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Zehntes Kapitel. Der Brief

Nun setzte ich mich und legte das kostbare Schriftstück vor mich auf den Tisch, nicht ohne vorher meine Thüre wieder verriegelt zu haben, aus Furcht, der stürmische Pastor könnte sich einfallen lassen, noch einmal mit mir anzubinden. Dann las ich den Brief aufmerksam durch, und als ich damit zu Ende war, las ich ihn noch einmal. Kaum konnte ich fassen, daß ich ein solch weittragendes Dokument von zweifelloser Echtheit in Händen hielt und daß ich nun im Besitz der Thatsachen war, die darin enthalten waren. Der Inhalt des merkwürdigen Schreibens war folgender:

»Mein lieber Austin!

»Ich bin in Verzweiflung und weiß nicht, was ich beginnen soll. Du mußt mir beistehen. Durch irgend einen Mißgriff der Gepäckträger muß, als wir von Charing Croß abfuhren, mein Koffer mit dem Fräulein Simpkinsons verwechselt worden sein. Du weißt, wir hatten ganz die nämlichen, und das Gepäck lag alles auf einem Haufen. Austin – sie darf meinen Koffer nicht aufmachen. Wenn sie es thut, so bin ich verloren. Ich habe Dir nach Southend telegraphiert, und man antwortete mir, Du seiest in Paris. Weshalb? Was ist geschehen? Ihre Pariser Adresse kenne ich nicht. Ums Himmels willen, sorge, daß sie meinen Koffer nicht anrührt. Schicke ihn mir zurück; ich sende den ihrigen. Besorge die Sache sogleich; ich werde am bekannten Platz beim alten Mohren darauf warten. In höchster Spannung

Dein Philipp.

» P. S. Schicke den Koffer umgehend zurück. Sie darf unter keinen Umständen hineinsehen. Stehe mir bei.«

Das war also die ausgiebigste Bestätigung meiner Theorie, die Austin Harvey schon als richtig bezeichnet hatte, und aus dieser Mitteilung ging hervor, daß die Verwechselung eine zufällige und keine absichtlich herbeigeführte gewesen. Wie wunderlich doch die Wege der Vorsehung zuweilen sind, zumal wo es sich um Entdeckung eines Verbrechens handelt. Ein Gedräng auf dem Bahnhof, eine kleine Unordnung im Gepäckverladen, eine Zolluntersuchung, das genügt, und ein kunstvoll entworfener und sorgfältig ausgeführter Plan ist zu Schanden gemacht.

So philosophierte ich wohlgefällig in der festen Ueberzeugung, nun alles Dunkel gelichtet und den Schlüssel des Geheimnisses in Händen zu haben, während ich in Wirklichkeit der Wahrheit so fern war, als nur je!

Der Eigentümer des Koffers hieß also Philipp. Ich suchte in meiner Brieftasche den kleinen Papierstreifen, auf dem ich die zwei Buchstaben von der Kofferaufschrift »Greenwich nach Southend« nachgebildet hatte, und legte ihn neben den Brief, um das P aufs Sorgfältigste mit dem der Unterschrift zu vergleichen.

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Wenn ich die Schriftzüge so ansah, wie sie unmittelbar nebeneinander lagen, hatte ich nicht den leisesten Zweifel, daß der Philipp des Briefes und das P des Kofferzettels ein und derselben Hand entstammten. Ich suchte nun auch nach einem großen H und fand eines im Worte »Himmel«, ich legte die nebeneinander.

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Nach dem Familiennamen brauchte ich nicht zu suchen; der Verfasser des Briefes hieß Philipp Harvey, der Besitzer des schwarzen Koffers war Philipp Harvey, ein naher Verwandter Austin Harveys, und aller Wahrscheinlichkeit nach der Mörder Fräulein Raynells.

Wahrhaftig, ich hatte alle Ursache, mit den Fortschritten, die ich seit vorgestern gemacht hatte, zufrieden zu sein. Das Verbrechen war offenbar in der Nacht vom Sonntag auf Montag begangen worden; Montag abend halb sieben Uhr hatte ich die erste Kunde davon erhalten. Jetzt war es Mittwoch früh; es waren also kaum achtundvierzig Stunden vergangen, seit ich damit in Berührung gekommen war. Damals hatte ich gar nichts gewußt, jetzt kannte ich den Namen des Opfers, den Ort der That, viele einzelne Umstände, die unmittelbar daraus hervorgegangen waren, und sogar den Namen und zeitweiligen Aufenthalt des mutmaßlichen Mörders.

Es war mir nun ganz klar, daß Fräulein Simpkinson von dem Verbrechen erst Kenntnis erhalten hatte, als der Koffer, den sie irrtümlich für den ihrigen hielt, auf dem Zollamt eröffnet worden war. In diesem Augenblick mußte sie sofort erkannt haben, daß der Koffer nicht ihr gehörte, oder daß irgend etwas mit ihm vorgegangen war. Welche Gründe sie hatte, um so fraglos den wahren Schuldigen zu ahnen, konnte ich natürlich nicht wissen, aber sie hatte offenbar richtig geraten, und ihre erste Regung war gewesen, den Mann, der zur Familie ihres Verlobten gehörte, vielleicht dessen Bruder war, zu schirmen und zu schützen.

Das Mädchen besaß Mut und Geistesgegenwart, das mußte man ihr zugestehen, aber ich muß sagen, die Mutter mit ihren Ohnmächten und ihrem Entsetzen war mir lieber; es war mehr Natur darin.

Die Frage, die sich nun in den Vordergrund drängte und in Angriff genommen werden mußte, war natürlich: »Wie und weshalb ist die That verübt worden?«

Diese Frage konnte nur in England und womöglich durch Philipp Harvey selbst Beantwortung finden.

Ich telegraphierte an meine Vorgesetzten und richtete mich ein, Paris in der Nacht zu verlassen; die beiden Kinder im Grand Hotel konnte jeder grüne Neuling überwachen. Ich hatte im Sinn, nach London zu fahren, auf meinem Büreau Meldung zu machen, Gewißheit über den Koffer einzuholen und dann nach Dover zu gehen und dort den Hebel anzusetzen. Philipp Harvey stand nun im Mittelpunkt all meines Denkens. Dieser Philipp! Ich mußte ihn ausfindig machen und mehr von ihm erfahren, und zwar mußte das geschehen, ehe sein Bruder Zeit und Gelegenheit hatte, ihn zur Flucht zu veranlassen. Großer Gott – konnte er das denn nicht jetzt schon gethan haben?

Ich reiste im Flug nach England, aber nie war mir ein Bahnzug so unerträglich langsam, nie ein Schiff so flügellahm und träge vorgekommen.


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