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Zweiundzwanzigstes Kapitel. Fräulein Simpkinsons Ansicht

Die Polizei hatte kein Recht gehabt, Fräulein Simpkinson in engem Gewahrsam zu behalten: von keiner Seite hatte sich eine neue Anklage gegen sie erhoben, und die Ankunft ihres eigenen Koffers, den Philipp von Dover nachgeschickt hatte, bewies die Richtigkeit der Erklärung, welche ihre Jungfer von Anfang an vorgeschlagen hatte, zur Genüge. Die Londoner Fahnder hatten sich natürlich sofort bemüht, die Person ausfindig zu machen, die den Koffer in Dover aufgegeben hatte, und das wäre ja die leichteste Sache von der Welt gewesen, wenn sie nicht von vornherein durch das Bahnpersonal in Dover auf eine falsche Fährte gebracht worden wären. Frau Simpkinson war vier Tage in eine derartige Nervenerschöpfung verfallen gewesen, daß die Aerzte aufs Bestimmteste erklärt hatten, sie dürfe nicht weiter vernommen werden.

Ich konnte mich eines boshaften Lächelns nicht enthalten, als ich vernahm, die Behörde verfolge einen kahlköpfigen alten Herrn in einer weißen Weste, der Sonnabend in New York anlangen sollte. Dieser Irrtum fiel nur dem Bahnpersonal in Dover zur Last und ich ersah daraus, von welch ungeheurem Vorteil es war, daß Philipp Harveys Namen im Buch des Kofferfabrikanten nicht eingetragen war. Immerhin konnte es sich nur um einen Aufschub von ein paar Tagen handeln, und wären die Herrn von der Polizei sehr klug gewesen, so würden sie schon eine halbe Woche früher herausgebracht haben, daß in der Nacht, da der Mord geschehen, nur Philipp Harvey in demselben Haus mit seiner Tante geschlafen hatte. Nachher stellte es sich heraus, daß sie es erfahren hatten – nur zu spät. Am Tag nachdem wir das »Sarazenenhaupt« verlassen hatten, tauchten sie dort auf und wandten sich von dort eilig rückwärts nach Philipps Wohnung in Greenwich, denn Frau Simpkinson, die am Sonnabend erstmals vernommen worden war, hatte sofort Philipp Harvey als den mutmaßlichen Mörder bezeichnet.

Eines erfuhr ich in Paris, was mich außerordentlich in Erstaunen setzte, und das war, daß Austin Harvey, der sich mir gegenüber so offen und ehrlich gezeigt hatte, in seinem Verkehr mit den Behörden allerlei Winkelzüge gebraucht und sich das wenige, was sie aus ihm herausgebracht hatten, nur mit großer Mühe hatte auspressen lassen. Wie François mir sagte, nahmen sie an, daß Austin wirklich wenig von der Sache wisse.

»Er steht dem ganzen Vorgang völlig fern,« äußerte der Polizeikommissär gegen mich.

Aus dem, was ich hörte, mußte ich zu dem Schluß gelangen, Austin Harvey habe die Fahnder der staatlichen Polizei in demselben Maß im Dunkeln tappen lassen, wie er mich nach Kräften aufgeklärt hatte. Welchen Grund er nur für diese seltsame Handlungsweise haben mochte?

