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Zwölftes Kapitel. Die zerknüllte Visitenkarte

Am selben Tage noch fuhr ich nach Southend und hatte unterwegs Muße, über den Stand der Dinge nachzudenken. Meine ganze Auffassung des Falls beruhte auf der Mutmaßung, daß der schwarze Koffer mit dem Leichnam einem Herrn Philipp Harvey gehöre, aber ich hatte für das Vorhandensein einer solchen Persönlichkeit keine weiteren Anhaltspunkte als jene zwei auf den Koffer gekritzelten Buchstaben und den Brief eines »Philipp« an Austin, und ich mußte selbst zugeben, daß dies keine sehr schlagenden Beweise waren.

In Southend angekommen, begab ich mich sogleich nach der Strandpromenade Nr. 23, Fräulein Simpkinsons früherer Wohnung. Es war ein gewöhnliches Logierhaus, wie man sie in jedem englischen Seebad zu Dutzenden findet; über der Hausthüre war ein Schild mit »Möblierte Wohnungen«, da ich aber an keinem Fenster den üblichen Zettel mit »Zu vermieten« erspähen konnte, mußte die Wirtin ihr Haus wohl besetzt haben.

Trotzdem zog ich kühn die Klingel, und besagte Dame erschien auch sofort, blickte prüfend übers Treppengeländer herab und suchte dann die Aufmerksamkeit einer gewissen Sally, die in den untern Regionen hantieren mußte, durch helllaute Rufe zu erwecken.

Sally, die vermutlich »Mädchen für alles« war, verschmähte es jedoch, ihrer Herrin zu Hilfe zu kommen, und so entschloß sich die Dame zuletzt, die Stufen herunterzusteigen und selbst zu öffnen, wobei sie sich einer möglichst würdevollen Haltung befleißigte.

»Und womit kann ich dienen?« fragte sie – nebenbei bemerkt hieß sie, wie ich bald erfuhr, Frau Bunbury, und wenn sie noch am Leben ist, möchte ich hiermit ihre Zimmer aufs wärmste empfohlen haben.

»Ich suche eine Wohnung und wollte anfragen« –

»Mein Haus ist vollständig besetzt,« war der kurze Bescheid.

Ich habe schon häufig bei mir erwogen, ob es in einer Tiergattung unter ein und derselben Art solche Verschiedenheit gibt, wie sie in der Species Mensch zwischen Gasthofbesitzern, die Zimmer leer stehen haben, und solchen, deren Haus voll ist, vorkommen.

»Das thut mir leid,« bemerkte ich kühl, »ich hatte Gutes von Ihren Zimmern gehört. Soviel ich weiß, hat eine Frau Orr-Simpkinson in letzter Zeit drei Wochen bei Ihnen gewohnt.«

»Jawohl, mein Herr,« versetzte Frau Bunbury – zur Sorte der redseligen Wirtinnen gehörte die Dame offenbar nicht.

»Angenehme Mieter, nicht?«

»Nun, wie man's nimmt,« erwiderte sie, die Lippen aufwerfend. »Ich will nicht sagen angenehm und will auch nicht das Gegenteil behaupten; habe bessere gehabt und schlimmere auch. Die junge Dame, die ist gut; sie macht einem nicht viel Mühe, wenn sie auch ihre Eigenheiten hat, aber die alte, die ist, was man bei den reichen Leuten nervös, bei den armen krittlig heißt.«

Das war für Frau Bunburys Gewohnheiten eine lange Rede, und nachdem sie damit fertig war, schloß sie den Mund mit einem hörbaren Ruck.

»Und Sie haben also die Zimmer dieser Damen schon wieder vermietet,« bemerkte ich einschmeichelnd. »Ich bedaure das – um meinetwillen natürlich,« das war vollkommen wahr, denn ich hatte mir vorgenommen, die Zimmer zu besehen, und hatte überdies darauf gerechnet, eine klatschsüchtige Vermieterin zu finden, die darauf brennen würde, ihr Wissen an den Mann zu bringen. Dieses Mal hatte ich entschieden kein Glück.

»Ja, sie sind vermietet,« sagte Frau Bunbury.

