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Vierundzwanzigstes Kapitel. Sein Alibi

In London trennten sich unsre Wege; er mußte zu seinem Hirtenamt zurückkehren, denn man hatte ihm nur widerstrebend für den Sonntag Urlaub erteilt, und ich sollte in London Nachricht über Philipps Einschiffung abwarten.

»Ein Auslieferungsvertrag besteht nicht,« hatte Austin in der Bahn gesagt, »und sobald wir ihn drüben in Sicherheit wissen, wollen wir den Hergang in all seinen Einzelheiten veröffentlichen. Die That ist ja kaum als Totschlag zu bezeichnen, und es wird weit klüger sein, einfach die Wahrheit zu bekennen, als immer hinterm Berg zu halten.«

»Diese Mühe wird die Polizei Ihnen wohl abnehmen,« hatte ich erwidert. »Der Staatsanwalt wird die Anklage gegen Ihren Bruder längst öffentlich erhoben haben, wenn er in Montevideo landet.«

»Ja, was sollen wir denn in diesem Fall beginnen?«

Ich blieb ihm die Antwort schuldig, weil ich nicht wußte, was sagen und denken, und weil ich mir dieselbe Frage immer selbst vorlegte! Je schärfer ich ihn beobachtete, desto mehr überzeugte ich mich, daß er nicht im eigentlichen Sinn des Wortes links war, offenbar war diese Eigentümlichkeit ihm von Knabenzeiten zurückgeblieben, er hatte die ungeschickte Gewohnheit aber nahezu überwunden, und nur wenn er erregt war, trat sie wieder zu Tage. Daraus erklärte sich auch, daß mir die Sache nicht schon bei unsrem ersten Zusammensein aufgefallen war. Auf dem Londoner Bahnhof nahmen wir Abschied voneinander, und ich suchte meine Wohnung auf mit dem Bewußtsein, daß ich fürs erste nichts zu thun hatte, und doch nicht ruhen konnte und durfte, bis ich die Wahrheit gefunden hatte. Konnte Austin Harvey seine Tante ermordet haben? Wann und wo? War es nicht vollständig bewiesen, daß Fräulein Raynell und Philipp Harvey in jener Nacht im selben Hause geschlafen hatten, und daß der Koffer mit dem Leichnam Montag früh herausgeschafft worden war? Austin hatte seinen Bruder vor dem Frühstück aufgesucht, aber es stand unumstößlich fest, daß der Mord um diese Zeit längst begangen war. Das Geheimnis war undurchdringlicher als je, und fast verzagte ich daran, es jemals aufzuklären.

Trotzdem arbeitete ich mit zähem Eigensinn an der Lösung des Rätsels fort, so gut es gehen wollte.

Meine Schuld war es nicht, wenn ich von Anfang an auf dem Holzweg gewesen. Was der Augenschein beweisen konnte, hatte auf Philipp Harvey gedeutet, und keine Menschenseele, weder Philipp selbst noch Fräulein Simpkinson, noch weniger die Behörden, hatten auch nur einen Augenblick den Geistlichen im Verdacht gehabt. Solcher Verdacht hatte jeder Begründung entbehrt, und entbehrte ihrer noch – wie kam ich nur dazu?