Die Pariser Polizei hatte genehmigt, daß Fräulein Simpkinson die »Pension«, in der ich sie zuerst aufgesucht, verlasse und sich mit ihrer Mutter in einem ruhigen kleinen Gasthaus zwischen der Madeleine und dem Park Monceau einmiete, wohin diese am Freitag abend hatte gebracht werden können. Die englische Botschaft hatte sich für die gute Aufführung der beiden Damen verbürgt, und sie hatten sich verpflichtet, Paris nicht zu verlassen. In diesem Gasthof war es, wo ich Fräulein Simpkinson wiedersah. Es hatte gar keine Schwierigkeit gehabt, von ihr vorgelassen zu werden, aber der erste Blick in ihr Gesicht versetzte mich in die größte Bestürzung. Offenbar mußte sie im Verlauf dieser einen Woche namenlos gelitten haben, und das war, bei Licht besehen, kein Wunder. Ob sie wirklich ein wärmeres Gefühl für Philipp gehabt, oder ob sie nur mit ihm gespielt hatte, ehe sie sich für seinen Bruder entschieden, ihre Lage war auf alle Fälle entsetzlich. Sie war Austins Braut – die Braut eines Mannes, in dessen Familie sich ein Mord abgespielt hatte. Hatte sie Philipp je geliebt? Offenbar glaubte er es. Und wenn dem so war, weshalb hatte sie Austins Werbung angenommen. Sie war das Mädchen nicht, um sich in solchem Grad von irgend jemand, und wäre es auch die eigne Mutter, beeinflussen zu lassen, auf der andern Seite aber mochte sie wohl zu jenen Frauen gehören, die in einer Anwandlung von verletztem Stolz so ziemlich zu allem fähig sind. Ich rechnete sehr auf diese Unterredung, um über verschiedene schwierige Punkte zur Erleuchtung zu gelangen.

In ihren dunkeln Augen lag eine namenlose Angst, aber sie bat mich mit würdevoller Zurückhaltung, Platz zu nehmen. Armes Mädchen! Wie mußte sie meinen etwaigen Mitteilungen mit Zagen und Zittern entgegensehen, und doch war sie zu stolz, eine Frage an mich zu richten – dieser Art Frauen ist alles zuzutrauen.

»Ich bin mit Philipp Harvey hierher gekommen, gnädiges Fräulein,« sagte ich, indem ich mich setzte.

»Wirklich?« erwiderte sie und strich die Falten ihres Rockes glatt. »Was führt denn Herrn Harvey nach Paris?«

»Er ist hier auf der Flucht aus England.«

»Weshalb flieht er und wohin?«

»Gestatten Sie mir, Ihre zweite Frage zuerst zu beantworten. Er hofft, morgen früh ungehindert Marseille und von dort aus einen der südamerikanischen Staaten zu erreichen. In diesem Fall –«

»Thut er das wirklich?« rief Fräulein Simpkinson, aus ihrer Gemessenheit herausgehend.

»Ich hoffe und erwarte es.«

»Gott sei Dank!« sagte sie mit Wärme, um sogleich wieder die Zurückhaltung selbst zu sein.

»Doch muß ich Ihnen sagen, daß sich nichts mit Sicherheit voraussehen läßt. Ehrlich gestanden, mein verehrtes Fräulein, sollte die Polizei seiner schon seit mehreren Tagen habhaft geworden sein – das ist nicht geschehen, und nun läßt sich gar nichts Bestimmtes sagen.«

»Hoffen wir, daß seine Flucht gelingen wird.«

Ich sah, daß wir mit dem auf den Busch klopfen nicht vom Fleck kamen, und überdies ist solch vorsichtiges Tasten gar nicht mein Geschmack. Ich glaube meinen Erfolg in zwei oder drei Fällen, die ich erledigte, nur dem zu danken, daß ich kerzengerade aufs Ziel losging.

»Zu Ihrem frommen Wunsch sage ich Ja und Amen!« bemerkte ich kühl. »Entweder Paraguay oder der Galgen.«

Sie wurde sehr blaß, sagte aber nichts.

»Und das ist um so grauenhafter,« fuhr ich fort, »als ich mir einbilde, er sei unschuldig.«

Das überwältigte sie; aus ihren Augen blickten Furcht und Hoffnung, als sie lebhaft aufsprang und laut rief: »Unschuldig! Wie so? Was meinen Sie damit? Ich gäbe all meine Habe darum, ihn unschuldig zu wissen!«

»Sie halten ihn demnach für schuldig?« fragte ich, eine Antwort umgehend.

