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Vierzehntes Kapitel. Beim alten Mohren

Noch eins hatte ich mir aus Frau Jessops Redestrom herausgefischt – Philipp mußte an jenem Sonntag abend mehr Wein getrunken haben, als ihm zuträglich war.

»Und ist dieser Philipp vielleicht links, Frau Jessop?« fragte ich plötzlich, während ich schon im Gehen begriffen war.

»Könnte es wirklich nicht sagen, mein Herr – hm hm – habe nie darauf acht gegeben.«

»Und Sie, Fräulein Polly?«

Polly wußte es gleichfalls nicht, es erschien ihr aber unwahrscheinlich.

»Und was soll ich sagen, wenn Fräulein Raynell wieder kommt?« fragte die Hauswirtin noch. »Auf welche Weise – hm hm – soll ich es Ihnen zu wissen thun?«

»Schreiben Sie an Herrn Austin,« rief ich ihr zu, und rannte hastig die Stufen hinunter – die Harmlosigkeit, mit der diese Frau die Ermordete als lebend behandelte, ging mir auf die Nerven.

Auf der Rückfahrt war ich keineswegs niedergeschlagen, befand mich im Gegenteil in gehobener Stimmung. Ich fürchte, ich gehöre zu den sanguinischen Naturen, aber auch ein minder leicht erregbarer Mensch hätte einräumen müssen, daß ich ungeheure Fortschritte gemacht hatte, und der Vorsprung, den ich nun vor der englischen und französischen Polizei hatte, machte es höchst unwahrscheinlich, daß sie mich einholen konnten, wenn sie mir auch zweifelsohne auf dem Fuß folgen würden. Die einzige Aufgabe, die mir noch zu lösen blieb, war, den Aufenthalt des Mörders zu entdecken.

Frau Jessop hatte mich versichert, daß Fräulein Raynells Bett in der letzten Nacht, die sie im Hause zugebracht, benützt worden sei, und dies veranlaßte mich zu der Annahme, daß der Mord erst Montag in aller Frühe und nicht, wie die französischen Aerzte gemeint hatten, Sonntag abend verübt worden sei.

Es stand nun ganz deutlich vor mir, daß dieser Philipp Harvey am Sonntag entweder wirklich betrunken nach Hause gekommen war, oder den Betrunkenen gespielt hatte. Er war auf sein Zimmer gegangen, hatte die Nacht dort zugebracht und war zu früher Morgenstunde bei seiner Tante eingedrungen, die aber schon aufgestanden und angekleidet gewesen war. Möglich, daß Fräulein Raynell auch ihr gewohntes Glas Milch selbst getrunken hatte. Der Neffe hatte sie zu Boden gestreckt und dann mit Chloroform betäubt, wobei ihm seine medizinischen Kenntnisse zu statten gekommen waren; dann hatte er die Leiche in seinen angeblichen Bücherkoffer gepackt und auf diese Weise nach der Bahn geschafft, wo ein wundersames Mißgeschick den Koffer unter Fräulein Simpkinsons Gepäck hatte geraten lassen. Der übrige Teil des schauderhaften Dramas hatte sich dann vor meinen Augen abgespielt.

Das war jetzt – am Freitag nach dem Mord – meine Theorie über denselben.

Ich sagte vorhin, daß nunmehr meine einzige Aufgabe gewesen sei, den Ausenthalt des Mörders zu entdecken. Dabei habe ich jedoch einen andern Punkt übersehen – noch waren mir die Motive der That unbekannt, und so lange ich die Veranlassung einer Handlung nicht kenne, muß ich sie als unerklärlich betrachten.

Aus Frau Jessops Mitteilungen hatte ich nichts darüber erfahren können. Das alte Fräulein war nicht schwatzhafter Natur gewesen, und die Wirtin wußte nicht das Geringste über das Vorleben ihrer Mieterin. Darüber konnte nur der Mörder selbst mich aufklären, und ich beschloß, noch diesen Abend nach Dover zu fahren. Es war mir in meiner jetzigen Stimmung zu Mut, als könnte ich bei jedem Versuch mit Sicherheit auf Erfolg rechnen.

Philipp Harvey war am Dienstag in Dover gewesen, das ging aus seinem Brief hervor, und aller Wahrscheinlichkeit nach war er noch dort, denn er wartete ja mit Angst und Pein auf seinen Koffer, den sein Bruder ihm nicht schicken konnte.

Ob Austin ihm eine Warnung zugehen lassen würde? Die Frage war schwer zu beantworten. Es war mir aufgefallen, daß er mir in jener ersten Unterredung in der »Pension«, der man Fräulein Simpkinson anvertraut hatte, die Angabe gemacht, seine Tante habe in Nro. 17 der Strandparade allein gewohnt. Offenbar hatte er es nicht für nötig erachtet, seines Bruders Aufenthalt im nämlichen Hause zu erwähnen, vielleicht nur deshalb nicht, weil dieser kein ständiger Bewohner, sondern nur zeitweiliger Gast war. Es war ja auch ganz natürlich, daß Austin sein Möglichstes that, den Bruder vor dem Galgen zu retten, dem er freilich nicht entgehen würde – ich brauchte die Schlinge, die ich ihm schon um den Hals gelegt, ja nur zuzuziehen.