Es wird sich kaum in Abrede ziehen lassen, daß Austin Harvey, wenn er wirklich der Mörder seiner Tante wäre, auch einer der durchtriebensten Komödianten und vollendetsten Schurken im vereinigten Reich von Großbritannien und Irland sein müßte, denn er hatte ja offenbar nicht nur mich, sondern auch Philipp selbst davon zu überzeugen gesucht, daß er der Schuldige sei. Er hatte planmäßig und mit großer Umsicht dem durch Trinken geschwächten Geist seines Bruders die Theorie von einem unbeabsichtigten und fast unbewußten Verbrechen einzuflößen verstanden, und da alle Umstände ihm günstig waren, und er Beweismittel zur Hand hatte, war ihm dies verhältnismäßig leicht geworden. Ich konnte mir erklären, auf welche Weise es ihm gelungen war, derart auf Philipp einzuwirken, aber wie er Gelegenheit gefunden hatte, das Verbrechen zu begehen, war mir noch völlig dunkel. Ueber die Motive dazu, die bei Philipp so rätselhaft gewesen waren, konnte hier kein Zweifel obwalten. Austin mußte Grund gehabt haben zu der Annahme, seine Tante könnte ihre Anordnungen so treffen, daß schließlich doch eine Heirat zwischen seinem Bruder und Edith zu stande käme. Die Lesart, daß Philipp das alte Fräulein im Zorn erschlagen habe, war mir nie sehr einleuchtend erschienen. Aber gar ein Geistlicher, und solch ein liebenswürdiger, offenherziger Mann mit ehrlichen, klaren Augen und der gewinnenden Stimme – nein, ich mußte entschieden einen unwiderleglichen Beweis in Händen halten, ehe ich auch nur mich selbst überzeugen konnte, daß ich nicht abermals auf falscher Fährte war. Auf der andern Seite empfand ich mit gleicher Stärke, daß, wenn mein Verdacht zutraf, der Schurke mir nicht entwischen durfte, denn berechtigteren Anspruch auf den Galgen hatte noch nie ein eingefleischter Verbrecher gehabt. Es galt, ausfindig zu machen, wo Austin Harvey die Nacht vom Sonntag auf den Montag zugebracht hatte, sein Alibi mußte festgestellt werden. War er unschuldig, so war dies die leichteste Sache von der Welt, bis sie aber im Reinen war, fand ich weder Ruhe noch Schlaf.

* * *

Ich beschloß, sofort nach Southend aufzubrechen. Morgens sechs Uhr war ich in London angekommen und hatte mich aufs Bett geworfen, um noch ein paar Stunden zu ruhen, nun fuhr ich wieder auf, und um zehn Uhr war ich unterwegs nach der kleinen Stadt. An Austin Harvey hatte ich telegraphiert, er möchte mich um fünf Uhr bei sich erwarten – auf diese Weise hatte ich mir einige Stunden zu freier Verfügung gesichert. Ihm meine Ankunft gar nicht zu melden, wäre unvorsichtig gewesen, denn eine zufällige Begegnung auf der Straße hätte ihm ja dann verdächtig erscheinen müssen.

Sobald die Depesche fort war, sagte ich mir, daß ich einen dummen Streich gemacht habe – ich erwähne diese Einzelheit, weil ich alles so genau und eingehend wie möglich wiedergeben möchte – und überlegte mir, daß der Ausgangspunkt für meine Nachforschungen in Southend durchaus Austins eigene Wohnung und nächste Umgebung sein mußte. Demnach war es wünschenswert, ihn selbst von dort zu entfernen, statt ihn zu warnen und ihn zu veranlassen, das Haus zu hüten. Sofort ließ ich denn auch ein zweites Telegramm abgehen, in dem ich ihn bat, in einer wichtigen Angelegenheit nach London zu kommen, und im Fall meiner notgedrungenen Abwesenheit bis zehn Uhr abends in meiner Wohnung auf mich zu warten.

Daß ich bis um diese Zeit wirklich wichtige Dinge mit ihm abzuhandeln haben werde, darüber hatte ich keinen Zweifel mehr. Auf einer Zwischenstation stieg ich aus und wartete, bis der Zug vorüber war, in dem Austin aller Wahrscheinlichkeit nach nach London fahren mußte, stieg dann in den nächsten wieder ein und war nachmittags drei Uhr in Southend.

Die Adresse des Vikars an der Marienkirche aufzutreiben, war ein Kinderspiel, der erste beste Dienstmann an der Bahn zeigte mir die Kirche, und von der Kirche wies man mich sofort nach seiner Behausung. Es fiel mir gleich auf, daß er ziemlich entlegen wohnte, und doch ahnte ich in jener Stunde nicht, welch bedeutsame Rolle die Frage der räumlichen Entfernung hier spielen sollte. Rüstig ausschreitend, erreichte ich das Haus in zehn Minuten, im ganzen war ich jedenfalls eine halbe Meile gegangen. Die Straße, in der er wohnte, hieß Delacy Crescent, die Zimmervermieterin Frau Hopkins.

Ich muß um Entschuldigung bitten, daß ich eine dritte Dame dieser Gattung hier einführe, aber es ist wirklich nicht meine Schuld, daß zur Zeit der That sämtliche Beteiligten zufällig in möblierten Zimmern wohnten, Fräulein Raynell selbst, die Brüder Harvey und Frau und Fräulein Simpkinson. Ich hatte es also auf Schritt und Tritt mit Vermieterinnen zu thun, und das hätte mir unter Umständen sehr zu gute kommen können, wenigstens ist es in den frei erfundenen Kriminalgeschichten immer der Fall, bei mir aber traf es tatsächlich nicht zu.

