Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einundzwanzigstes Kapitel. Noch einmal der Koffer

Am selben Abend noch fuhren wir über den Kanal, und zwar ohne Austins Rückkehr abgewartet zu haben. Er mußte irgendwie aufgehalten worden sein, genug, die Abfahrtszeit des Schiffes rückte heran, ohne daß er erschienen wäre, und ein längeres Warten hätte ich für unvorsichtig gehalten. Die Polizei konnte sich jeden Augenblick Philipps bemächtigen, und so bewog ich ihn, mit mir abzureisen. Ich selbst wußte nun gar nicht mehr, wo aus und ein. Von Anfang an war mein ganzer Verdacht auf dieses P und H gegründet gewesen, und zwar so fest, daß für einen Zweifel gar kein Raum blieb. Jetzt erst legte ich mir die Frage vor, ob ich nicht auf gänzlich falscher Fährte sein könnte, und Philipp Harvey vollkommen unschuldig. Wer dann an seine Stelle zu setzen wäre, das wußte ich freilich nicht.

Ganz verbohrt starrte ich immer bald auf die Buchstaben, bald auf den Kofferzettel, den ich in Austin Harveys Ueberrock gefunden – wie war er dorthin gekommen? Was lag eigentlich daran? Die Frage, »wer ist der Mörder?« blieb ja doch immer noch offen. Nach einer Woche eifrigen Forschens und anscheinend großen Erfolgs war mir die Lösung ferner gerückt als je. Die Ueberfahrt war unsäglich peinlich; denn Philipp in seiner nervösen Aufregung sah überall nur Spione und Fahnder und ich hatte alles aufzubieten, daß er sich nicht ein dutzendmal bei ganz harmlosen Leuten, die über solch unverhofften Fang in Verlegenheit geraten wären, verriet. Ich selber hatte mich rasch überzeugt, daß er noch nicht überwacht wurde, und fürchtete nur, er könnte durch eigne Schuld die Bluthunde auf seine Spur bringen. Mir lag alles daran, ihn aus dem Land zu schaffen, denn ich mußte mir ja sagen, daß ungeachtet meiner persönlichen Zweifel, der Schein völlig gegen ihn sprach, und dann fragte ich mich wieder plötzlich, ob ich nicht schließlich doch dem wirklichen Mörder zur Flucht verhelfe – kurz und gut, ich tappte vollständig im Dunkeln.

Wir beschlossen, Philipp in Paris vierundzwanzig Stunden Ruhe zu gönnen, was auch den Zweck hatte, des Bruders Ankunft abzuwarten, für den wir eine vorsichtig abgefaßte Botschaft in dem Gasthaus zu Dover hinterlassen hatten. Die einzige Frage war, ob Austin am Sonntag reisen werde. Ich will nicht unerwähnt lassen, daß Philipp sich in Dover eine Fahrkarte nach London genommen hatte, während ich die zwei Pariser Billete besorgt und unser sämtliches Gepäck – es war nicht eben viel – als meines nach Paris aufgegeben hatte; damit hofften wir für etwaige Nachfragen gedeckt zu sein.

In Paris angekommen suchten wir sofort ein ruhiges, etwas entlegenes Gasthaus auf, doch Philipp wurde auch hier die Angst nicht los, schreckte in jedem dunkeln Hausflur zusammen und drückte sich ängstlich in die Ecken der Droschken. All sein Ungestüm war ihm abhanden gekommen und die Vorstellung des Mords schien mit schwerem Grauen auf seiner Seele zu lasten. Soviel ich beobachten konnte, glaubte er fest, er habe die That in der von Austin geschilderten Weise begangen, und immer wieder hörte ich ihn vor sich hinmurmeln: »Die Bücher! die Bücher!« Offenbar betrachtete er die Auffindung dieser Bücher im Wandschrank seiner Tante als einen unwiderleglichen Beweis seiner Schuld, denn ihr Vorhandensein zeigte ihm am deutlichsten, daß er sich seines eigenen Thuns nicht zu erinnern vermochte und sich an jenem Sonntag abend in einer Art von Nachtwandlerzustand befunden haben mußte.

»Unsinn!« sagte ich. »Die Bücher beweisen und noch vieles andre beweist, daß der Mord in jener Nacht verübt und daß der Leichnam im Hause in Ihren Koffer gepackt worden ist, das ist aber auch alles.«

»Aber es war die ganze Nacht außer meiner Tante, mir und der Wirtin niemand im Hause. Sie glauben nicht, daß die Vermieterin sie getötet haben könnte?«

»Schwerlich.«

»Nun, und sonst war niemand da, kann niemand dagewesen sein.«

»Das muß erst bewiesen werden,« sagte ich.

Es war Sonntag morgen – ein warmer, herrlicher Morgen – und ich machte mich, sobald ich meinen Schützling verhältnismäßig sicher untergebracht hatte, auf die Suche nach meinem alten Freund, Léon Dübert. Fast eine Woche war es her, daß ich ihn zuletzt gesehen, und was hatte sich nicht alles seither ereignet!

Als ich seine Amtsstube erreichte, war es mittlerweile zehn Uhr geworden, und so fand ich ihn denn auch glücklich dort, und er war entzückt, mich wiederzusehen – die Franzosen sind ja immer entzückt, einen wiederzusehen, selbst wenn sie sich gerade vorher vorgenommen haben, dem Betreffenden für immer aus dem Wege zu gehen. In diesem Fall mag es ungefähr so bestellt gewesen sein, denn ich bin überzeugt, er hegte den Wunsch, daß ich meine Hand von der schwarzen Koffertragödie lassen möchte, und meine Einmischung erschien ihm keineswegs berufsgemäß.

