stand vor dem Gitter. Während wir eintraten, sah ich rasch nach der Nummer. Es war 37!

Schon verflixt merkwürdig, sagte ich. Macht mich sehr gespannt, was das bedeutet.

Der junge Mann führte mich nach einem Hinterzimmer im ersten Stock, wo ich eine recht hübsche Frau, in den Dreißigern, in ihrem Bett vorfand. Während ich mich ihr näherte, fiel mein Blick (und da erwachte wieder der Berufsinstinkt in mir) auf einen Sovereign und einen Schilling Zusammen = 1 Guinee., die auf dem Nachttisch lagen.

Schwach lächelnd blickte sie mich jetzt an und sagte:

Es tut mir leid, Herr Doktor, daß ich Sie soweit herbemüht habe, aber vor einer Stunde stand es sehr schlimm mit mir, und ich glaubte, ich müsse sterben; aber jetzt ist der Anfall vorüber, und ich fühle mich weit besser.

Ich griff nach ihrem Puls. Er war normal. Dann horchte ich ihr mit meinem Hörrohr die Herzgegend ab. Ich konnte kein Anzeichen irgend welcher Störung entdecken. Aber das sagte ich ihr nicht.

Ja, hm, sagte ich. Die Krisis ist vorüber. Aber es wird angezeigt sein, daß ich Ihnen etwas zum Einnehmen dalasse, für den Fall, daß die Anfälle sich wiederholen sollten.

So erledigte ich das kleine Geschäft, während ich mir gleichzeitig die Umgebung mit Einschluß der Frau einprägte und die ganze Zeit über darauf gespannt war, was nunmehr sich ereignen würde. Aber es ereignete sich nichts. Als ich mich zum Gehen anschickte, deutete sie auf die Guinee, mein Honorar, das ich schleunigst einstrich. Dann wünschte ich ihr Gute Nacht. Der junge Mann geleitete mich die Treppe hinab und ging mit mir bis zu dem Einspänner. Er sagte, der Kutscher sei bezahlt, und bevor ich die erstaunliche Tatsache recht erfaßt hatte, fuhr ich heil und gesund mit einer Guinee in der Tasche wieder Lambeth zu.

Aber als ich zu Hause anlangte, erfuhr ich bald die Bedeutung der kleinen Komödie.

Das Gas brannte immer noch in meiner Bude, aber alles befand sich in der größten Unordnung. Alle verschlossenen Schubladen waren erbrochen worden. Der Fußboden war mit Briefschaften und Papier förmlich übersät. Da kam mir plötzlich eine Erleuchtung. Ich eilte zu meinem Schrank und schaute nach dem geheimen Schubfach darin. Es stand offen und war leer. Die Quittung des Bankiers für das Paket mit den sieben Siegeln war verschwunden.

Jetzt war mir alles klar.


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