Ich fragte nach Herrn Austin Harvey und erhielt, wie ich erwartet hatte, die Antwort, er sei ausgegangen. Auf eine weitere Nachfrage nach seiner etwaigen Rückkehr erfuhr ich, daß er zwei Depeschen erhalten hatte und nach Empfang der zweiten sofort ausgegangen war. So weit stimmte alles.

Natürlicherweise verspürte Frau Hopkins in Beziehung auf die Telegramme einige Neugierde und ich bedauerte sehr, ihr keine Aufklärung geben zu können. Dagegen erkundigte ich mich mit vorsichtigem Tasten nach dem Herrn Vikar und hörte, daß er im vollen Sinne des Wortes ein »Muster« sei, sowohl als Geistlicher wie als Mieter, dabei »ein feiner Herr und so hübsch und seelengut«. Wenn er eine Schwäche hatte, so war es die für das schöne Geschlecht. »Ganz ein Mann für die Damen,« sagte Frau Hopkins, »wie es sich für einen Pfarrer gebührt.«

Die Frage nach den Lebensgewohnheiten des jungen Theologen stand mir, so wichtig sie auch erscheinen mag, vorderhand noch in zweiter Linie, und der eigentliche Kernpunkt war, ob es bewiesen werden konnte, daß Austin Harvey die Nacht vom Sonntag auf den Montag in seinem Zimmer zugebracht hatte. Wenn dem so war, fing meine Arbeit wieder von vorne an.

Frau Hopkins war eine gastfreundliche Seele; sie führte mich in ihre gute Stube, setzte mir ein Glas Johannisbeerwein und einige Biskuit vor und machte mich mit ihrer Tochter Lucy bekannt, einer jungen Dame von neunzehn Jahren mit hellblonden Stirnlöckchen und einer kecken Stumpfnase. Ich freute mich ungemein, diese Bekanntschaft zu machen, denn ich vermutete, das Fräulein könnte mir von Nutzen sein, trotz alledem rückte ich aber nur langsam vom Fleck und fand bald, daß es ganz unmöglich war, etwas zu erreichen, wenn ich mich nicht offen aussprach, wie ich es bei der Frau, in deren Haus der Mord geschehen war, auch gethan hatte. Weshalb auch nicht? Die ganze Sache mußte sich heute aufklären; vierundzwanzig Stunden später würde Austin Harvey jedes Wort, das ich mit seiner Wirtin wechselte, erfahren, aber innerhalb dieser vierundzwanzig Stunden mußte ich Gewißheit erlangen, ob er der Mörder war oder nicht.

»Frau Hopkins,« sagte ich, »Sie sehen in mir einen Fahnder. Wie Ihnen bekannt ist, wurde ein Fräulein Raynell hier ermordet und Herr Harvey ist der Erbe dieses Fräuleins. Wahrscheinlich hat er mit dem Verbrechen ganz und gar nichts zu thun, aber um das zu beweisen, müssen wir genau feststellen können, daß er in der Nacht, in der die That geschehen ist, das Haus nicht verlassen hat.«

Frau Hopkins brauchte ein paar Sekunden, um sich von der ersten Bestürzung zu erholen, sobald sie aber wieder zu Atem gekommen war, brach sie in einen Strom von Beteuerungen aus, dem ich ruhig seinen Lauf ließ. Endlich legte sich der Sturm so weit, daß ich folgende Thatsachen feststellen konnte: Austin Harvey hatte am Sonntag den Abendgottesdienst gehalten; er hatte gepredigt und Frau Hopkins sowie Lucy waren in der Kirche gewesen. Um halb acht Uhr war der Gottesdienst zu Ende gewesen, hernach aber wurde in der Schule noch eine Missionsversammlung abgehalten und Lucy hatte auch dieser beigewohnt. Um halb zehn Uhr oder ein paar Minuten später war auch diese beendigt worden, und das junge Mädchen war kurz vor zehn Uhr nach Hause gekommen. Das wußten Mutter und Tochter ganz bestimmt und ebenso genau erinnerten sie sich, daß Austin kurz nach ihr angelangt war. Er hatte an der vorderen Hausthüre geklingelt und Frau Hopkins selbst hatte ihn eingelassen, wobei ihr aufgefallen war, daß er müde und abgespannt und recht blaß ausgesehen hatte. Auf der Treppe hatte er zu ihr gesagt: »Ich bin aufgehalten worden; einige aus der Versammlung wollten noch etwas mit mir besprechen, sonst hätte es mir Freude gemacht, Ihre Fräulein Tochter heim zu begleiten. Es ist doch noch nicht halb elf Uhr, oder?« hatte er hinzugesetzt, und Frau Hopkins hatte nach der Wanduhr im Vorplatz gesehen und erwidert: »gleich wird es schlagen,« und im selben Augenblick hatte die Uhr auch zum Schlag ausgeholt. Sie erinnerte sich dieser Einzelheiten so besonders deutlich, namentlich auch deshalb, weil nachher des Mordes halber so viel von jener Nacht die Rede gewesen. Herr Harvey hatte dann noch gesagt: »nun gute Nacht, ich bin sehr müde,« war hinaufgegangen und hatte seine Schlafzimmerthüre hinter sich abgeschlossen.

