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Neunzehntes Kapitel. Der Hauptschlüssel

Und so saßen wir von Mittag an bei einander, warteten den Abend ab und sprachen über den Mord. Von Zeit zu Zeit brachte ich auch einen andern Gegenstand aufs Tapet, aber es ging nicht; der Mord ließ uns nicht los.

Philipp erzählte mir, daß sein Verhältnis zu der Tante vielfachen Schwankungen unterworfen gewesen sei. War sie ihm böse gewesen, so hatte sie sehr hart sein können, war sie ihm gut gewesen, so hatte sie ihm große Zärtlichkeit gezeigt. Sie mußte eine heftige, leidenschaftliche Natur gewesen sein, die aber, wie mir aus einigen Zügen hervorging, im Grund ihres Herzens eine geheime Vorliebe für den Taugenichts von Neffen gehabt hatte, während sie es für Pflicht hielt, dem gesitteten und ehrbaren Bruder ihre Anerkennung zu zollen. Auch kam es mir vor, als ob Philipp trotz allem eine gewisse Zuneigung für die geizige, steifleinene alte Dame gehegt hätte, und er hatte entschieden das Talent gehabt, ihrer festverschlossenen Börse hie und da ganz artige Summen zu entlocken. Zum erstenmal erfuhr ich jetzt, daß die Tante ihr Testament bei jeder Gelegenheit als Trumpf gegen die Neffen ausgespielt hatte und abwechselnd einem jeden ihre Gunst zusicherte, um ihn ihren Wünschen gegenüber geschmeidig zu machen. Heute hieß es: »Wenn du dies oder jenes nicht thust, so setze ich Philipp in mein Testament«, und ein andres Mal: »ja, wenn dir's lieber ist, daß Austin jeden Heller bekommt, so« etc., und solche Wandlungen hatten sich oft an jedem Tage der Woche vollzogen. Das alte Fräulein hatte ein gefährliches Spiel getrieben und das Ende war – der Mord!

Trotzdem hatte jeder stillschweigend an der Ueberzeugung festgehalten, Austin, der ältere, sei der Erbe, und diese Annahme hatte sich als richtig erwiesen, und zwar kurz vor Fräulein Raynells jähem Ende. Als nämlich Austin um Ediths Hand warb, hatte Frau Orr-Simpkinson, die trotz ihrer schwachen Nerven eine kluge Geschäftsfrau sein mußte, die Entscheidung davon abhängig gemacht, ob der Freier sichere Aussicht aus Vermögen habe. Wäre Philipp Fräulein Raynells Erbe gewesen, so würde sie auch ihn in Gnaden aufgenommen haben, aber eine Liebelei zwischen ihm und Edith war wenige Tage, ehe das junge Mädchen Austin sein Jawort gab, plötzlich abgebrochen worden. Fräulein Simpkinson hatte mit Fräulein Raynell eine Unterredung unter vier Augen gehabt, in deren Verlauf die alte Jungfer durch Ueberrumpelung oder Schmeichelei dahin gebracht worden war, daß sie (und zwar schriftlich) das Bekenntnis ablegte, Austin sei ihr Erbe. Und offenbar war er es auch kraft ihres letzten Testaments – sie hatte deren mehrere gemacht.

»Ich glaube, dem armen alten Mädel hat es hernach leid gethan,« sagte Philipp, die Pfeife im Mund, »namentlich, weil es ihr ein Greuel war, von Frau Simpkinson überlistet zu sein. Fast glaube ich, daß sie mich – doch, das ist ja einerlei. Sie pflegte allerhand Drohungen auszustoßen und zu versichern, daß es zu guter Letzt doch nach ihrem Kopf gehen müsse.«

»Hat sie das wirklich gesagt?«

»O, gewiß, gewiß! Was aber meine Tante auch im Kopf gehabt haben mag, durchgesetzt hat Frau Simpkinson ihren Willen doch.«

Wieder trat eine Pause ein, in der wir weiterrauchten: in Gedanken kehrte ich zu meiner Nachfrage in dem Reiseartikelgeschäft zurück und fragte mich, ob es denn eigentlich hinreichend bewiesen sei, daß der Pariser Koffer Philipp Harvey gehöre?