»Und werden in nächster Zeit nicht frei?«

»Für vierzehn Tage sind sie gemietet; die Herrschaft kommt von London. Lang ist's nicht, vierzehn Tage, aber meine Zimmer stehen selten leer.«

»Nur für vierzehn Tage!« rief ich rasch. »Und später könnte ich sie haben? Das würde mir unter Umständen gerade passen – freilich, gesehen hätte ich sie gerne.«

»O, sehen können Sie die Zimmer wohl,« versicherte Frau Bunbury um eine ganze Oktave mürber. »Die Herrschaft kommt erst morgen, und Frau Simpkinson ist letzten Montag abgereist. Gewiß können Sie die Zimmer sehen.«

Damit trat sie beiseite und forderte mich mit einem krampfhaften Verzerren ihrer Gesichtsmuskeln, das wohl Freundlichkeit bedeuten sollte, zum Eintreten auf.

»Nein wahrhaftig, ich will Sie nicht bemühen,« sagte ich mit Wärme. »Wenn Sie vielleicht erlauben, daß Ihr Dienstmädchen mich hinaufführt ...« ich hoffte nämlich das Mädchen mitteilsamer zu finden als die Herrin.

»Ich zeige meine Wohnungen lieber selbst,« erklärte Frau Bunbury.

Aber ich machte noch einen Versuch und fand den alten Satz bestätigt, daß man jedermann seinem Willen unterthan machen kann, wenn man ihn an der Eitelkeit faßt.

»Nein, nein, beste Frau!« rief ich. »Das kann ich nicht zugeben. Wenn Sie sich ein Mädchen halten, so lassen Sie dieses mit mir gehen – mehr verlange ich nicht.«

»Wenn Sie ein Mädchen halten – na wahrhaftig!«

Von dem Augenblick an war es Frau Bunburys ganzes Streben, mir zu zeigen, daß sie ein Mädchen und was für eines sie hatte, sie zog die Klingel, und als sich dies als fruchtlos erwies, rief sie abermals: »Sally!«

Und Sally erschien denn auch endlich mit rotem Kopf, aber sehr sauber gekämmtem Haar. Frau Bunbury verstand sich offenbar darauf, ihr Hauswesen zu führen. Sally ging nun mir voran die Treppe hinauf, indes sich Frau Bunbury majestätisch in ihre Privatgemächer zurückzog.

Die Zimmer waren, wie eben möblierte Zimmer zu sein pflegen, und es war auch nichts darin, was geeignet gewesen wäre, irgend welches Interesse zu erregen. Die sauber gehaltenen Möbel standen genau auf dem Fleck, wo sie stehen mußten, und sahen so langweilig und unpersönlich aus, als möglich. Auf dem Tisch war nichts als eine kleine Glocke, die man ganz genau in die Mitte gesetzt hatte; den Kaminsims zierten eine vergoldete Standuhr, ein Paar sehr bunter Vasen und zwei schlanke Leuchter, sämtliche Stücke wie die Soldaten in Reih und Glied stehend. Alles war reinlich, ordentlich und sauber; Ueberflüssiges nicht vorhanden.

Ich hatte ja eigentlich gar nicht erwartet, hier etwas Besonderes zu finden, da man aber als Fahnder allezeit auf dem Anstand liegt, brachte mich die Alltäglichkeit des Raumes doch in gelinde Verzweiflung, bis mein Blick ganz zufällig auf die Feuerstelle fiel. Es war ein Kamin wie alle andern und sah zu dieser Zeit des Jahres ungemein frostig aus, obwohl Holz und Kohlen niedlich darein geschichtet waren. Die Kohlen, die schon eine gute Weile so dagelegen haben mochten, waren staubig und ein paar Papierschnitzel waren achtlos darauf hingeworfen worden.

Diese Papierschnitzel waren jedenfalls des Auflesens wert; möglich, daß sie nichts enthielten, möglich, daß sie zu verwerten waren, wer konnte das wissen?

Die Frage war, wie das angreifen, solange das Mädchen, das offenbar strengen Befehl hatte, mietlustige Fremde nicht aus den Augen zu lassen, mich unverwandt anstarrte. Ich zog einen Schilling aus der Westentasche und hielt ihn dem Mädchen hin. »Hier eine Kleinigkeit für Ihre Mühe, mein Kind.«

Während sie die rote Hand danach ausstreckte, ließ ich das Geldstück fallen, stolperte vor und versetzte ihm einen Stoß, daß es unter eine Kommode rollte. Das Kunststück war zwar herzlich plump ausgeführt, aber es erfüllte seinen Zweck, denn das Mädchen sah der Münze mit verlangenden Blicken nach.

