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Siebenundzwanzigstes Kapitel. Dem roten Faden nach

Sobald ich mich von der Betäubung durch den starken Schlag erholt hatte, raffte ich mich auf und ging meines Weges weiter, wenn auch ohne Hast. Ich machte keinen fruchtlosen Versuch, dem flüchtigen Pastor nachzusetzen, denn ich war innerlich ruhig geworden, durch die Ueberzeugung, daß nun alles ins Blei kommen müsse. Nach Paris fuhr ich nicht, sondern ich ging nach dem andern Bahnhof, wo ich den Zug nach Southend noch glücklich erreichte. Vergebens sah ich mich nach dem Vikar um; er war nirgends zu sehen. Ich stieg aber gleichwohl ein, denn für den Augenblick konnte ich seiner doch nicht habhaft werden, und weit konnte er bis morgen früh nicht kommen, ich aber mußte sofort über das Fahrrad ins Klare kommen.

Ich habe meinen Einfall eine Eingebung genannt, er war aber nichts als eine glückliche Ideenverbindung. Im Augenblick, als ich des Radfahrers ansichtig ward, fuhr es mir durch den Kopf, daß ein Fahrrad rascher ist als eine Droschke. Ein Schuß ins Blaue war's, daß ich meine Gedanken vor Austin laut werden ließ, die Kugel hatte aber in unerwarteter Weise fürchterlich eingeschlagen und der Unglückliche sich verraten. Demnach mußte er seine Tante wirklich in jener kurzen Zwischenzeit ermordet haben und hernach auf dem Fahrrad nach Hause gelangt sein. Weitere Schlüsse konnte ich nicht ziehen, ehe ich Gewißheit hatte, ob er sich ein solches verschafft haben konnte.

Es war elf Uhr nachts, als ich zum zweitenmal vor Frau Hopkins' Haus in Southend stand. Kein Fenster war erleuchtet; die Bewohner offenbar schon zu Bett gegangen. Ich klopfte und klingelte, bis ich jemand wach getrommelt hatte; Frau Hopkins erschien an einem Fenster und ich fragte, ob ihr geistlicher Mietsmann zu Hause sei. Nein, er war noch nicht heimgekommen. Dann mußte sie mir sofort aufmachen, denn ich hatte im Namen des Gesetzes Wichtiges mit ihr ins Reine zu bringen. Erschrocken und wißbegierig erfüllte die wackere Frau mein Begehr in möglichster Eile.

Beim flackernden Licht einer dünnen Kerze saßen wir bald wieder miteinander in der guten Stube – Frau Hopkins in einem anständigen Morgenrock. Der Tochter blasses, angstvolles Gesichtchen erschien von Lockenwickeln umrahmt an der Thüre, ich drängte sie aber sachte hinaus und schob den Riegel vor.

»Frau Hopkins,« begann ich, »haben Sie ein Velociped oder Fahrrad im Hause?«

»Gott steh mir bei, Herr Fahnder, und da kommen Sie bei nachtschlafender Zeit, um so was zu fragen?«

»Sagen Sie mir nur, ob eines da ist?«

»Freilich ist eins da, wenn Sie es durchaus wissen müssen.«

Um ein Haar hätte ich der biederen Dame einen Kuß gegeben!

»Ein altes ist da, von meinem Jungen her, dem Jimmy, aber es ist länger als ein halbes Jahr nicht benutzt worden.«

»Zeigen Sie es mir.«

Frau Hopkins brummte weidlich über diese Zumutung, entschloß sich aber zu guter Letzt doch, mir zu willfahren. Die Kerze, die in der freien Luft noch viel mehr flackerte, hochhaltend, führte sie mich in den schmalen länglichen Hofraum, in dessen einer Ecke sich ein kleiner unverschlossener Schuppen befand, wo allerlei Gerätschaften aufbewahrt wurden. Wie ich schon beim Eintreten bemerkt hatte, besaß der Hof einen zweiten Eingang von hinten her.

In diesem Schuppen lehnte richtig ein Fahrrad an der Wand, das entschieden nicht neuester Konstruktion war. Ich beugte mich herab und untersuchte den Mechanismus, zog es aus dem Schuppen und rollte es in dem Gärtchen auf und ab. Die Räder bewegten sich mit Leichtigkeit und mußten unbedingt kürzlich geölt worden sein.

»Sie sagen, das Ding sei seit einem halben Jahr nicht gebraucht worden?« sagte ich.

»Nein, wer sollte es denn brauchen? Mein Sohn ist ja in London.«

»Und Herr Harvey fährt nicht?«

»Herr Harvey? Der Herr Vikar? Wahrhaftig, nein! Würde sich auch kaum schicken für seinen Stand, sollt ich meinen.«

»Nun darüber kann man verschiedener Ansicht sein, Frau Hopkins.«

Ich stellte das Fahrrad wieder an seinen Platz: daß es für sofortigen Gebrauch im Stand war, unterliegt keinem Zweifel.

»Und Herr Harvey besitzt einen Schlüssel zu diesem Eingang?« bemerkte ich, auf die Hinterpforte deutend.

»Ja; als er die Wohnung mietete, wollte er einen Hausschlüssel haben, den gab ich ihm aber nicht. Wir sind nur zwei Frauen im Haus und die Nachbarschaft ist gar einsam, so machten wir dann aus, er solle die hintere Thüre benützen, wo er an unsrem Schlafzimmer vorüber muß, und ich verriegle die vordere Hausthüre Schlag elf Uhr, ob er zu Hause ist oder nicht.«

Ich verstand; viel hatte die Geschichte übrigens nicht zu bedeuten, denn wenn er keinen Schlüssel gehabt hätte, wäre es ja eine Kleinigkeit gewesen, sich einen machen zu lassen.

Nachdem ich mich von Frau Hopkins verabschiedet hatte, sah ich mich nach einem Unterkommen für die Nacht um. Ich machte gar nicht den Versuch, ihr Schweigen aufzuerlegen, denn es wäre ja doch vergebens gewesen. Ueberdies war ich ja jetzt nah am Ziele und mußte den Mann, tot oder lebendig, bald in Händen halten.


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