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Viertes Kapitel. Die beiden Düberts

Ich sagte, daß ich nur sehr wenig Gelegenheit hatte, der Sache nachzuspüren, in Wirklichkeit bot sich mir dazu überhaupt nur ein Weg, und auch dieser nur, wenn der Zufall mir günstig sein wollte.

Vor einigen Monaten war ich in meiner geschäftlichen Thätigkeit mit einem Pariser Polizeikommissär in Berührung gekommen. Meine Auftraggeber teilten mir stets die Arbeit auf dem Kontinent zu, weil ich in meiner Jugend gründlich französisch gelernt hatte. Und so war ich in Sachen eines Vertrauensbruchs nach Paris geschickt worden, hatte dort mit einem französischen Polizisten, einem Herrn Dübert, zu thun gehabt und war im Verlauf der Dinge in die Lage gekommen, ihm einen unbedeutenden Dienst zu leisten. Seither hatte ich ihn nicht wiedergesehen, beschloß aber nun, ihn aufzusuchen; möglich war es ja, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, daß er mir in diesem Fall von Nutzen sein konnte.

Ich fand ihn in seinem kleinen Büreau in der Nähe des Pantheons, das zu seinem Distrikt gehörte. Er war offenbar hocherfreut, mich zu sehen, und gab diesem Gefühl einen für englischen Geschmack etwas zu wortreichen Ausdruck. Von dem Vorfall am Nordbahnhof wußte er noch nichts, und ich sagte ihm offen, daß mir viel daran liege, die Sache zu verfolgen, setzte auch hinzu, daß die französische Regierung möglicherweise aus meiner zufälligen Anwesenheit in Paris Nutzen ziehen könnte.

Und nun war mir das Glück günstig, oder vielleicht ist das etwas zu viel gesagt, denn in dem Umstand, daß Herr Dübert, obwohl er selbst gänzlich außerhalb der Sache stand, doch genau wußte, welche von seinen Kollegen beteiligt sein mußten, lag ja nichts Auffallendes. Der Zufall wollte nur, daß der Polizeikommissär, in dessen Bezirk der Fall gehörte, ein Verwandter von ihm war, ich weiß übrigens nicht, ob dieser wirklich für mich von großer Bedeutung gewesen. Ob er sein Bruder oder sein Vetter war, habe ich vergessen, ich glaube, er war ein Vetter, jedenfalls führten sie denselben Namen. Mein Herr Dübert hieß Léon, und der Kommissär des Bahnhofbezirks François.

Sofort erbot sich mein Freund, mich zu dem Vetter zu führen – angenommen, daß es ein Vetter war – nur hatte er noch eine halbe Stunde Dienst. Ich mußte also während der Zeit meine Ungeduld bezähmen, so gut es gehen wollte, und es blieb mir unbenommen, mich über die zahllosen kleinen Förmlichkeiten und die übertriebene Pünktlichkeit des französischen Polizeidienstes zu belustigen. Dabei haben sie übrigens treffliche Polizisten, besonders unter den Schutzleuten und im service de sûreté.

Die halbe Stunde ging zu Ende und Herr Dübert verschloß sein Pult. Wir nahmen eine Droschke und fuhren nach dem weit entfernten Norden der Stadt, wo wir Herrn François in einem ähnlichen kleinen Bureau antrafen.

Er wußte um die Entdeckung, und zwar genau! Den ganzen Abend hatte er von nichts andrem gehört, nichts andrem gesprochen, an nichts andres gedacht. Er war ein äußerst gesprächiger, erregbarer kleiner Mann, just nicht das Holz, aus dem man Polizeibeamte schnitzt, sollte ich denken, aber man irrt sich in solchen Dingen manchmal gründlich.

Bei diesem Anlaß mag er wohl auch aufgeregter gewesen sein als sonst, denn die Bedeutung und Schwierigkeit des zur Hälfte im Ausland spielenden Falls war groß. Selbstverständlich sprach er nur französisch – in Frankreich wie in England sind die Beamten selten einer fremden Sprache mächtig – und da die in Haft genommenen Damen Ausländerinnen waren, der in Frage stehende Koffer vom Ausland kam, war die ganze Untersuchung erschwert. Sein Dolmetscher hatte sich, wie er mir klagte, ganz unfähig erwiesen, und er war daher umsomehr geneigt, nach dem Beistand zu greifen, den ich ihm leisten konnte. Es zeigte sich aber bald, daß ich weniger vermochte, als ich gehofft hatte.