»Wie kommt es denn, Herr Harvey,« fragte ich, »daß in den Geschäftsbüchern der Fabrik Ihr Einkauf nicht nachzuweisen ist?«

»Aus sehr einfachen Gründen,« erwiderte Philipp. »Ich hatte eine Annonce von Brown & Elder gelesen, und da der Artikel der Beschreibung nach genau das war, was ich haben wollte, trat ich, als ich gerade in der Nähe war, in den Laden, kaufte einen solchen Koffer, bezahlte ihn und nahm ihn in meiner Droschke mit.«

»Wann war das? Und wohin fuhren Sie mit dem Koffer?«

»Vor etwa zwei Monaten; ich fuhr direkt nach Greenwich, wo ich meine Wohnung hatte und noch habe.«

»Ein weiter Weg für eine Wagenfahrt,« bemerkte ich – Mißtrauen gehörte ja zu meinem Handwerk.

»Freilich, aber ich hatte noch mehr Einkäufe gemacht, und packte der Einfachheit halber alles in meine Droschke.«

»Und wie oft sind Sie seither mit dem Koffer gereist?«

»Nur zweimal. Das erste Mal von Greenwich nach Southend und dann von Southend nach Dover – so glaubte ich wenigstens. Als ich hier auspacken wollte, fand ich, daß der Schlüssel nicht ins Schloß paßte, dachte mir, es sei unterwegs verdorben worden, und ließ es aufbrechen. Der Koffer enthielt nichts, als einen photographischen Apparat, den ich sofort als Fräulein Simpkinsons Eigentum erkannte; ich ließ nun ein neues Schloß machen und schickte ihn ihr am nächsten Morgen nach. An meinen Bruder schrieb und telegraphierte ich, denn es war mir ganz klar, daß hier eine Verwechslung vorliegen mußte, weil Edith sich auf meine Empfehlung den nämlichen Koffer angeschafft hatte. Mir lag viel daran, daß sie gewisse Briefe, die ich in dem meinigen glaubte, nicht zu Gesicht bekommen solle, aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich keine Ahnung hatte, daß ich der Mörder meiner Tante war. Ich muß im Delirium gewesen sein.«

»Weshalb gerieten Sie denn in solche Aufregung, als ich Ihre Tante zuerst erwähnte?«

»Weil – weil die Angst nicht von mir weichen wollte, ich könnte sie verletzt haben. Meine Erinnerungen waren, wie Sie sehen, sehr undeutlich – daß ich sie gestoßen hatte, wußte ich noch, und seit jener Nacht hatte ich nichts mehr von ihr erfahren.«

»Und jetzt glauben Sie, das alte Fräulein getötet zu haben?«

»Was soll ich sonst denken?« erwiderte er im Flüsterton und ein Schauer überlief ihn. »Austin sagt es – Sie sagen es und zum Beweis sind die Bücher da.«

»An jenem Sonntag abend kann außer Ihnen und der Hauswirtin kein andrer Einlaß gefunden haben? Einen Hauptschlüssel hatte niemand?«

»Nein,« sagte Philipp.

»Fräulein Raynell besaß einen solchen; die Vermieterin selbst hat es mir gesagt.«

»Allerdings; sie machte gern Morgenspaziergänge und ging häufig aus, wenn noch alles schlief. Manchmal gab sie ihn auch mir abends mit.«

»Wo befand sich der Schlüssel in jener Nacht.«

»Bei mir,« versetzte er.

»Aber Sie zogen ja die Klingel als Sie heimkamen?«

»Ja – ehrlich gestanden, ich – ich war nicht mehr nüchtern genug, um mich des Schlüssels zu erinnern.«

»Wissen Sie trotzdem gewiß, daß Sie ihn bei sich hatten?«

»Natürlich; ich nahm ihn ja am andern Morgen aus meiner Westentasche, wo er immer seinen Platz hatte.«

Das vereitelte jede Möglichkeit, ihn zu entlasten!