»Wie kann ich anders?« entfuhr es ihr. »Was mein Herz auch sagen mag, meine Vernunft beweist mir das Gegenteil. Sprechen nicht alle Thatsachen gegen ihn? Ist seine Schuld nicht so gut als erwiesen? Wer soll den Mord begangen haben, wenn nicht er? Könnte irgend ein Gericht ihn freisprechen?«

»Ich fürchte – nein,« sagte ich – Fräulein Simpkinson erbebte – »und doch glaube ich an seine Unschuld.«

»Und Ihre Gründe?« versetzte sie brennend vor Verlangen, diese Gründe zu hören. »Auf wen geht Ihr Verdacht?«

»Lassen Sie mich zuerst eine Frage an Sie stellen. – Sagen Sie mir bei Ihrer Ehre und Seligkeit, bei allem, was Ihnen heilig ist, haben Sie Verdacht auf irgend jemand?«

»Nein,« sagte sie erstaunt, »es wäre denn auf Philipp. Mein Herz lehnt sich gegen die Möglichkeit auf, aber mein Verstand sagt mir, daß er der Thäter sein muß.«

Wir waren uns mittlerweile schon bedeutend näher gekommen, und ich glaubte fest an ihren guten Willen; leider mußte ich mir indes sagen, daß sie mir keinen wesentlichen Beistand leisten konnte.

»Entschuldigen Sie, wenn ich Ihr Zartgefühl verletze, aber es wäre für mich von ungeheurem Wert, wenn Sie mir kurz andeuten wollten, was die Veranlassung zu Ihrem Bruch mit Philipp und Ihrer darauf folgenden Verlobung mit Austin Harvey gegeben hat.«

Sie war wie mit Blut übergossen.

»Ich bin nie mit Philipp Harvey verlobt gewesen.«

Sie war nicht gewillt, ihre Gemütsbewegung zu zeigen, und beschattete ihre Augen mit der Hand, aber so viel Willenskraft sie auch besaß, das Zittern dieser Hand konnte sie nicht verhindern. So wenig sie sich auch in Worten abgewinnen ließ, was ich erfahren wollte, hatte sie mir doch verraten. Sie liebte Philipp Harvey, und sein Bruder war ihr gleichgültig – wie unbegreiflich Frauenherzen doch sind! Wenn ich diesen Umstand zusammenhielt mit dem, was Philipp hatte durchblicken lassen, so glaubte ich allmählich zu verstehen. Offenbar war Fräulein Simpkinson durch eine Untreue dieses Windbeutels von einem Liebhaber in ihren innigsten und tiefsten Empfindungen verletzt worden und hatte sich dafür gerächt, indem sie die Werbung seines Bruders annahm. Der Mutter Wunsch und Drängen mag diesen Entschluß beschleunigt haben, hervorgerufen hatte er ihn nicht. Bei der eigenwilligen, leidenschaftlichen Natur des jungen Mädchens konnte ich wohl begreifen, daß beleidigter Stolz sie in neues Unheil gestürzt hatte. Ich glaubte nicht, daß es ihre Absicht war, Austin wirklich zu heiraten, und noch weniger, daß sein bescheidenes Vermögen sie lockte, und ich konnte nicht umhin, die Frage aufzuwerfen, wie weit er selbst bestimmend auf ihr Verhalten eingewirkt habe.

»Ich halte Philipp für unschuldig,« sagte ich im Weggehen, »aber ich weiß vorderhand noch nicht, wen ich der That bezichtigen könnte. Mein Verdacht ist noch ganz unbestimmt.«

Plötzlich zog ich die Abschrift der Buchstaben P H aus der Tasche und fragte sie: »Ist das Philipps oder Austins Handschrift?«

»Wie soll ich das aus zwei Buchstaben erkennen?« erwiderte Fräulein Simpkinson, ohne sich zu besinnen. »Das ist ja eine unvernünftige Zumutung. Da kann höchstens von einem Eindruck die Rede sein, und der ist, daß die Form der Buchstaben auf Philipp, die Art des Schreibens aber auf Austin deutet.«


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