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Elftes Kapitel. Im Reiseartikelgeschäft

Sobald ich in London war und mit meinen Vorgesetzten Rücksprache genommen hatte, begann ich dem »Schwarzen Koffermord« zu Leib zu gehen. Die Entdeckung auf dem Nordbahnhof in Paris hatte am Montag abend stattgefunden, ich reiste Donnerstag nacht von dort ab, nachdem mit dem Nachtschiff vom Mittwoch ein Ersatzmann herübergekommen war.

Vor der Abreise hatte ich in Paris noch mit der Post folgendes Billet von Austin Harvey erhalten:

»Geehrter Herr!

»Ich war heute früh außer mir und habe mich betragen wie ein Tollhäusler. Die einzige Erklärung und Entschuldigung für mein Benehmen liegt in der entsetzlichen Lage, in die ich so unversehens versetzt worden bin – Sie werden dem Rechnung tragen und Nachsicht üben. Ich muß Sie bitten, trotz meiner Ungezogenheit, Ihre Bemühungen fortzusetzen; alles ist ja besser, als diese qualvolle Ungewißheit. Ich bleibe bis auf weiteres hier, im Hotel de la Paix.

»Ihr etc.
Austin Harvey.«

Armer Kerl! Ehrlicher und anständiger konnte man wahrhaftig nicht Abbitte thun, und es kostete mir keine Ueberwindung, ihm das bißchen Unrecht, das er mir gethan hatte, zu verzeihen, denn wenn meine Vermutungen stimmten, war seine Lage wirklich gräßlich.

Am Freitag begab ich mich zu früher Stunde, zu der noch keine Käufer anzutreffen waren, nach dem Geschäft der Herren Brown & Elder, Reiseartikel Nr. 117 Cheapside. Ich verlangte einen der Geschäftsinhaber zu sprechen und schickte meine Karte hinein. Ehe ich andre Schritte thun konnte, mußte ich mich vergewissern, daß der Philipp Harvey, den ich mir aus dem »Philipp« jenes Briefes an Austin konstruiert hatte, auch eine wirklich existierende Persönlichkeit war.

Ich wurde in ein kleines Comptoir gewiesen, wo mich Herr Elder, ein behäbiger, wohlwollender Geschäftsmann in mittleren Jahren empfing. Offenbar nährten die Reiseartikel ihren Mann, und das war mir um so lieber, denn je größer das Geschäft, desto pünktlicher die Buchführung, und desto größer also meine Aussicht auf gründliche Auskunft.

Ich hatte unterwegs noch geschwankt, ob ich mich als einen Kauflustigen vorstellen solle, dem die Firma durch Herrn Harvey empfohlen sei, oder ob ich mir geradezu die Hilfe erbitten solle, die ich in meiner Eigenschaft als Fahnder brauchte. Schließlich wählte ich den letzteren Weg, weil er der einfachste war, und daß man auf dem einfachsten Weg stets am ehesten zum Ziel gelangt, hatte ich in meinem Beruf oft erfahren.

Ich beschrieb den schwarzen Koffer, den ich in Paris gesehen hatte, so genau als möglich, und Herr Elder war sofort im Klaren über den Artikel.

»Diese Koffer sind eine Spezialität von uns,« sagte er. »Wir sind darin einem entschiedenen Bedürfnis entgegengekommen. Sie sind sehr stark, sehr einfach und ungemein preiswürdig. Zur Aufnahme von Kleidungsstücken wären sie natürlich auch zu verwenden, ihre Hauptbestimmung ist es aber nicht. Sie sind besonders geeignet, Bücher, Waffen, Fischgeräte und derlei Dinge, die sich sonst nirgends unterbringen lassen, aufzunehmen. Viele Reisende haben etwas Derartiges längst vermißt, und unsre Koffer traten mit Erfolg in die Lücke, besonders da wir im stande sind, sie so billig zu liefern. Der Absatz ist sehr bedeutend.«

»Das freut mich zu hören,« versicherte ich höflich, »obwohl die Erfüllung meiner Bitte Sie darum mehr Mühe kosten wird. Darf ich fragen, ob Sie die Koffer in verschiedenen Größen herstellen lassen?«

»Gewiß, in drei Größen. Ich werde sie Ihnen zeigen.«

Wir begaben uns in den Verkaufsraum, wo sehr in die Augen fallend drei Koffer in Reih und Glied standen, die alle drei, bis auf die Größe, haarklein dem glichen, den ich in François Düberts Büreau untersucht hatte. Ich bezeichnete sofort die Mittelgröße.

»Das ist der Koffer, um den es sich handelt, und alles, was ich zu wissen brauche, ist, ob Sie kürzlich einen solchen an ein Fräulein Orr-Simpkinson verkauften, und einen andern, vermutlich schon vor längerer Zeit, an einen Herrn Harvey?«

»Den ersten Teil Ihrer Frage kann ich Ihnen sofort aus dem Gedächtnis beantworten,« sagte Herr Elder, ohne sich zu besinnen. »Vor etwa einer Woche verkauften wir an eine Dame dieses Namens in Southend einen Koffer. Ich erinnere mich, daß sie an uns schrieb, uns auseinandersetzte, was sie brauche, und dabei bemerkte, unser Geschäft sei ihr durch einen Bekannten empfohlen. Ich kann Ihnen den Brief zeigen.«

Er trat zu einem an der Wand befestigten Briefhalter in seinem Comptoir und nach einigem Suchen und etlichen: »Hier, nein, doch nicht,« brachte er ein Blättchen Billetpapier hervor, das er triumphierend vor mich auf den Tisch legte.