»Und sind Sie ganz gewiß, daß auf andre Weise niemand in das Haus eindringen konnte? Hatte die Hausthüre eine Sicherheitskette?«

»Nein, eine Kette war nicht da, aber ein Doppelschloß. Der sogenannte Hauptschlüssel war überhaupt nur ein einfacher Hausschlüssel, ein andrer war gar nicht vorhanden.«

»Hm, hm! Am andern Morgen verließen sie also dann das Haus mit dem Leichnam Ihrer Tante, den Sie in Ihren Koffer gepackt hatten – daß Sie morgens nach dem Erwachen keinen Blick mehr in den Koffer warfen, dessen sind Sie natürlich ganz gewiß?«

»Vollkommen. Ich wollte ihn noch einmal aufmachen, konnte aber nirgends den Schlüssel finden; zuletzt entdeckte ihn Austin.«

»Und zwar wo?«

»Im Zimmer meiner Tante – wozu noch leugnen? Meine Schuld ist ja so wie so erwiesen.«

»Ihre Schuld ist bis zu einem gewissen Grade freilich bewiesen,« sagte ich. »Sie fuhren also dann mit dem Koffer von Southend nach London, trafen dort die Simpkinsons, und dann reisten alle vier, die beiden Damen, Ihr Bruder und Sie samt beiderseitigem Gepäck, unter dem sich zwei schwarze Koffer befanden, von Charing Croß nach Dover? Ist das richtig?«

»Nein. Austin brachte uns nur zur Bahn, und wir drei fuhren ohne ihn ab. Das Gepäck der Damen wurde in London direkt nach Paris aufgegeben; ich wollte nur in Dover ein paar Tage Luft schöpfen.«

»Und Sie erinnern sich, die Bücher in Ihren Koffer gepackt zu haben?«

»Ja; am Sonnabend hatte ich sie eingepackt, den Koffer aber unverschlossen gelassen. Sonntag abend machte ich den Deckel auf, um ein paar Briefe hineinzuwerfen, und sah die Bücher unberührt am selben Fleck darin liegen. Dann verschloß ich den Koffer und schnürte ihn mit einem Strick zu.«

»Was, Sonntag abend haben Sie ihn zugeschnürt?«

»Gewiß; wie ich es fertig gebracht habe, weiß ich selbst nicht mehr, aber es lag mir daran, daß kein Mensch die Briefe sehen sollte, die ich zuletzt noch hineingelegt hatte.«

»Sie sind nicht etwa links, Herr Harvey?«

»Nein. Weshalb?«

»Wer besorgte in Charing Croß die Gepäckaufgabe?«

»Ich, aber in großer Eile und Aufregung, denn wir waren sehr spät zur Bahn gekommen. Die Koffer wurden rasch hineingeworfen, und eine Verwechslung hat mit Leichtigkeit vor sich gehen können.«

»Weshalb und wann schrieben Sie jenes P. H. auf Ihren Koffer?«

Philipp Harvey sah mir überrascht ins Gesicht.

»Niemals hab ich ein P. H. auf meinen Koffer geschrieben,« erwiderte er. »Er war ja nicht gezeichnet, sonst wäre die Verwechslung nicht entstanden.«

»Sie haben auf die Kofferadresse ein P. H. geschrieben. Das gehört auch wohl zu den Dingen, die Sie in Ihrem Taumel vorgenommen haben?«

»Mit Bewußtsein that ich es jedenfalls nicht,« sagte Philipp, »aber ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich gethan oder nicht gethan habe. Ich weiß kaum mehr, ob ich überhaupt ich bin.«

Ich ging hinunter in mein Zimmer, holte das Facsimile der Anfangsbuchstaben auf Philipps Koffer, sowie seine Visitenkarte aus Fräulein Simpkinsons Kamin, seinen Brief an den Bruder und des Bruders Brief an ihn und nahm alles mit mir hinauf.


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