Er fing damit an, uns genau zu berichten, wie die Dinge im Augenblick standen. Die ältere Dame hatte allem Anschein nach ihr klares Bewußtsein noch nicht wieder erlangt, sie redete irr und war auf Anraten des beim Polizeiamt angestellten Arztes ins Krankenhaus gebracht worden. Nach Ansicht des Kommissärs war sie jedenfalls nicht tief in die Angelegenheit verwickelt.

Mit der jungen Dame und ihrer Jungfer hatte man ein vorläufiges Verhör angestellt. Die Dienerin wußte offenbar von der ganzen Sache nichts, das Fräulein wußte offenbar vieles.

Die Jungfer war nicht einmal im stand gewesen, die Persönlichkeit der Verstorbenen festzustellen, denn sie versicherte nachdrücklich, daß sie die Dame nie im Leben gesehen habe. Trotzdem verschaffte uns ihre Aussage über zwei Punkte Klarheit.

Erstens: Die Verstorbene hatte sich in der Zeit unmittelbar vor dem Mord nicht in Gesellschaft von Frau Simpkinson und ihrer Tochter befunden, sonst würde die Jungfer sie gekannt haben.

Zweitens: Der schwarze Koffer war wirklich Fräulein Simpkinsons Eigentum; das Mädchen hatte ihn als solches wiedererkannt.

Das Verhör der jungen Dame selbst war natürlich ungleich interessanter gewesen, und Herr François Dübert gab mir in zuvorkommendster Weise das Protokoll zu lesen. Ob das gerade vorschriftsmäßig war, lasse ich unerörtert, der Mann war nun eben einmal erfreut, auf meine Hilfe rechnen zu dürfen.

Das Verhalten des Fräulein Simpkinson war entschieden auffällig und schloß jede Möglichkeit ihrer gänzlichen Unschuld aus. Die eine Hälfte der an sie gerichteten Fragen hatte sie beantwortet, bei der andern Hälfte hatte sie die Beantwortung rundweg abgelehnt. Sie hatte willig erklärt, daß ihr und ihrer Mutter Name, wie er auf den Gepäckadressen stand, »Orr-Simpkinson« sei, und daß sie London in der Frühe dieses Tages verlassen, die vorhergehende Nacht in einem kleinen Gasthaus zugebracht hätten. Als man sie aber nach ihrem ständigen Wohnort befragte, oder von ihr wissen wollte, wo sie den Tag vor der Reise verlebt, verweigerte sie plötzlich jegliche Auskunft. Gleich darauf besann sie sich jedoch eines andern und gab ihre genaue Adresse in Tooting an und setzte hinzu, daß sie mit ihrer Mutter am Tag zuvor den Gasthof bezogen habe, um für die morgendliche Abreise näher am Bahnhof zu sein. Diese Aussage war nun von der Jungfer, die man noch einmal vorgenommen hatte, trotz heftiger Zeichen und Winke von seiten der Herrin, ganz widerlegt worden, denn diese hatte den Kommissär belehrt, daß ihre Damen die letzten drei Wochen in Southend zugebracht hätten, und daß sie von Southend aus, und nicht von Tooting nach London gefahren waren. Es stellte sich nun auch heraus, daß die Jungfer in dieser Zeit nicht bei ihnen gewesen, sondern erst am Morgen auf dem Londoner Bahnhof mit ihnen zusammengetroffen war. Sie war die ganze Zeit über in der Wohnung in Tooting zurückgeblieben, und daraus erklärte sich auch, daß die ermordete Dame ihr unbekannt war. Jedenfalls – diesen Schluß konnte man mit Sicherheit ziehen – wußte Fräulein Simpkinson, wer die Tote war, und das Mädchen wußte es nicht. »Und ach Gott, ach Gott, Fräulein,« hatte das Mädchen gerufen und war in Thränen ausgebrochen, »Sie wissen, daß alles, was ich sage, so wahr ist, wie das Evangelium; warum lassen Sie den Herrn Harvey nicht hierher kommen?«

Daraufhin hatte der Polizeikommissär strengere Saiten aufgezogen, und Fräulein Simpkinson war noch widerspenstiger geworden, hatte jedoch eingeräumt, daß der Koffer zweifellos ihr gehöre, und auch der Schlüssel, sagte sie, sei der ihrige.

In dem Koffer hatte sich ein Handtuch befunden – gehörte es ihr? »Nein.« Wußte sie oder glaubte sie zu wissen, wem es gehörte? Sie konnte nichts darüber sagen. Das Tuch war mit den Buchstaben E. R. gezeichnet, hatte sie irgend eine Vermutung, auf was für einen Namen diese sich bezogen? Sie weigerte sich, zu antworten.