»Wir müssen ihn vorschaffen,« sagte ich, »die Feuerzange ist zu dick – holen Sie doch meinen Regenschirm; er steht unten auf dem Vorplatz.«

Sally schwebte ab, und im selben Augenblick hatte ich sämtliche Papierfetzen zusammengerafft. Zwei oder drei davon waren, wie ich auf den ersten Blick sah, Ueberbleibsel zerrissener Geschäftsempfehlungen, einer aber war eine zusammengelegte Visitenkarte, auf deren Rückseite etwas hingekritzelt war. Ich faltete sie auseinander und las: » Philipp Harvey«, und auf der Rückseite stand in flüchtig hingeworfener Schrift: » Also, um halb drei Uhr! Hurra, wie fidel!«

Ich sah sofort, daß das H von Hurra auf und nieder dem großen H in dem mit Philipp unterzeichneten Brief glich und folglich, wie ich mir damals dachte, auch dem H auf dem Koffer. Letzteres erwies sich später als ein Irrtum, jedenfalls aber als ein verzeihlicher.

Da jetzt die Magd mit meinem Regenschirm zurückkam, steckte ich die Papierschnitzel hastig in die Tasche.

Der Philipp Harvey war also doch eine wirklich vorhandene Persönlichkeit.

Während wir gemeinsam nach dem Schilling herumstöberten, stellte ich an das Mädchen ein paar Fragen über die vorherigen Mieter und fand, daß es ihr keineswegs am guten Willen fehlte, aus der Schule zu schwatzen, wohl aber an Stoff.

»Jawohl, die beiden Damen waren drei Wochen da, und freundlich waren sie, nur die alte, die wurde wütend, wenn sie zweimal klingeln mußte, ganz rabiat konnte sie sein, gerade als ob so ein armer Dienstbote vier Beine haben müßte, statt wie andre Leute zwei. Nein, es kamen nicht viele Leute zu den Damen, denn sie kannten schier niemand in Southend, nur einmal kam eine alte Frau, die sah furchtbar grimmig aus, mit weißem Haar und einem bitterbösen alten Gesicht« – ach, ach, meine gute Sally, wer wird von den Toten Uebles reden! – »und dann die zwei Herren, die alleweil kamen.«

»Was für zwei Herren?«

»Nun, der Pfarrer und der andre – sein Bruder. Ein feiner Herr, der Herr Pfarrer; sie kamen oft ein halb dutzendmal im Tag. Und das Fräulein« – Sallys Blick erzählte Bände – »das Fräulein und der Herr Pastor waren verlobt,« sagte sie bedeutungsvoll.

Vielleicht hätte ich noch mehr erfahren können, hätte man Frau Bunbury nicht in der Halle herumwirtschaften hören.

»Das ist die Frau,« sagte Sally, die nun glücklich im Besitz des verlorenen Geldstücks war. »Meinen Sie nicht, wir sollten jetzt hinuntergehen?«

Damit lief sie davon, und ich mußte ihr wohl oder übel nachfolgen. Auf der Treppe gelang es mir noch, ihr eine flüchtige Beschreibung der beiden Herren, die so oft gekommen waren, zu entlocken, nach der ich den einen sofort als Austin Harvey erkannte.

»Der andre sah ihm ähnlich, nur daß er dürr war und hohläugig – unter uns gesagt, ich glaube der Herr hat ein bißchen wild gelebt. Herr Philipp hieß der, war aber auch gar nicht übel – o nein.«

»Die Zimmer lassen nichts zu wünschen übrig,« sagte ich zu der Frau des Hauses, die mich mit einiger Ungeduld im Erdgeschoß erwartete, »und entsprechen meinem Zweck vollkommen.«

Ich erkundigte mich nun nach den Preisen und fand diese auch ganz annehmbar, worauf nun Frau Bunbury den Wunsch äußerte, ihres künftigen Mieters Namen kennen zu lernen.

»Spence,« sagte ich, »Spence von London.«

Mit falschen Namen gebe ich mich grundsätzlich nicht ab, man gerät dadurch unfehlbar in Widerwärtigkeiten. Ich habe mir vor dreißig Jahren, um eines hochverehrten Vaters Gefühle zu schonen, ein für allemal einen solchen beigelegt, an dem ich aber seither so zäh festhielt, daß er mir wirklich zum Eigentum geworden ist.


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