Das kurze von Southend datierte Briefchen Fräulein Simpkinsons enthielt nur eine Bestellung auf einen der einfachen schwarzen Koffer der Herren Brown & Elder, Größe Nr. 2, Preis dreißig Schilling, die ihr von einem Herrn, der kürzlich einen solchen gekauft hatte, empfohlen waren. Der Brief war noch keine zehn Tage alt. Wie sich aus der Nachschrift ergab, hatte sie einen Check über den Betrag beigelegt, und wie aus einer zweiten, meiner Ansicht nach recht überflüssigen Nachschrift hervorging, bedurfte die junge Dame des Koffers, um einen photographischen Apparat hineinzupacken.

»Damit ist die eine Hälfte bewiesen, leider aber nur die minder wichtige,« sagte ich. »Um wieder auf Herrn Harvey zu kommen – könnten Sie mir auch über einen von ihm gekauften Koffer Auskunft geben?«

»Harvey, Harvey?« sagte der Fabrikant, indem er sich mit der umfangreichen Hand über die glänzende Stirne fuhr. »Das muß schon eine gute Weile her sein, ich kann mich auf den Namen nicht besinnen.«

Er griff nach dem dickleibigen Hauptbuch, das vor ihm lag, und begann nachzusehen. Hurtig überlief sein Finger die langen Reihen der Namen, und ich sah ihm mit wahrer Angst im Herzen zu. Fräulein Simpkinsons Einkauf hatte ja herzlich wenig zu bedeuten und über den Punkt hatte ich schon zuvor alles gewußt, aber die Existenz, vielleicht sogar die Wohnung des andern Kofferinhabers zu ermitteln, das war etwas andres.

Herr Elder zog die Augenbrauen verdrießlich zusammen.

»Da ist der Name nicht,« sagte er. »Der Eintrag muß schon im vorigen Jahr gemacht worden sein.«

Er holte einen andern schwerfälligen Folianten herbei und begann ihn in derselben Weise zu durchblättern. Mit einem Mal hellte sich sein Gesicht auf.

»Da kommt ein Herr Harvey,« sagte er.

Mir pochte das Herz; er schob mir das Buch hin und zeigte mir die Stelle. Vor fünfzehn Monaten war ein schwarzer Koffer Größe Nr. 1 an Herrn John Harvey, Schiffsarzt, verkauft und ihm an Bord nach Southampton geschickt worden.

»Das ist nicht der, den ich meine,« sagte ich, machte mir aber doch eine Notiz darüber, wenn ich auch den Schiffsarzt im stillen sogleich verwarf. »Ueberdies war der Koffer in Paris Größe Nr. 2.«

Herr Elder überflog aufs zuvorkommendste noch ein weiteres halbes Jahr, klappte dann aber den Band zu.

»Weiter zurückzugehen, wäre wertlos,« erklärte er mir, »denn wir brachten um diese Zeit den Artikel erstmals auf den Markt; er ist nicht mehr als anderthalb Jahre im Handel.«

Ich dankte ihm mit halbem Herzen und überlegte bei mir, ob er den Eintrag am Ende nicht übersehen habe. Wahrscheinlich war es allerdings nicht.

»Können Sie die einzelnen Koffer unterscheiden?« fragte ich. »Sind die Schlüssel verschieden?«

»O gewiß,« versetzte er, »jeder hat einen andern Schlüssel. Aus unsrer Werkstatt dürfen niemals zwei gleiche Schlüssel geliefert werden; die Hauptsache an diesen schwarzen Koffern ist eigentlich auch, daß wir sie trotz des niedern Preises mit ausgezeichneter Schlosserarbeit ausstatten. Die Schlüssel sind samt und sonders numeriert; ich brauche nur im Dunkeln die Hand nach der Nummer auszustrecken, falls ein Kunde einen Ersatzschlüssel fordert.«

»Sie numerieren die Schlüssel?« fragte ich, »oder das Schloß?«

»Den Schlüssel, nur diesen. Es ist sicherer als beim Schloß.«

Das erklärte, daß ich keine Nummer bemerkt hatte, denn daß ich eine solche übersehen hätte, war kaum denkbar. Doch hatte das alles miteinander jetzt blutwenig zu bedeuten.

Meinen Besuch noch länger auszudehnen, hatte ich keinen Grund; so dankte ich Herrn Elder für seine Gefälligkeit und empfahl mich. Was meinen Philipp Harvey betraf, so schien er mehr und mehr zur mythischen Gestalt zu werden, und doch wollte mir die Aehnlichkeit des P. H. auf dem Koffer und im Brief nicht aus dem Sinn, es war ein zu merkwürdiges Zusammentreffen. Die einzige wirkliche Ausbeute meiner Nachforschung im Reiseartikelgeschäft war Fräulein Simpkinsons Adresse in Southend.


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