Im Weißzeug der Toten hatte man denselben Namenszug gefunden und war daher zu der Annahme berechtigt, daß das Handtuch ihr gehört hatte – war Fräulein Simpkinson in der Lage, die Persönlichkeit der Toten festzustellen?

»Ja.«

Als ich dies »Ja« im Protokoll las, schreckte ich ordentlich zusammen, und doch war eigentlich keine andre Antwort zu erwarten gewesen. Meine Bestürzung wuchs, als ich die zwei nächstfolgenden Zeilen las.

»Sind Sie bereit, es zu thun?«

»Nein.«

Es war nicht gelungen, weiteres aus ihr herauszubringen, Vorstellungen und Drohungen hatten sich gleich erfolglos erwiesen. In wahrer Verzweiflung hatte der Kommissär dies erste Verhör geschlossen, und die junge Engländerin war als des Mords einer unbekannten Person verdächtig nach dem Gefängnis abgeliefert worden.

Des Polizeikommissärs persönliche Ueberzeugung stand gänzlich fest. Es ist nur ein Vorwurf, den ich gegen das Strafverfahren auf dem Kontinent erhebe, aber ein sehr ernster – es läßt dem Angeklagten nach meiner Ansicht zu wenig Hoffnung, sich rechtfertigen zu können. Einmal in Haft genommen, gilt er sofort für schuldig, und der Richter und Staatsanwälte einziges Dichten und Trachten geht dahin, durch Ueberrumpelung oder Zureden ein Geständnis zu erzielen. Urteilsfähige und unbefangene Ausländer, unter andern auch eben dieser Herr Dübert, haben mir darin vollkommen recht gegeben.

In diesem Fall jedoch war Léon Dübert ebenso stark zum Verdacht gegen Fräulein Simpkinson geneigt, wie sein Vetter. Es handelte sich in ihren Augen nur noch um die Frage nach Mitschuldigen, oder vielleicht auch darum, ob sie selbst nur eine solche sei; darüber, daß sie ernstlich in das Verbrechen verwickelt sei, war beider Ansicht nach kein Zweifel möglich. Ich gab zu, daß sie recht haben könnten; sie zählten alle einzelnen Verdachtsmomente gegen die Dame auf, und es ergab sich da allerdings eine bedeutende Liste. Erstens hatte sie Kenntnis gehabt von dem grauenvollen Inhalt des Koffers, den sie aus jetzt noch dunkeln Gründen aus England herausgeschmuggelt hatte – weshalb hatte sie sich damit auf Reisen begeben? Vermutlich, um den Leichnam an irgend einen Ort zu befördern, wo sie ihn mit weniger Gefahr einer Entdeckung begraben oder aussetzen konnte. Sie hatte dabei offenbar auf einen günstigen Zufall, die große Zahl ihrer Gepäckstücke, ihre eigene Ueberredungsgabe, den Strick, den falschen Schlüssel oder auf alle diese Dinge zusammen gerechnet und sich der Hoffnung hingegeben, unbemerkt durchzuschlüpfen, und nur ein Zusammentreffen von unglücklichen Umständen und der rauhborstige Eigensinn der Beamten hatten ihren Plan zu Schanden werden lassen. So viel war sowohl mir als den Franzosen sonnenklar.

Außerdem stand fest, daß sie den Mörder kannte und daß ihr auch der Name des Opfers kein Geheimnis war. Sie hatte alles daran gesetzt, Herrn Dübert über ihren Aufenthalt in Southend irre zu leiten, sie hatte zugegeben, daß der Koffer, in dem sich die Leiche befunden hatte, der ihrige war – dies war ja schon durch die Aussage der Jungfer erwiesen – und sie hatte über das darin befindliche Handtuch jede Auskunft verweigert.

Nebenbei bemerkt war auch die Jungfer über das Tuch befragt worden, und aus ihren Antworten ging deutlich hervor, daß es nicht aus Fräulein Simpkinsons Wäschevorrat stammte, noch stammen konnte. Mein erster Eindruck war gewesen, die Buchstaben möchten absichtlich eingestickt worden sein, um irrezuleiten; dieser Verdacht war jedoch hinfällig, sobald ich von Herrn François Dübert erfuhr, daß sämtliches Weißzeug der Ermordeten in derselben Weise gezeichnet war. Das Handtuch hatte demnach ihr gehört.


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