Das war eine große Enttäuschung. Aller Wahrscheinlichkeit nach war der Mord zu Anfang der Nacht begangen worden, noch ehe die alte Dame begonnen hatte, sich auszukleiden. Daß ihr Bett anscheinend benutzt gewesen und das Milchglas geleert war, machte mich in dieser Annahme durchaus nicht irre, denn ich sah darin nur ein absichtliches Bestreben, falsche Vermutungen hervorzurufen. Die That war nicht am Morgen geschehen, sie mußte demnach vor Mitternacht ausgeführt worden sein.

War Austin darein verwickelt, so mußte er seine Wohnung in der Nacht noch einmal verlassen und sich nach der Strandpromenade begeben haben. Nun wußte ich aber schon, wenn ich die Entfernung auch noch nicht genau ausgemessen hatte, daß wenn Austins Wohnung eine halbe Meile von der Kirche war, das Haus an der Strandpromenade jedenfalls noch eine ganze Meile weiter entfernt sein mußte. Die Marienkirche und noch mehr das Haus, in dem der Vikar wohnte, lagen völlig außerhalb der Stadt und es war unmöglich, daß er in knapp drei Viertelstunden zur Wohnung seiner Tante und wieder zurück gekommen wäre.

»Das alles beweist gar nichts,« sagte ich, »was ich wissen muß, ist, ob er die Nacht über in seinem Zimmer war.«

»Ja, das versteht sich doch,« gab mir Frau Hopkins mit Entrüstung zurück, »und wo sollte denn sonst ein feiner Herr seine Nacht zubringen, bitte? Und wie können Sie sich unterstehen, hierher zu kommen und solche Dinge zu fragen? Uebrigens kann ich Ihnen zufällig ganz genau sagen, wie er jene Nacht verbracht hat. Um elf Uhr ging ich hinauf in mein Schlafzimmer, und als ich an seiner Thüre vorbeikam, hörte ich ihn drin auf und ab gehen, was sonst nicht seine Art war. Ich klopfte an und fragte, ob er noch etwas wünsche. ›Entsetzliche Zahnschmerzen lassen mich nicht einschlafen,‹ sagte der Herr Vikar, und man sah es ihm wohl an, daß er Schmerzen hatte, er war ganz bleich und auf seiner Stirne stand der Schweiß. Da ging ich rasch in die Küche und machte Kräutersäckchen zurecht, das hat meinem seligen Mann immer geholfen, und zeigte ihm, wie er sie auflegen sollte. Dreimal bin ich dann noch aufgestanden und habe nachgesehen, ob die Säckchen auch ordentlich heiß waren, und als ich zum drittenmal kam, da war er ganz fest eingeschlafen, der arme Herr!«

Frau Hopkins war sehr empört über meine Verdächtigung dieses unschuldigen Opferlammes, und ich stand auf und empfahl mich, da doch nichts Weiteres aus der Frau herauszubringen war und ihre letzte Mitteilung mir den Boden unter den Füßen weggezogen hatte.

In der wunderlichsten Stimmung ging ich die hochgelegene Straße hinab. Austin Harveys Alibi schloß jede Möglichkeit seiner Beteiligung an der That aus, das sagte ich mir klar, und doch war meine innere Gewißheit, daß er der Mörder sei, nie stärker gewesen als gerade jetzt.


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