In der Eisenbahn nahm ich Philipps Brief aus meinem Notizbuch und las ihn wieder und wieder in dem Bestreben, irgend eine Andeutung über seinen Aufenthalt zu finden.

»Am bekannten Platz, bei dem alten Mohren,« das war alles.

»Der Mohr« war vermutlich nicht im buchstäblichen Sinne zu verstehen! sollte es sich aber zufällig wirklich um einen Schwarzen handeln, so würde das meine Aufgabe wesentlich erleichtern, denn in der Regel wimmelt es in Dover nicht von Negern. Es war aber weit wahrscheinlicher, daß der Mohr irgend ein Scherzname oder eine nur dem Bruder verständliche Anspielung bedeutete. Jedenfalls mußte ich einmal auf gut Glück nach Dower fahren.

Noch ein andrer Punkt war mir dunkel geblieben Philipp Harvey war mit dem schwarzen Koffer, der den Leichnam seiner Tante enthielt, von Southend nach London gefahren. Weshalb fand sich auf dem Koffer, der in London sofort nach Paris aufgegeben worden, keinerlei Spur der vorhergehenden Reise dorthin, keinerlei Gepäckzettel, der die Bezeichnung »London« allein oder von »Southend nach London« getragen hätte.

* * *

Ich fuhr nicht direkt nach Dover, sondern stieg in London aus und begab mich auf mein Büreau, worüber ich nachher sehr froh war, denn ich fand dort einen Brief von Austin Harvey an mich vor. Er war morgens angekommen, als ich mich eben nach Southend begeben hatte.

»Geehrter Herr,« so lautete das Schreiben, »es kommt mir immer mehr und mehr zum Bewußtsein, daß, seit meine vermessene Thorheit, oder, wie es scheinen will, Gottes strafende Vorsicht uns in Ihre Hand gab und uns Ihrer Barmherzigkeit anheimstellte, all meine Versuche, Ihnen die Wahrheit vorzuenthalten, sehr thöricht und unklug waren. Sie wissen zu viel. Jedenfalls aber wissen Sie genug, um würdigen zu können, welche Angst mich irre geleitet hat. Doch bin ich jetzt entschlossen, meine Pflicht zu thun, was auch immer daraus entstehen möge.

»Und verurteilen Sie mich nicht, wenn ich nach heißem innerem Kampf zu der Entscheidung gelangt bin, mein Gewissen befehle, oder vielmehr gestatte mir, einen Menschen, der mir nahe steht und teuer ist, vor einem grauenvollen Schicksal zu bewahren. Ich muß ein Bekenntnis meiner That ablegen und ihre Folgen tragen. Unmittelbar nach meiner Unterredung mit Ihnen habe ich an ›Philipp‹ telegraphiert, ihn gewarnt und ihm zur Flucht geraten, und ich hoffe, daß er sich jetzt in Sicherheit befindet. Wenn ich unrecht that, so sei Gott mir gnädig – ich konnte nicht anders.

»Gehen Sie nicht nach Dover, es wäre völlig nutzlos; Sie finden dort niemand. Ich zweifle nicht, daß Sie jetzt die eine Hälfte dieser trostlosen Geschichte schon kennen, die andre – wozu soll ich mich noch weiterem Selbstbetrug hingeben? – harrt Ihrer in Southend. Sie wissen das so genau, wie ich selbst. Ich werde in Paris bleiben und die ferneren Ereignisse hier abwarten. Vergessen Sie nicht, bei meiner Beurteilung meine qualvolle Lage mit in Betracht zu ziehen. Der Himmel sei uns allen gnädig.

Austin Harvey.«

Nachdem ich das gelesen hatte, nahm ich meinen Hut, ging schnurstracks nach Charing Croß und nahm eine Fahrkarte nach Dover.

Das einzige, was mich für den Augenblick ernstlich beschäftigte, war die Frage, wo Philipp Harvey sich aufhielt, oder sich während seines Aufenthalts in Dover aufgehalten hatte. Ich riet immer an dem »alten Mohren« herum, konnte aber natürlich zu keinem befriedigenden Schluß gelangen.

Als ich, in Dover angekommen, den Bahnsteig entlang ging, fiel mir plötzlich ein großes Brett mit allerlei Anschlägen und Ankündigungen in die Augen. Mitten heraus grinsten zwei beturbante Mohrenköpfe, welche das Schild eines kleinen Gasthauses namens: »Das Sarazenenhaupt« vorstellten.

Ich nahm nun eine Droschke und befahl dem Kutscher, mich nach irgend einem Gasthaus zu bringen, wo Geschäftsreisende zu verkehren pflegen. Obwohl ich schon etliche zwanzigmal durch Dover gekommen war, hatte ich mich nie dort aufgehalten und kannte die Lokale ganz und gar nicht, nur daß der »Lord Warden« ersten Rangs und sehr teuer war, wußte ich zufällig. Während der Wagen der Stadt zufuhr, kam mir die in die Augen fallende Annonce wieder in den Sinn, und ich streckte den Kopf zum Fenster hinaus, um den Kutscher nach dem »Sarazenenhaupt« zu fragen.

Er kannte es wohl; es war ein besuchtes Wirthshaus mit Schankstube, ein Restaurant bescheidener Art, in dessen Oberstock auch Zimmer zum Uebernachten abgegeben wurden.

»Das paßt mir gerade,« sagte ich, und der Mann lenkte sein Gefährt dorthin.


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