»Aber mein lieber Herr Dübert,« sagte ich, »wie weit sind Sie denn? Haben Sie den Thäter?«

»Die Sache geht mich ja gar nichts an,« gab er mir etwas gereizt zurück. »Fragen Sie doch lieber meinen Vetter! Ihre Landsleute sind scharf dahinter her; scheinen sich selbst für ungemein findig zu halten, diese Herren!«

»Nationale Eifersucht,« dachte ich bei mir, um so besser für Harvey.«

Durch François Düberts Vermittlung erhielt ich die Erlaubnis, den schwarzen Koffer noch einmal zu besichtigen. Ich hatte ihm offen gesagt, ich glaube eine sehr wichtige Spur gefunden zu haben, und als der Beamte an dem Thürschloß herumtastete, hinter dem mein Koffer verborgen war, befiel mich ein förmliches Zittern. Wenn ich mich getäuscht hatte! Wenn meine sorgfältige Nachbildung der Buchstaben doch nicht ganz getreu wäre! Das Abweichen eines einzigen Strichs war doch nicht ausgeschlossen, und an solch einem einzigen Ding hing meine ganze Theorie. Sobald die Thüre aufging, stürzte ich vorwärts: da stand er, der verhängnisvolle Koffer mit seinem grauenvollen Geheimnis, schwarz und unheimlich wie nur je. Glücklicherweise hatte niemand daran gerührt, nur photographiert hatte man das häßliche Möbel. Die Aufschrift, Greenwich-Southend, sah mir gerade entgegen und ich untersuchte sie gründlich. So schwach die Bleistiftstriche auch waren, über ihre Form konnte kein Zweifel sein, denn sie waren mit einem breiten Stift tief eingegraben worden:

.

Meine Wiedergabe war ganz getreu; die Schleife war ausgefüllt.

Noch einmal drehte und wendete ich den Koffer nach allen Seiten, konnte aber wieder nichts Bemerkenswertes entdecken, nur daß ich jetzt im hellen, klaren Tageslicht eine glänzende Stelle gewahrte, von der offenbar ein nicht fest aufgeklebter weiterer Kofferzettel abgefallen oder weggerissen worden war. Ich netzte meinen Finger und fuhr darüber hin, es war immer noch etwas Klebstoff darauf. Das erklärte die Sache. In Southend war ein Kofferzettel aufgeklebt worden, der aber zwischen Southend und Paris abgefallen oder abgerissen worden war. Vermutlich abgerissen, und dies wohl schon auf der Strecke Southend-London. Für diese Voraussetzung hatte ich folgenden Grund: Der Auflader, der den Zettel London-Paris aufgeklebt hatte, war ein ausnahmsweise pünktlicher Mann, der seinen Zettel ganz reinlich und ordentlich auf den vorher vorhandenen, Greenwich-Southend lautenden gedrückt hatte. Wäre nun damals noch ein zweiter alter Kofferzettel aufgeklebt gewesen, so hätte er sicher das Blatt mit dem großen P ebenfalls auf diesem befestigt, statt eine noch reine Stelle damit zu verkleben. Das waren meine Gründe, denen freilich, wie ich mir wohl bewußt war, zu einem Beweis so ziemlich alles fehlte. Sie genügten mir aber, um anzunehmen, der Kofferzettel sei abgerissen worden, ehe das Gepäckstück London verlassen habe – in Austin Harveys Rocktasche hatte ich einen Zettel, Southend-London, gefunden; dieser war der vermißte.

Austin hatte die Reisenden nach der Bahn in Sharing-Croß begleitet und sich dort von ihnen verabschiedet. Hatte er den Kofferzettel abgerissen? Und wenn, hatte er das P. H. auf Philipps Koffer geschrieben? Weshalb hatte er das gethan?

Ich nahm eilig Austin Harveys Brief an mich aus meiner Brieftasche und trat damit ans Fenster ins hellste Licht. Die Schrift war grundverschieden von der auf dem Koffer und das eine große H, das in dem Schreiben vorkam sah eher aus wie ein gedrucktes. Die Schleifen waren überall vorhanden und keine einzige ausgefüllte darunter.

François verhalf mir zu einem Graphologen und diesem wurden die Buchstaben vorgelegt, obwohl ich wenig Zutrauen zu diesen zünftigen Schriftgelehrten habe, die sich untereinander stets zanken, und von denen jeder zäh an seiner eigenen Meinung festhält, gerade wie Aerzte.

Dieser, natürlich ein Franzose, hatte nur zwei Buchstaben als Gegenstand seiner Begutachtung, erklärte aber nichtsdestoweniger mit größter Bestimmtheit, sie rühren nicht von Philipp Harvey her. Die graphologische Verschiedenheit zwischen der ausgefüllten Schleife und dem geraden Aufstrich sei viel zu bedeutend, um irgend welchen Zweifel aufkommen zu lassen. Er erklärte auch, wenn gleich mit minderer Sicherheit, daß Austin Harvey sie nicht geschrieben haben könne, weil er ebenfalls keine ausgefüllten Schleifen mache, und dies war seiner Ansicht nach entscheidender als die Unterschiede in der Form.

Mit großem Widerstreben bezahlte ich den Mann und machte mich dann auf den Weg, um, wenn irgend möglich, eine Zusammenkunft mit Fräulein Simpkinson zu erlangen.


 << zurück weiter >>